Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 4 – Familienroman - Patricia Vandenberg


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Wäre der Regen ein bisschen stärker geworden, hätte es ins Zelt geregnet. Dann wären die Zuschauer aufgestanden und gegangen. Meistens verlangen sie bei einer solchen Gelegenheit sogar ihr Geld zurück oder auch Ersatz für ein nass gewordenes Kleid. Ich hasse das schlechte Wetter. Im Winter werden wir wahrscheinlich ins südliche Ausland gehen, damit wir nicht frieren müssen. Aber auch in Italien oder Spanien regnet es um diese Jahreszeit viel.«

      »Es tut mir leid, Herr Direktor«, murmelte Helmut betroffen.

      »Sie brauchen mich nicht zu bedauern. Es war eben Pech, und jeder hat einmal Pech. Am ärgsten war, dass mich die besten Nummern, eine nach der anderen, verließen, sobald wir nicht mehr das große Zelt, die Raubkatzen und die fantastischen Schimmel hatten. Die Schimmel und die Löwen waren auf jedem Plakat, mit dem wir uns ankündigten. Jetzt haben wir nicht mehr viel. Und ein Künstler, der etwas auf sich hält, will natürlich zusammen mit anderen guten Nummern auftreten. Das kann ich verstehen.«

      »Aber Natascha ist gut«, warf Helmut ein, weil er immer wieder an das schlanke, dunkelhaarige Mädchen denken musste, das ihm so offensichtlich aus dem Weg gegangen war, als er in den Wagen gekommen war.

      »Natascha ist an und für sich erstklassig, Helmut«, versetzte Ramoni bitter. »Aber allein kann sie das nicht zeigen. Die Sache mit Natascha und Irina hat mir den Rest gegeben.«

      »Ist Irina etwas zugestoßen?«, fragte Helmut erschrocken. »Ich erinnere mich noch ganz genau an die beiden hübschen Mädchen. Sie sahen einander sehr ähnlich, aber ich konnte sie immer gut unterscheiden, weil Nataschas Augen viel dunkler waren als die von Irina. Ist das so geblieben?«

      »Ja, sie haben verschiedenfarbige Augen, meine Zwillingsmädchen«, bestätigte der Direktor. »Und sie sind überhaupt nicht gerade ein Herz und eine Seele, wie man das von Zwillingsschwestern vielleicht erwartet.«

      Helmut schwieg, denn er wollte nicht fragen, ob es Streit in der Familie gegeben habe. Vielleicht war das etwas, was ihn, den Außenstehenden, nichts anging.

      Der Zirkusdirektor füllte die Tasse nach und goss diesmal für jeden einen ordentlichen Schuss Rum dazu. »Ich habe ihn neulich geschenkt bekommen und für eine besondere Gelegenheit oder für eine Erkältung aufbewahrt«, gestand er mit gesenkter Stimme. »Heute meine ich, dass eine besondere Gelegenheit ist. Oder mögen Sie keinen Rum im Kaffee?«

      »Doch, so haben wir den Kaffee früher immer getrunken, wenn es kalt war unterwegs. Rum wärmt bis in die Füße. Ich kann mich an dieses prickelnde Gefühl noch ganz genau erinnern, obgleich ich jetzt schon lange, lange nicht mehr unterwegs bin, sondern bei einer sehr netten Doktorfamilie Tierpfleger geworden bin.«

      »Sie fahren nicht mehr durchs Land?«, fragte Ramoni verwundert. »Ich glaube, ich würde lieber als Stallbursche in einem fremden Zirkus arbeiten, als irgendwo festzusitzen. Das muss schlimm sein. Da geht es ihnen also auch nicht gut, trotz Ihres schönen, guten Anzugs und des vielen Geldes, das Sie auf unseren Sammelteller gelegt haben?«

      »Ich war ganz zufrieden in den letzten Jahren, Herr Direktor«, sagte Helmut Koster nachdenklich. »Irgendwie hat es mir gefallen bei der Familie. Sie sind so gut zu Kindern und zu Tieren. Da war einmal eine alte Dame, die ihrem Urenkel ein Gutshaus hinterließ. Sophienlust heißt es. In ihrem Testament stand, dass aus dem Herrenhaus eine Zufluchtsstätte für Kinder in Not gegründet werden solle. Der Junge, dem das Erbe zufiel, war damals erst fünf Jahre alt. Er heißt Nick und war heute in Ihrem Zirkus.«

      »Aha«, sagte Ramoni. »Die beiden roten Omnibusse, die draußen standen. Ich hab’s gelesen, aber nicht so darauf geachtet. Kinderheim sowieso.«

      »Sophienlust«, wiederholte Helmut Koster mit Betonung. »Nicks Mutter, Frau von Schoenecker, machte sich die Aufgabe zu eigen und rief das Kinderheim tatsächlich ins Leben. Sie war zu der Zeit Witwe und hat sich hart durchschlagen müssen. Inzwischen hat sich da jedoch allerlei geändert. Sie heiratete den Gutsnachbarn, Herrn von Schoenecker, und wurde seinen beiden halberwachsenen Kindern eine liebe zweite Mutter.«

      »Und Nick bekam einen Vater«, ergänzte der Direktor, der aufmerksam zugehört hatte.

