Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Kunststücke gingen weiter. Nun kamen die beiden Jungbären auf den Platz im Freigehege. Sie marschierten auf zwei Beinen zum Takt einer von Helmut Koster leise gesungenen Melodie im Kreise. Beim zweiten Mal gesellte sich unaufgefordert Luja dazu. Sie stand neben einem missglückten Versuch schließlich freihändig auf den Schultern von Taps. Mutter Isabell, die früher einen Ring durch die Nase getragen hatte, den Dr. von Lehn entfernt hatte, tanzte in Erinnerung an längst vergangene Tage ihren alten Tanz, was sie immer noch sehr gut konnte.
»Nächste Woche ist Zirkus in Maibach«, sagte Nick begeistert. »Mit der Nummer könntest du direkt auftreten, Helmut.«
Helmut Koster hörte auf, seinen Zirkusmarsch zu summen. Er sah Nick gespannt an. »Ein Zirkus, sagst du, Nick? Was für ein Zirkus denn?«, fragte er interessiert.
»Bei uns in der Schule ist schon ein Anschlag. Warte mal, Zirkus Ramoni heißt er. Aber es scheint nur ein kleiner Zirkus zu sein, denn der Eintritt ist ganz billig, und die Plakate haben sie selber mit bunten Filzschreibern gemalt.«
»Ramoni?«, wiederholte der Tierpfleger kopfschüttelnd. »Ich habe einmal einen Zirkus Ramoni gut gekannt, denn ich war dort beschäftigt. Aber das war ein großer Zirkus. Vielleicht irrst du dich.«
»Nein, der Zirkus heißt Ramoni«, bestätigte Pünktchen. »Ich habe es selbst gelesen. Wir werden wahrscheinlich mit den beiden Sophienluster Schulbussen an einem Nachmittag hinfahren und uns die Vorstellung ansehen.«
»Da werde ich bestimmt mitkommen«, sagte Helmut Koster ziemlich laut. »Erstens interessiert mich jeder Zirkus, und zweitens möchte ich herausfinden, wieso dieser Zirkus ausgerechnet den Namen Ramoni führt.«
»Ehrensache, dass wir dich mitnehmen«, erklärte Nick sofort. »Wir hätten dich sowieso noch dazu eingeladen. Du bist ja der Einzige von uns, der schon etwas mit dem Zirkus zu tun hatte.«
Helmut Koster blinzelte ihm zu. »Ich gebe zu, dass ich gern in den Zirkus gehe, Nick, sogar dann, wenn es bloß ein kleiner Zirkus ist. Es weht nämlich in so einem Zelt eine ganz andere Luft. Selbst der kleinste Hund kann ein paar Kunststückchen, und wenn oben in der Kuppel einer auf dem Steil steht, dann ist es immer spannend für mich.«
»Passiert eigentlich viel am Trapez und auf dem Seil?«, erkundigte sich Vicky mit runden Augen. »Man kann doch leicht herunterfallen von so einem Seil.«
»Ganz ungefährlich ist es nicht«, gab Helmut Koster zu, »aber die Seil- und Trapeznummern werden natürlich anfangs nicht in der Höhe probiert, sondern so, dass man sich leicht fangen kann, wenn man einmal fällt. Du verstehst?«
Vicky nickte. »Trotzdem könnte ich es bestimmt nicht«, seufzte sie. »Ich hätte schreckliche Angst. Und bei den Nummern mit den wilden Tieren auch.«
»Nun ja, da passiert auch hin und wieder etwas. Aber wenn der Dompteur es mit den Tieren richtig versteht, sind es meist nur Kratzer und harmlose Verletzungen, die er sich zuzieht. Dass ein Löwe oder Tiger einen Herrn umbringt, kommt fast nie vor.«
»Das ist gut«, meinte Vicky erleichtert. »Ich hätte sonst nämlich keinen richtigen Spaß am Zirkus.«
Helmut Koster lachte. »Man vergisst die Gefahr, wenn die Vorstellung beginnt.«
»Ich könnte sie nicht vergessen«, widersprach Vicky scheu.
In der Lehnschen Villa unterhielten sich währenddessen Denise und Andrea ebenfalls über den in Aussicht stehenden Zirkusbesuch in der Kreisstadt Maibach.
»Da es im Gymnasium ein Werbeplakat am Schwarzen Brett gab, genau wie in der Volksschule in Wildmoos, kommen wir um einen geschlossenen Zirkusbesuch nicht herum«, sagte Denise. »Es ist ja auch lange kein Zirkus mehr hier durchgekommen. Für Weltsensationen ist Maibach zu klein, und die weniger berühmten Wanderetablissements sterben immer mehr aus. Es scheint sich auch beim Zirkus Ramoni um ein ausgesprochen winziges Unternehmen zu handeln. Irgendwelche besondere Attraktionen sind auf den Plakaten nicht angekündigt, wie mir die Kinder versicherten.«
»Dann können wir ja Helmut Koster mit Luja, der reitenden Schimpansin, und den beiden Jungbären hinschicken, um das Programm zu bereichern«, meinte Andrea scherzend. Sie hatte Denise von ihren Beobachtungen erzählt. Im Gegensatz zu Dr. von Lehn nahm ihre Mutter die Bemühungen des Tierpflegers genauso ernst wie sie selbst.
