Zen in der Kunst des Fahrradfahrens. Juan Carlos Kreimer
Lektüre führte mich aber auch zurück in meine Vergangenheit mit Fahrrädern: Beim Lesen fluteten mich Erinnerungen an meine Kindheit auf dem Land. Meine Familie war sehr, sehr groß, und ich erinnere mich deutlich an das eine kleine Kinderfahrrad, das in dem Bauernhaus meiner Großeltern stand, und die Gefühle, die ich mit ihm verband. Es wurde von einer gewaltigen Anzahl an Cousins und Cousinen benutzt, die alle ihre dreihundert ruhmreichen Meter darauf fahren wollten, ehe sie es voller Bedauern, Unwillen und Neid an das nächste Kind weiterreichen mussten. So viele Geschwister, Cousins und Cousinen, wie wir waren, mussten wir zwangsläufig Großzügigkeit, Respekt und Teilen lernen. Aber das Verlangen und das Vergnügen, die mit dem Fahren auf diesem Rad einhergingen, waren unbeschreiblich: den Weg entlang zu strampeln, flankiert von Mandelbäumen und Schilf, bis man die Grenze des Sicheren und Erlaubten erreichte: die Bahnschienen, die durch das kleine Dorf verliefen.
Auch an das gigantische, gelborange lackierte alte Fahrrad meines Großvaters musste ich wieder denken. Wenn wir vor dem Café beim Park, in dem er immer Kaffee trank und Karten spielte, sein Fahrrad entdeckten, liefen wir manchmal los, um ihn zu fragen, ob wir damit herumfahren durften. Wir mussten erst auf den Rahmen klettern, um den Sattel zu erreichen und in die Pedale treten zu können, natürlich ebenfalls wieder abwechselnd. Später, in meiner Jugend, erlebte ich das wunderbare Vergnügen, mit einer Gruppe von Freunden auf den Wegen herumzufahren, die die Felder umgeben.
Heute fällt mir auf, dass ich mir erst als Erwachsener mein erstes eigenes Fahrrad kaufte, in Barcelona, als ich zwanzig war. Ich muss zugeben, dass ich es mit der Angst bekam, nachdem ich es eine kurze Zeit im Stadtverkehr benutzt hatte und überzeugt war, dass es eine konkrete Gefahr für mein Leben darstellte. Zum Glück haben sich die Zeiten geändert, und heute gibt es mehr und mehr Fahrradwege und mehr und mehr Menschen, die sich mit dem Rad in den Stadtverkehr trauen. Was sie lockt, sind die Stressreduktion und die gesundheitlichen Vorteile, die mit dem Radfahren einhergehen, wofür inzwischen auch viele Städte ein Bewusstsein gewonnen haben.
Ich danke Juan Carlos für seine Worte, die all diese schönen Erinnerungen in mir wiedererweckt haben, die unter einer dicken Schicht aus Pflichten und Verantwortungen begraben gewesen waren. Das wiederum erinnert mich an die weisen Worte von Eduardo Galeano, dem großen uruguayischen Schriftsteller: »Leben nur, um zu leben, so wie der Vogel singt, ohne zu wissen, dass er singt, oder das Kind spielt, ohne zu wissen, dass es spielt.« Und noch etwas muss ich gestehen: Seit ich dieses Buch gelesen habe, macht mir das Fahrradfahren wieder Spaß.
Ich möchte mit den Worten schließen, dass dies ein inspiriertes und einfallsreiches Buch ist, humanistisch und doch unangepasst, intellektuell und doch empirisch, rigoros und doch liebevoll, kultiviert und doch zugänglich, weltlich und doch spirituell. Vor allem aber ist es ein Buch über Zen, dessen – wie dieses Buch uns erinnert – einfachste, anspruchsvollste und zugleich auch am schwersten verständliche Maxime lautet: »Wenn ich esse, esse ich. Wenn ich schlafe, schlafe ich.« Ich möchte hinzufügen: »Wenn ich Fahrrad fahre, fahre ich Fahrrad.«
Joan Garriga Bacardi
Port de la Selva
Humanistischer Psychotherapeut,
Gründer des Institut Gestalt in Barcelona,
Pionier der Familienaufstellung nach Bert Hellinger
in Spanien und Lateinamerika sowie Buchautor
EINFÜHRUNG
Ein wunderbares Gefühl des Nichts
Wenn du jemals auf dein Fahrrad gestiegen und losgefahren bist und das Gefühl hattest, deine Handlungen seien unabhängig von deinem Willen und all dein Denken würde vorübergehend pausieren, dann brauche ich dir wohl nicht zu erklären, was ich mit »Gefühl des Nichts« sagen will. Im Zen bezeichnet man diesen Zustand als Achtsamkeit.
