Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 4 – Familienroman - Patricia Vandenberg


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recht geben. Allein am Trapez musste man schon einen Todessturz vorführen oder sonst etwas Sensationelles, wenn die Nummer irgendwie spannend sein sollte. So wirkten die sauber vorgeführten Übungen beinahe langweilig, obwohl sie gut waren.

      Am Schluss führte der Direktor seine Tiere und alle Künstler zu den schmetternden Klängen des Grammophons zweimal in der Menge rundum. Es war wirklich eine traurige Schaustellung. Es wirkte etwa so, als spielten Kinder mit unzulänglichen Mitteln Zirkus.

      Helmut Koster wandte sich an Denise von Schoenecker, die zusammen mit der Heimleiterin, Frau Rennert, eifrig damit beschäftigt waren, die aufgeregten Sophienluster Kinder wieder zu versammeln. Schwester Regine, die Kinderschwester, hielt Heidi, das Nesthäkchen, fest in der Hand, damit sie nicht etwa verlorengehe.

      »Ich habe alte Freunde wiedergetroffen, Frau von Schoenecker«, sagte der Tierpfleger mit etwas heiserer Stimme. »Nehmen Sie es mir übel, wenn ich jetzt in Maibach bleibe und mit dem Zirkusdirektor eine Tasse Kaffee trinke? Er hat mich eingeladen.«

      »Nein, bleiben Sie nur! Es freut mich, dass Sie Bekannte getroffen haben.«

      »Fahren Sie dann mit dem Omnibus nach Bachenau zurück?«, fragte Frau Rennert fürsorglich. »Kennen Sie sich mit dem Fahrplan aus?«

      »Ich weiß Bescheid. Vielen Dank, Frau Rennert. Vielleicht bringt mich auch Herr Direktor Ramoni mit seinem Wagen zurück. Er wird ja wohl ein Auto haben.«

      ›Herr Direktor Ramoni‹. Das klang so großspurig und passte durchaus nicht zu dem mageren Herrn in seinem verschlissenen Anzug. Denise von Schoenecker warf Helmut Koster einen nachdenklichen Blick zu, den dieser jedoch nicht bemerkte, weil er viel zu sehr mit der aufregenden Tatsache beschäftigt war, dass er seinem ehemaligen Chef tatsächlich wiederbegegnet war.

      Ein alter Herr, dachte die schöne Herrin von Sophienlust ein bisschen wehmütig, denn sie hatte den Spenden sammelnden Zirkusdirektor in der Pause sehr wohl im Gespräch mit dem Tierpfleger bemerkt. Leider keine Zirkusprinzessin, fügte sie in Gedanken bedauernd hinzu. Der alte Mann wird Helmut gewiss nicht den Weg zurück in den Zirkus weisen können. Und wenn er es tut, dann bedeutet es für den armen Helmut kein Glück.

      *

      Die Zirkuswagen waren armselig und alt. Sie hätten mindestens einer gründlichen Auffrischung bedürft. Aber dazu fehlte wohl das Geld.

      Helmut Koster sah Wanja im Spiel mit dem hübschen Pekinesen, der vorhin noch zwei Hütchen übereinander balanciert hatte. Dem Jungen schien das schlechte Wetter nicht das Geringste auszumachen. Ein richtiger Zirkusjunge war er – Ramonis Enkel.

      Innen erwies sich der Wagen des Direktors jedoch als unerwartet gepflegt und gemütlich. In einer modernen Kaffeemaschine wurde eben der versprochene Kaffee gebraut. Auf dem Tisch standen auf weißer Decke Tassen und Teller, Sahne und Zucker sowie ein einfacher Kuchen. Eine schlanke Gestalt huschte an Helmut Koster vorbei ins Freie, als er den Wagen betrat.

      »Wer war das, Signor Ramoni?«, fragte der Tierpfleger den Zirkusdirektor, der nun die gläserne Kanne zu den Tassen hinstellte.

      »Natascha«, erwiderte Ramoni leise. »Sie hat noch zu tun, aber sie war so freundlich, den Tisch für Sie zu decken.«

      »Macht sie die Trapeznummer?«, fragte Helmut Koster leise.

      »Ja, aber Sie hätten sie mit den beiden anderen sehen sollen. Na ja, reden wir nicht mehr davon.«

      Der Kaffee war ausgezeichnet. Vom Kuchen nahm Helmut nur ein ganz kleines Stück, während der Direktor mit sichtbarem Hunger hineinbiss. Helmut dachte an den Jungen, der sicherlich auch hungrig war. Deshalb wollte er von dem Kuchen nicht mehr wegessen.

