Gegen das Tabu. Georg Rösl

Gegen das Tabu - Georg Rösl


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erntet echte Begeisterung«

      Dieser Tag fing an wie so viele andere Tage auch und sollte zu einem der dramatischsten meines Lebens werden. Um elf Uhr hatte ich ein Meeting mit meinem Geschäftsführer und dem Leiter des Projektmanagements. Nach einer guten halben Stunde öffnete einer der Kollegen das Fenster des Besprechungsraums im vierten Stock und mir lief es eiskalt den Rücken runter. Ich begann, mich gedankenverloren auf das Fenster zu konzentrieren. Ich spürte, wie mich dunkle Dämonen aufsuchten und sich immer wieder derselbe Gedanke einstellte: „Wenn ich aus dem Fenster fallen würde, wäre ich diese Qual der Depression und diese tiefe innere Verzweiflung endlich los!“

      Dass sich Dämonen tagtäglich auf meine Seele legten und versuchten, mich in den Abgrund zu ziehen und mir negative Gedanken einzupflanzen, war mir ja nicht neu. Neu war der Gedanke, dass ich tot wäre, wenn ich jetzt aus dem Fenster fallen würde. Ich spürte, wie sich dieser Gedanke einerseits erschreckend angenehm anfühlte, da es eine Lösung für die täglichen Qualen zu sein und eine ganz andere Perspektive zu eröffnen schien. Man ist so erschöpft, dass man für eine Sekunde bei diesem Gedanken hängen bleibt und für sich mehrfach wiederholt: „Wenn ich da rausfalle, ist es vorbei mit den Qualen. Wäre das nach all den Jahren endlich eine Erlösung? Der ganze Mist hätte endlich ein Ende.“ Andererseits fuhr es mir in der nächsten Sekunde in Kopf und Glieder: „Was für einen Scheiß denkst du denn da gerade?“

      Ich war bestimmt einige Minuten des Gesprächs nicht mehr geistig anwesend und konnte mich auch nach der Rückkehr aus diesem Tagtraum schlecht konzentrieren. Aber das war nichts Neues, denn ich konnte mich schon seit gut neun Monaten kaum länger als ein paar Minuten auf eine Sache konzentrieren – außer beim Chillen auf der Couch auf das Netflix-Programm. Hoch konzentriert nichts tun, das ging. image Da mir auch schlecht wurde und sich dieser Gedanke wieder und wieder alle 20 Sekunden in meinem Kopf wiederholte und ich ihn einfach nicht mehr loswurde, sagte ich meinen Kollegen, dass es mir nicht gut gehen und ich nach Hause fahren würde. Meine Kollegen in meiner Digitalagentur wussten schon länger, dass ich nicht so gut drauf war, daher waren sie nicht verwundert, als ich mich dann schnell verabschiedete. Ich erklärte noch, dass ich weiter danach suchen würde, woher meine Erschöpfung käme, und machte mich dann aus dem Staub. Ich rannte die Treppe runter und auch da kam wieder der Gedanke: „Wenn du den Treppenschacht runterfallen würdest, wärst du tot.“ Der Gedanke war für mich auch deswegen so seltsam, weil er wie eine Feststellung in meinen Kopf schoss, nicht wie ein Tun. Einfach eine Feststellung, die zur Konsequenz hätte, dass die Höllenqualen, die mich tagein, tagaus begleiteten, endlich vorbei wären.

      Ich lief eilig weiter, nur schnell weg aus dem Treppenhaus, in die Garage zu meinem Auto. Auf dem Weg merkte ich, dass ich etwas ruhiger wurde, da ich auf Straßenebene angekommen war und nicht fallen konnte, außer auf die Schnauze, was nur wehtäte, mich aber nicht umbringen würde. Immer noch von Unruhe getrieben und gedankenverloren fuhr ich nach Hause und war heilfroh, als ich in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa ankam, mich hinlegen und etwas zur Ruhe kommen konnte von dem Wahnsinn, den ich gerade erlebt hatte. Nach einigen weiteren Minuten beruhigte ich mich und schlief auf dem Sofa ein.

      Bevor ich einschlief, dachte ich mir noch: „Unfassbar, dass sich solche Gedanken in meinem Hirn abspielen!“ Jetzt kann man natürlich der Ansicht sein: Eine Krise, einen Durchhänger oder eine Panikattacke hat schließlich jeder mal und man erholt sich davon auch wieder. Aber jeder hat so eine Attacke irgendwann zum ersten Mal! Ich wusste nicht, wie mir geschah, und war plötzlich in noch größerer Not als vorher. Die nächsten Tage und Wochen sollten für mich noch schlimmer werden.