Eines Mittags Ende 1982, ich war 38 Jahre alt, bemerkte ich, dass Fahrräder sich selbst lenken. Ich sitze am Strand mit Blick auf den Rio de la Plata, dort, wo sich heute der Jardín de la Memoria befindet. Bei mir ist Daniel Coifman, ein Freund und Psychotherapeut, der mehrere Aufenthalte am Esalen Institute in Big Sur absolvierte, mehrfach nach Indien reiste und, um es kurz zu fassen, die Geheimnisse des Bewusstseins erkundet hat. Unsere Fahrräder lehnen aneinander.
Ich erzähle ihm, dass ich mich an all die Orte erinnere, durch die wir zusammen gefahren sind: das Planetarium, den Bahnübergang beim Flughafen, die Kreuzung beim Fischerverein. Und auch an den Wind auf meinem Gesicht, das Wasser, das gegen die Brüstungen spritzte, den Essensgeruch in den Restaurants, wie du einen Umweg gefahren bist, um den beiden alten Herren aus dem Weg zu gehen, die Mate tranken … Aber ich kann mich einfach nicht daran erinnern, was ich dabei gedacht habe. Ich war abgelenkt, keine Ahnung, wo ich in Gedanken war. Ich weiß nur, dass ich jetzt hier bin.
Daniel springt auf. »Nein, du warst nicht abgelenkt«, sagt er. »Du warst geistesabwesend, aber nicht abwesend. Und ob du es glaubst oder nicht, das ist das genaue Gegenteil.«
Dreißig Jahre sind seit diesem wunderbaren Gefühl des Nichts und diesem Gespräch am Flussufer vergangen. Fünf Notizbücher á hundertsechzig Seiten, völlig zerfleddert, weil ich sie so oft aus meiner Hosentasche geholt und wieder hineingeschoben habe, wurden mit Hunderten von Worten und unzusammenhängenden Sätzen, Gebeten, unfertigen Absätzen, abgeschriebenen Zitaten gefüllt. Hin und wieder tippe ich sie in ein langes Textdokument auf meinem Computer ab, das ich dann auf irgendeiner Seite öffne:
Die Verbindungen zwischen Fahrrad und Zen drängen sich förmlich auf, ganz gleich, auf welchen Lebensbereich sie sich beziehen. Ich suche nicht nach ihnen, sie verfolgen mich.
Zu meditieren bedeutet nicht, sich einfach im Lotussitz niederzulassen und zu versuchen, einen anderen Geisteszustand zu erlangen – das Sitzen ist dieser Zustand. Genauso ist das Sitzen mit herabhängenden Beinen, die rhythmisch die Pedale bewegen, und den Händen am Lenker an sich bereits die Einheit mit dem Fahrrad.
Diese beiden Praktiken sind Formen der »geistigen Verdauung«, denn sie reinigen unser Inneres. Es mag vielleicht so klingen, als könne man sie mit passivem Schweigen gleichsetzen, aber dem ist nicht so. Der Geist reinigt sich selbst und tritt auf ganz natürliche Weise in einen Zustand subtiler Aufmerksamkeit ein.
Die Informationen, die der Fahrradfahrer dem Fahrrad kommuniziert und die das Fahrrad an ihn zurückgibt, erzeugen einen ähnlichen Dialog wie den in unserem Körper, der den Botschaften des Verstands vorausgreift und sich autonom zu bewegen scheint.
Eine Hand fährt eine Tischkante entlang und erkennt, wo der Tisch endet. Ein Bein in der Luft und eine Fußbewegung können ausreichen, um einen Fußball zu treffen und in die freie Ecke eines Tors zu lenken – all das in weniger als einer Sekunde, niemand den Verstand fragen, was zu tun ist, und als würde dieser auch gar keine Entscheidung treffen.
Der Verstand erfüllt eine Doppelfunktion: Er ist da, ist wachsam und sendet auch die notwenige Hilfe (also Information) – eine Choreografie, die alle Worte transzendiert.
Verbinden wir unsere Sinne mit dem Objekt Fahrrad, wird es zu einer Erweiterung unseres Körpers, als sei es ein Gliedmaß.