Arigato. Ursula Wiegele

Arigato - Ursula Wiegele


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im Schlaf. Nur meine Aussprache muss besser werden. Der Geografielehrer hat einmal gesagt, die englische Aussprache liege den Italienern schief im Mund, wie ein falsches Gebiss, das nicht richtig angepasst ist.

      Auf dem Weg zur Schule steht ein blaugrün angestrichenes Haus. Ein Puff ist das, hat der Onkel gesagt, und dass es davon immer mehr gebe in Villach, weil so viele Italiener hierher kommen. Ich frage die Tante und lerne neue Wörter: Freudenhaus. Freudenmädchen.

      Für Geld amüsieren sich die Männer im Puff. Bezahlen die Mädchen für Liebe. In Italien gibt es keine Freudenhäuser, sagt die Tante, die sind verboten. Weil der Papst in Italien wohnt.

      Wieder einmal stehe ich vor dem Stammbaum im Vorraum, ich bin da nicht drauf und Mama ist immer noch ledig. Ich gehe in die Küche und hole aus der Kredenz ein Etikett für Rexgläser. Mit der Schere zerschneide ich es in zwei gleich große Streifen und schreibe unsere Namen drauf. Ich lecke über die Rückseite und klebe Papa und mich auf den Stammbaum. Bitter und süß ist der Geschmack auf meiner Zunge.

      Am Abend ruft mich der Onkel zu sich in die Küche. Vor ihm auf dem Tisch steht eine große Schale mit Milch, zweimal in der Woche wird Brot eingebrockt, vertrocknete Reste und Scherzl. Ich soll unterschreiben. Eine Karte ans Funkhaus in Klagenfurt, für Omas Geburtstag. Am Sonntag ist Wunschkonzert, sie sollen Grüße und Wünsche durchgeben wie jedes Jahr, auch wenn der Sender von Österreich-Regional aus Kärnten in Pontafel immer ein wenig rauscht.

      Ich gehe gleich wieder ins Zimmer zurück, aber der Onkel ruft mir was nach: Der Stammbaum draußen ist schon sehr alt, da warst du noch in der Sterzschüssel und deine Mutter ein lediges Dirndl.

      Vorbereitungen für einen besonderen Dia-Abend: Onkel Hans will den Doktor Erath überraschen mit einem neuen Programm, er wird Bilder zeigen von allen Hütten und Biwakschachteln, in denen die beiden Nächte verbracht haben auf ihren Touren. Zwei lange Magazine sind voll, tagelang hat der Onkel seine große Sammlung durchsucht. Die Tante hängt die Leinwand auf, ich richte die Sessel her, vier nebeneinander an der vorgesehenen Stelle, Stuhlbein an Stuhlbein, millimetergenau, so will es der Onkel, Vorhänge zu, Licht aus, der Tierarzt bekommt ein Glas Wein.

      Ich sehe in jeder Biwakschachtel die Notbehausung meiner Eltern in Venzone, darin möchte ich nicht noch einmal schlafen. Sardinenbüchse habe ich gesagt zu der Blechhütte, und sofort hat Mama zu weinen begonnen, hernach war ich vorsichtig, habe kaum mehr geredet. In der Nacht dann der Traum, ich stecke in einer zweiten Haut, die fast meinen ganzen Körper bedeckt, trage einen Pullover mit langen Ärmeln und eine Hose bis ganz hinunter, damit niemand die Reißverschlüsse sehen kann innen an meinen Gliedmaßen, sie enden an den Handgelenken und an den Knöcheln der Füße. Alle glauben, sie hätten es mit mir zu tun, aber es ist eine Täuschung. Unter der falschen Haut stauen sich die schlechten Wörter. Unter der falschen Haut staut sich auch mein schlechtes Gewissen.

      Die Fensterscheiben sind vereist. Mit dem Finger fahre ich über die Eisblumen. Ich drücke den Daumen gegen die dünne Schicht. Ein Stück löst sich ab. Zwischen den Fensterflügeln ein Polster. Ich denke an das Eislecken bei Oma. Eiszapfenreihen, kleine ließ ich auf der Zunge zerschmelzen. Oma durfte nicht wissen, dass ich Wintereis lecke, weil man davon Halsweh bekommt. Wie vom Schneeessen.

      Manchmal lag eine feine Kruste über dem Schnee, Krachen bei jedem Schritt. Gefrorene Lacken unten im Bachbett. Mit der Fußspitze auf die Eisschicht, aber ohne Gewicht. Das Durchsichtige färbt sich milchig.

      An schattigen Stellen im Hof lagen große Häufen aus zusammengesacktem Schnee. Im Frühjahr leckte die Sonne den Schnee weg, aber in den Schatten langte ihre Zunge nicht. Eine Sonne mit Halsweh? Mit einer spitzen Schaufel wurde den Schneehäufen zu Leibe gerückt, kleine Stücke dann auf sonnigen Plätzen verteilt.

      Mein Lieblingsgeräusch: Wenn es auf den Dächern zu tauen beginnt, das Wasser in die Regenrinne fließt. Plätscherndes Schmelzwasser, oft mitten im Winter.