      »Erzählen Sie mir von Wanja, Herr Direktor«, sagte der Tierpfleger freundlich. »Ist er Ihr Enkel? Ein reizender Junge.«

      »Er nennt mich zwar Großvater, aber er ist mit mir nicht verwandt«, erwiderte Ramoni gedankenvoll und rührte in seiner Tasse. »Als ich ihn zu mir nahm, war ich noch jemand. Heute zuckt man höchstens die Achseln, sofern man meinen Namen überhaupt noch kennt. Nirgends wird man so schnell vergessen wie in unserer fahrenden Welt, Helmut.«

      »Ich habe mich an Sie erinnert«, widersprach Helmut Koster herzlich. »Wanja gefällt mir. Er ist ein lieber, anstelliger Bursche, und er muss Zirkusblut haben, ob er nun mit Ihnen blutsverwandt ist oder nicht. Ich dachte, er sei vielleicht Nataschas Sohn.«

      »O nein, Natascha und Irina sind erst zweiundzwanzig, aber Wanja ist schon sieben.«

      »Wie machen Sie es mit der Schule? Der Zirkus ist nicht groß. Sicherlich haben Sie keinen Lehrer hier.«

      Der Alte hob die Schultern. »Sie haben es erraten. Wanja ist das einzige Schulkind, das wir zurzeit bei uns haben. Das Geld für einen Privatlehrer kann ich nicht aufbringen. Warum soll ich Ihnen etwas vorschwindeln? Es geht uns miserabel. Wir kämpfen, aber wir geben natürlich nicht auf. Zirkusleute machen immer weiter. Ich habe Wanja zunächst einmal ein Jahr von der Schule zurückstellen lassen. Aber auf die Dauer geht das natürlich nicht. Was im Herbst werden soll, wenn das neue Schuljahr anfängt, weiß ich nicht genau.«

      »Ach, Zirkuskinder lernen schon irgendwie lesen und schreiben, nicht wahr?« Helmut Koster lächelte zuversichtlich. »Bei mir haben es die Eltern damals auch nicht so genau genommen. Einmal bin ich an einem kalten Winter in einem Dorf beim Lehrer geblieben. Der hat mich morgens während des Unterrichts und nachmittags noch allein vorgenommen. Das hat mir dann zwei Schuljahre ersetzt. Geographie und fremde Sprachen habe ich von selbst gelernt, durchs Umherziehen und durch die Ausländerkinder, mit denen ich spielte. Man soll die Kinder nicht überbewerten.«

      »Recht haben Sie«, bestätigte der Direktor erleichtert. »Sobald der Zirkus wieder größer ist und wir mehr Familien mit Kindern haben, werden wir natürlich eine Lehrerin oder einen Lehrer einstellen. Es muss ja sein.«

      »Hat Wanja keine Eltern mehr?«, setzte Helmut behutsam seine Fragen fort, denn der Bub mit seinen lustigen Augen und der Brille auf der Stupsnase hatte es ihm, dem Kinderfreund, nun einmal angetan.

      »Nein, leider leben beide nicht mehr. Sie waren Dompteure. Wanjas Mutter starb bei seiner Geburt. Sein Vater kümmerte sich rührend um das Baby. Die leibliche Mutter hätte es nicht besser tun können. So wäre vielleicht alles gut gegangen, wenn das Unglück mit der Löwin nicht passiert wäre.«

      »Ein Unfall bei einer Dressur?«, erkundigte sich Helmut Koster.

      »Nicht einmal das. So etwas passiert ja im Grunde nur sehr selten, obwohl das breite Publikum sich einbildet, dass Dompteure ständig in Lebensgefahr schweben. Die Löwin – wir haben sie dadurch noch lange im Zirkus gehabt – schlug aus reiner Verspieltheit, wie es die Großkatzen nun einmal tun, nach ihrem Herrn und fügte ihm dabei unabsichtlich eine Kratzwunde zu. Wanjas Vater gab nichts darauf, und als die Wunde sich infizierte, war es bereits zu spät. Es wurde eine allgemeine Sepsis. Wir brachten ihn noch in ein Krankenhaus, aber auch dort konnten die Ärzte nichts mehr tun. Der arme Ragell wusste, wie es um ihn stand. Er litt schreckliche Schmerzen, doch das Schlimmste war für ihn die Sorge um das Kind. Ich hielt seine Hand bis zuletzt und versprach ihm hoch und heilig, mich um Wanja zu kümmern. Dieses Versprechen habe ich gehalten. Natürlich ist es nicht ganz leicht für mich, denn damals machte es mir nichts aus, dass die Ragells keinen Cent besaßen. Ich hatte selbst genug und glaubte, dass ich auch in Zukunft immer über ausreichende Geldmittel verfügen würde. Aber dann kamen Nackenschläge, einer nach dem anderen. Mein großes Zelt wurde von einem Wirbelsturm zerfetzt, und die Versicherung fand eine kluge Klausel, sodass sie mir keinen Cent zahlen mussten. Die Raubkatzen bekamen eine Seuche und mussten getötet werden. Meine schönen Schimmel musste ich verkaufen, um die dringendsten Schulden abzudecken. Dass man mit einer Ponynummer nicht mehr viel zu bieten hat, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen, denn Sie kennen sich aus im Fach.«

      »Aber die Nummer ist gut. Ponys sind gar nicht so leicht zu dressieren«, behauptete Helmut Koster, weil er dem alten Herrn etwas Nettes sagen wollte.

      »Die Ponys taugen nichts«, widersprach der Direktor ihm. »Sie wollen mich nur trösten, Helmut. Ich habe die Ponys und das miserable alte Zelt von einem Kollegen gekauft,


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