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       WIE ALLES BEGANN

      2007 BIS 2016

      »Das Wesen eines Menschen erkennt man erst,

       wenn es um Wesentliches geht«

       DER 10. NOVEMBER 2009, ROBERT ENKE

      Ich war schon einige Wochen daheim, als ich am 10. November 2009 wieder extrem ausgebrannt auf dem Sofa lag, um nur mal wieder ein paar Filme zu schauen. Das ging schon seit Tagen so, ich konnte mich zu nichts aufraffen. Mehr Schlaf als sonst brauchte ich auch. Aber am schlimmsten waren die Tage, an denen ich nicht mehr aus dem Bett kam und an denen eine Stimme im Kopf sagte: „Steh auf, putz die Zähne!“ und die andere Stimme fragte: „Warum?“ Ich wusste einfach nicht, was mit mir los war.

      Der 10. November 2009 war ein sonniger Dienstag, und es war genau einer dieser Tage, an denen ich schon mit dem Aufstehen und dem tieferen Sinn des Zähneputzens gekämpft hatte. Plötzlich, als ich so auf dem Sofa lag, kam über den Nachrichtenticker die Meldung, dass ein Spieler der Fußballnationalmannschaft von einem Zug überfahren worden war. Es handelte sich um Robert Enke. Fuck, das war heftig. Ich mochte Robert Enke, war fast schon ein Fan von ihm, weil er auf eine so ruhige und angenehme Weise seinen Weg als Sportler ging. Ich war echt schockiert und saß auf meinem Sofa wie ein Häuflein Elend. Die News lief den ganzen Tag auf jedem TV-Kanal und durchs Internet. Am nächsten Tag dann die bittere Erkenntnis: Es war Selbstmord. Robert Enke litt unter Depressionen und hatte sich vor den Zug geworfen. „Fuck, Depression? Was?“

      Zu diesem Zeitpunkt brachte ich meine Erkrankung noch nicht wirklich mit Depressionen in Verbindung, eher mit einem heftigen Burnout. Ich war sicher, meine Kraft würde schon wiederkommen. Hey, ich war 34 Jahre alt, stand mitten im Leben, hatte zwar einige Schicksalsschläge hinter mir, aber ansonsten war doch alles tutti, dachte ich. Ich begann zu recherchieren und merkte immer mehr, dass ich vielleicht doch in einer Depression steckte. Aber so richtig vorstellen konnte ich mir das nicht; damit zu einem normalen Arzt zu gehen, kam mir und meinem Ego nicht in den Sinn. Ich machte den Stress in der Firma und den Druck wegen des Kindes für meine Probleme verantwortlich. Aber der Tod von Robert Enke machte mir doch sehr zu schaffen und ich suchte weiter nach Informationen zu seiner Erkrankung. Material zum Thema Depressionen war damals allerdings bei Weitem noch nicht so gut zu finden wie heute. Woran ich mich noch sehr genau erinnere, ist, welcher Gedanke mir damals in meiner eigenen, vielleicht auch schon depressiven Situation auf dem Sofa durch den Kopf schoss: „Ich kann verstehen, dass man nur noch will, dass es aufhört, wenn man so verzweifelt ist.“

       WENN MAN AN ZWEI FRONTEN KÄMPFT, KANN MAN AUCH AN ZWEIEN VERLIEREN

      Schon zwei Jahre vorher, 2007, hatte mich das Schicksal von zwei Seiten her gebeutelt – privat und beruflich. Nach dem Verkauf von Anteilen unseres Börsenverlags an einen Investor war kaum Zeit zum Feiern. Es tauchten dunkle Wolken am Horizont unserer Branche auf und die Überhitzung des Finanz- und Bankenmarkts, in der unser Verlag einer der Marktführer war, schickte ihre Vorboten aus.

      Wenige Wochen nach dem Deal mit der Firma gab es dann privat eine gute Nachricht: Meine Freundin war schwanger. Wir waren unfassbar glücklich, dass es nach Jahren des Versuchens endlich geklappt hatte. Die Jahre des Kinderwunsches waren nicht spurlos an uns vorübergegangen – das hatten wir bereits bemerkt. Der Arzt der Kinderwunschklinik meinte noch – ich weiß es wie gestern: „Den Champagner können Sie schon mal kalt stellen, Glückwunsch, aber noch nicht trinken!“ Wir freuten uns beide sehr und ich besonders für meine Freundin. Sie ist ein wunderbarer Mensch, der mir immer den Rücken stärkt, für mich da ist, gerade in schwierigen Zeiten. Und sie hat keine Ansprüche, die sie nicht auch selbst erfüllen kann. Dazu kommt, sie ist immer gut gelaunt, mit einem Lächeln für mich und andere auf den Lippen. Zum Glück ist sie schon meine Freundin, sonst würde ich sie mir genau so backen. Da wir auch gerade in unser eigenes Haus gezogen waren, schien unser Glück für einen Moment perfekt. Ein guter Zeitpunkt, meine Idee weiterzuverfolgen, mich aus dem Vorstand der Firma zurückzuziehen. Nach zehn Jahren des heftigen und lehrreichen Schuftens in verschiedenen Firmen jetzt mal den Erfolg und die finanzielle Unabhängigkeit zu genießen, war ein verlockender Gedanke, gerade auch angesichts der geglückten


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