      »Richtig. Es ist eine sehr glückliche Ehe, aus der noch ein kleiner Junge namens Henrik stammt. Die Busse, die Sie gesehen haben, sind übrigens die Schulbusse des Heims.«

      »Ja, so – die Schulbusse«, wiederholte der Direktor nachdenklich und nickte mehrmals mit dem Kopfe. »Und wie passt der Tierarzt mit seiner Familie da hinein?«

      »Sie haben genau achtgegeben«, staunte Helmut Koster. »Die Stieftochter von Frau von Schoenecker hat den Tierdoktor geheiratet, und bald entstand auf dem weitläufigen Grundstück des Tierarztes ein Tierheim für verlassene und in Not geratene Tiere. In diesem Tierheim bin ich Tierpfleger.«

      »Und deshalb mussten Sie mir die Geschichte von dem Kinderheim erzählen?«, fragte der Zirkusdirektor mit dem Anflug eines Lächelns. »Eine andere Absicht haben Sie damit doch nicht verfolgt?«

      »Vielleicht doch«, gestand Helmut Koster mit gesenktem Blick. »Es ist doch immerhin für Sie als Großvater ganz gut zu wissen, dass es so etwas wie das Kinderheim Sophienlust hier ganz in der Nähe gibt.«

      »Mit Schulmöglichkeiten?«

      »Jawohl, mit Schulmöglichkeiten«, erwiderte Helmut.

      »Ich muss einmal darüber nachdenken, Helmut«, sagte der Direktor unsicher. »Wollten Sie nicht hören, was mit Natascha und Irina war?«

      Das war ein Ablenkungsmanöver. Doch Helmut Koster ging gern darauf ein, denn neben dem Schicksal des netten Buben lag ihm auch die Frage am Herzen, was aus den bildhübschen Zwillingstöchterchen des Direktors geworden sein mochte.

      »Dass meine Frau nicht mehr lebte, wussten Sie?«, begann Gregor Ramoni etwas umständlich seine Erzählung.

      »Ja, das war mir bekannt. Sie war schon gestorben, als ich fortging.«

      »Die Mädchen waren vielleicht noch zu jung. Aber sie haben nun einmal Zirkusblut, und ich konnte sie nicht davon abhalten, am Trapez zu trainieren. Auf dem Seil fingen sie an. Aber es stellte sich bald heraus, dass ihre eigentliche Begabung eindeutig am Trapez lag. Das ist auch heute noch so. Zuerst trainierte ich ein bisschen mit ihnen. Aber ich war viel zu sehr aus der Übung. Außerdem hat man in meiner Jugend ganz andere Dinge gemacht als heute. Man ist waghalsiger geworden. Freier Fersenhang mit Rotation und so weiter. Na, Sie kennen das ja. Man kann nur den Atem anhalten und hoffen, dass nichts passiert. Natascha und Irina haben das alles fantastisch beherrscht und wurden mit jedem Tag sicherer. Als Fedor Collins zu uns stieß, waren es meine Mädchen, die es ihm angetan hatten. Er ist ein Trapezkünstler von ganz einmaligem Rang. Innerhalb kürzester Zeit schaffte er es, aus den beiden Mädchen und sich selbst eine Zugnummer ersten Ranges zu machen. Sie nannten sich die Ramonis, und sie hätten wirklich in jedem großen Zirkus auftreten können. Aber sie blieben natürlich bei mir, weil sie meine Töchter waren und weil wir uns alle lieb hatten. Ich hatte nur ausverkaufte Vorstellungen und konnte mir die Städte sozusagen aussuchen wie die Rosinen aus einem guten Kuchen.«

      »Und was ist dann aus Irina und Fedor Collins geworden?«, fragte Helmut Koster, atemlos vor Spannung.

      »Die Nummer platzte. Und damit war alles aus«, erwiderte Gregor Ramoni bitter. »Es fing damit an, dass Natascha sich in Fedor glühend verliebte. Das hätte mich gleich warnen sollen. Aber ich dachte, sie sei noch zu jung, und es würde vielleicht auch eine gute Zirkusehe zwischen den beiden geben. Warum eigentlich nicht?

      Doch es kam anders. Fedor beachtete Natascha nicht. Das wäre vielleicht noch eben gegangen. Schließlich lässt sich Liebe nun einmal nicht erzwingen. Natascha weinte sich heimlich die Augen aus, aber sie lachte und strahlte, sobald sie mit Collins und ihrer Schwester trainieren konnte. Ihre Auftritte waren trotz ihres verborgenen Liebeskummers sogar noch besser geworden. Bis dann die Bombe platzte. Sie überraschte Irina und Fedor, die sich küssten – und noch mehr als das. Es gab einen fürchterlichen Krach. Ich hasse Szenen, und Familienszenen sind so ungefähr das Schlimmste. In unserer Familie hatte immer Eintracht geherrscht. Doch damit war es nun aus. Natascha war überzeugt, dass Irina sie hintergangen und ihr Fedors Liebe sozusagen gestohlen


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