»Zirkusleute kann auf die Dauer kein Mensch halten. Die Erfahrung habe ich immer wieder gemacht«, sagte Denise bedauernd. »Für euch wäre es zwar ein Verlust, wenn Helmut Koster wegginge, aber ich habe sowieso nie damit gerechnet, dass er für alle Ewigkeit bei euch bleiben wird. Die Sache mit Betti hat ihn vollends umgeworfen. Darüber gibt es kaum einen Zweifel.«
»Hans-Joachim würde sich wahrscheinlich gleich nach einem anderen Tierpfleger umsehen, aber noch ist Helmut ja bei uns. Wir wollen abwarten, was die Zukunft bringt, Mutti. Helmut besitzt Verantwortungsgefühl und weiß, dass wir zurzeit auf seine Hilfe angewiesen sind.«
»Er ist mir immer besonders sympathisch gewesen, euer Helmut«, entgegnete Denise gedankenvoll. »Es tut mir leid, dass er sich nun nicht mehr ganz glücklich zu fühlen scheint. Trotzdem wäre eine Ehe mit Betti wohl für beide Teile nicht die ideale Lösung gewesen.«
Andrea schüttelte den Kopf. »Nein, und auch unsere Marianne passt nicht zu ihm. Wenn überhaupt, dann braucht unser Helmut wohl ein Mädchen, das etwas mit dem Zirkus oder wenigstens mit Tieren zu tun hat.«
»Mit dem Zirkus, würde ich sagen«, meinte Denise. »Aber es ist kaum anzunehmen, dass wir ihm in dieser Hinsicht behilflich sein können. Mit dem Zirkusbesuch in Maibach, zu dem wir ihn natürlich gern mitnehmen, werden wir wahrscheinlich nur wehmütige Gefühle in ihm wecken. Eine Zirkusprinzessin wird ihm mit einiger Sicherheit nicht über den Weg laufen.«
Andrea sah ihre Mutter an und hob die Schultern. »Man kann nie wissen, Mutti. Irgendwann hat das Schicksal für jeden etwas bereit. Warum nicht auch für unseren Helmut? Er schaut jetzt immer so ernst und trübselig drein. Ich mache mir deshalb Sorgen um ihn.«
»Nicht immer kann man das Leben eines Menschen verändern, Andrea. Auf jeden Fall kann der Zirkusbesuch Abwechslung und Aufmunterung bringen. Wenn er bei Helmut Koster außerdem Sehnsucht und Heimweh weckt, so muss das eben in Kauf genommen werden.«
Viel zu schnell verging die Zeit. Die Kinder kamen wieder und brachten ein wenig den Geruch nach Heu, Tierfutter und Raubtieren mit. Doch weder Andrea noch Denise machte das etwas aus. Marianne ging in die Küche und kehrte mit Gläsern und mehreren Flaschen Fruchtsaft zurück. Durstig tranken die Kinder.
»Ich mag das rote Jäckchen von Luja so gut leiden«, plauderte Heidi Holsten. Damit ergab sich von selbst, dass die Kinder von der Privatvorstellung, die der Tierpfleger für sie abgehalten hatte, in aller Ausführlichkeit berichteten.
»Das habe ich mir gedacht«, kommentierte Andrea leise. »Ich habe gar nichts anderes erwartet.«
»Helmut sagt, du weißt nichts davon«, warf Nick ein. »Ich glaube, er denkt, es ist dir nicht recht, dass er mit den Tieren Kunststücke übt. Aber man kann sehen, dass es Luja und den Bären wirklich Spaß macht. Sogar Fridolin lässt seine dummen Streiche, wenn er die Schimpansin auf seinem Rücken trägt. Du solltest dir das einmal anschauen, Andrea.«
Nach einer Weile mahnte Denise zur Rückfahrt nach Sophienlust. »Wir wollen unsere gute Magda nicht warten lassen«, erinnerte sie die Kinder, die den Besuch gern noch ein wenig ausgedehnt hätten.
Magda war die ehemals herrschaftliche Köchin von Sophienlust, die ihrer großen Gutsküche treu geblieben war, als das Haus nach dem Willen der verstorbenen letzten Herrin in ein Kinderheim umgewandelt worden war. Sie war nach dem einhelligen Urteil der Kinder die beste Köchin der Welt. Schlechte Esser waren ihr Spezialgebiet. Bisher hatte noch jedes Sophienluster Kind unter ihrer Obhut und Pflege das Essen gelernt, wenn der Appetit anfangs zu wünschen übrig gelassen hatte.
»Was gibt es denn heute Abend?«, erkundigte sich Henrik, der in dem Alter war, in dem ein Junge immer Hunger hatte.
»Er hat sechs Stück Apfelkuchen mit Sahne intus, Mutti«, sagte Andrea erschüttert.