      Die Eisschuhe über den Schultern gehen wir vom Bahnhof Steindorf hinunter zum Ossiacher See. Unter dem rot-weißen Absperrungsband krieche ich durch, der Onkel steigt drüber. Schuh-Wechsel, Schnüren, doppelte Masche. Gleich frieren die Finger, schnell wieder die Fäustlinge drüber. Auf den Spitzen betrete ich die glänzende Eisfläche, der ganze See ein Spiegel der Sonne. Vorne gleitet der Onkel weg, ich stoße mich mit den Zacken ab, um ihm zu folgen, die richtige, die eingeübte Technik vergessen. Mitten auf dem See plötzlich ein Dröhnen, ein Krachen und Knacken, ich erschrecke, eine Zickzack-Linie kommt auf mich zu, läuft unter meinen Füßen durch, ich schreie. Der Onkel bremst, keine Angst, ruft er mir zu, wenn das Eis kracht, dann hält es. Die Angst nicht kleiner, ein Brennen auf der Haut, Feuer, dem ich entkommen muss, umdrehen, das Ufer weit weg, aber Rettung ist dort, von Neuem ein Krachen, Eisglanz oben und unten, mein Körper, der sich bewegt, getrieben von einer Maschine im Brustkorb, kein Schreien mehr, nur noch Angst, die alles erstickt. Ein harter Aufprall der Beine am Steg, bäuchlings falle ich auf die Bretter, robbe mich weiter nach vorne. So bleibe ich liegen.

      Was ist los, höre ich den Onkel, aber ich antworte nicht.

      Ich wollte doch nach Ossiach hinüber, sagt der Onkel, so eine Gelegenheit, der ganze See gehört uns.

      Nur vereinzelt sind Läufer zu sehen.

      Ich warte da, sage ich.

      Die nächsten zwei Stunden bleibe ich auf den ersten Metern Eis am Ufer, ich übe das wellenförmige Rückwärtsfahren, versuche Drehungen und kleine Sprünge, abgeschaut von den Eiskunstläuferinnen im Fernsehen, das Dröhnen fast ein wohliger Klang, es betrifft mich nicht mehr, meine Kufen zeichnen Spuren, Bögen, Dreier, Achter, die Sonne blendet und wärmt.

      Irgendwann eine Figur weit draußen, sie kommt näher, schwarzer Anorak, rote Mütze, der Onkel. Jausenzeit. Brote und Orangenspalten aus der Tupperware-Dose. Tee aus der Thermoskanne mit nur einem Becher, ich bin nicht durstig. Bei der Rückfahrt nach Villach eisiges Schweigen.

      Waghalsig nennt die Tante den Onkel, im Radio hat sie heute zu Mittag gehört, welche Seen schon freigegeben sind für die Eisläufer, der Weißensee, der Aichwaldsee und der Rauschelesee, vom Ossiacher See keine Rede. Waghalsig, über dieses Wort muss ich lachen.

      Am Nachmittag lese ich im neuen Buch über die Vögel. Das Taubenkapitel. Über die vielen Arten, Felsentaube, Haustaube, Ringeltaube, Porzellantaube, Perückentaube, Lachtaube. Über die Kropfmilch, mit der sie die Jungen ernähren, beide, Täuber und Täubin. Über das Picken von Steinchen, damit sie im Magen die Körner zerreiben. Über Schwanzfedern, Deckfedern und Flaumfedern. Viele zusammengesetzte Wörter. Das Foto einer gerupften Taube, ohne Federkleid nicht mehr erkennbar. Heiliger Geist!

      Am Abend geht der Onkel weg, ich wechsle zur Tante ins Wohnzimmer. Sie hat für mich Blätterteigtascherl gemacht, mit Himbeermarmelade. Wir spielen DKT. Ich kaufe Bauplätze, drei Häuser in Salzburg, ein Hotel in Klagenfurt und eines in Innsbruck. Eine Seilbahn und eine Schiffslinie. Heute habe ich Glück. Kein einziges Mal muss ich in den Arrest. Mit dem DKT habe ich Österreich kennen gelernt, alle Hauptstädte und die wichtigen Straßen.

      Mitten auf einem See ordne ich Eisquader zu Buchstaben, in immer neuen Versuchen, aber das Wort will nicht gelingen. Meine Finger kleben an den gefrorenen Flächen, das Eis unter mir wird dünner, die Zeit läuft. Wenn ich das Wort salvezza nicht endlich schaffe, bin ich verloren, durch erste Sprünge sickert schon Wasser. Es knackt und zieht mich nach unten ins Schwarze. Auf einmal ist da eine Hand, ich halte sie fest. Die Hand ist von Tante Rosa, sie sitzt auf meinem Bett. Du hast wieder geschrien im Schlaf, sagt sie, hast du was Böses geträumt?

      In der Schule erzähle ich, dass ich gestern eingebrochen sei, mitten auf dem Ossiacher See. Die Mädchen scharen sich um mich, sie wollen alle Details. Eine Stange war meine Rettung. Aha. Ob ich im nassen Gewand nach Hause gefahren sei? Ja, natürlich. Warum ich mich dabei nicht verkühlt habe? Ich erzähle von drei Tassen Lindenblütentee und einer Schwitzkur unter der Tuchent. Und ich erzähle auch gleich, dass ich Verwandte in Amerika habe. Ich sage nicht Kanada, weil Amerika viel wichtiger klingt. Wer die besseren Geschichten erzählt, bekommt mehr Aufmerksamkeit.

      Eine Mitschülerin berichtet von einem Bandwurm in ihrem Körper. Jeden Tag untersuche ihr Vater den Stuhl, er habe schon viele


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