Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
vier Mal machen. Die Leute hier sollen doch etwas geboten bekommen. Ich werde zum Schluss ins Netz springen. Kleiner Todessturz.«
»Ist das nicht sehr gewagt?«, warf Helmut erschrocken ein. »Du solltest nicht zu viel riskieren, Natascha.«
»Natascha beherrscht den Sprung tadellos. Sie werden zuschauen und es mit eigenen Augen erleben«, antwortete Vater Ramoni anstelle seiner Tochter. »Das Netz ist jetzt wieder in Ordnung. In Maibach konnten wir es nicht wagen, Natascha springen zu lassen, weil die schweren Halterungen für das Netz erst repariert werden mussten.«
»Ich halte dir die Daumen, Natascha. Ein bisschen Herzklopfen werde ich bestimmt bekommen.« Helmut betrachtete das hübsche Mädchen mit einem langen Blick.
Natascha senkte die Lider. »Es ist nicht gefährlich, wenn man es wirklich kann«, sagte sie leise. »Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen. Immerhin bin ich eine der drei Ramonis.« Unverhüllter Stolz auf ihr großes Können schwang in ihrer Stimme mit.
Sowohl Gregor Ramoni als auch Helmut Koster horchten auf. Zum ersten Mal seit dem Streit mit ihrer Schwester und Fedor Collins hatte Natascha sich eindeutig als ein Mitglied der auseinandergefallenen Truppe bezeichnet. War das ein Signal? Eine allererste Andeutung dafür, dass Natascha irgendwann bereit sein würde einzulenken?
»Ich zweifle nicht an deinem Können«, antwortete Helmut leise. »Aber ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt.«
Da beschenkte sie ihn mit einem wunderschönen Lächeln.
*
Helmut Koster blieb zur Nachmittagsvorstellung und auch noch am Abend. Da wirklich jeder Platz ausverkauft war, musste er beim Eingang für die Tiere und Artisten stehen, doch konnte er auch von dort alles gut sehen.
Als das Netz für die von ihrem eigenen Vater angekündigte Natascha ausgespannt wurde, fühlte Helmut sein Herz viel schneller schlagen. Er hatte Angst, obwohl er genau wusste, dass eigentlich nichts passieren konnte.
»Sie wird den freien Sprung ins Netz wagen«, rief der Direktor, während das alte Grammophon zugleich einen schmissigen Marsch mit Trommelwirbel und Trompeten schmetterte.
Dann beobachtete Helmut wie gebannt jede einzelne Bewegung des Mädchens in dem hautengen Silbertrikot unter dem Zeltdach. Natascha führte besonders waghalsige und gefährliche Tricks vor. Als sie zum Sprung ansetzte, hörte sogar die Musik auf. Es war ein greller Misston, weil die Hand des Direktors, der auch das Grammophon bediente, gezittert hatte, als er den Tonabheber aufgehoben hatte.
»Nicht, lass es lieber!«, wollte Helmut rufen. Doch die Kehle war ihm wie zugeschnürt.
Nun sprang Natascha. Nein, sie flog in graziösem Schwung und weitem Bogen, landete sicher im Netz und war schon mit der zweiten Rückfederung wieder auf den Beinen.
»Bravo – bravo, Natascha!« Nun hatte Helmut seine Stimme wiedergefunden. Er klatschte, dass ihm die Hände wehtaten, und das übrige Publikum war genauso hingerissen wie er, weil Natascha wirklich eine große Leistung gezeigt hatte. Wohl jeder hatte gezittert, als sie durch die Luft geflogen war. Nun waren alle erleichtert und bewunderten ihre Kunst.
Die Musik setzte wieder ein, und der alte Clown kam in die Menge, um die Leute mit ein paar Witzchen abzulenken, während das Netz wieder abgenommen wurde.
Danach ging auch die Vorstellung weiter, und Helmut Koster vergaß alles um sich her, bis plötzlich Natascha an seiner Seite stand.
»Du bist große Klasse«, sagte er. »Aber bei der Wiederholung nach der Pause wirst du doch nicht wieder springen, nicht wahr?«
»Nein, weil es zu umständlich ist, das Netz zwei Mal auszuspannen. Die Wiederholung mache ich ja nur, weil unser Programm sonst zu kurz ist. Dabei arbeite ich dann ohne Netz. Aber das scheinen die meisten Zuschauer für ganz selbstverständlich zu halten.«
»Du bist sehr sicher. Man hat wirklich kaum Bedenken, dass du stürzen könntest«, gab Helmut zu.
»Na ja, ich bin schließlich nicht irgendjemand«, erwiderte sie und reckte sich dabei ein wenig.
Während der Abendvorstellung erlebte Helmut Koster dann auch noch den zweiten Todessprung von Natascha, der ebenfalls ohne Zwischenfall verlief. Es war spät, als er sich endlich von den Zirkusleuten verabschiedete, um nach Bachenau zurückzufahren.
»Grüßen Sie Wanja«, sagte der Direktor. »Diese Woche brauchen wir ihm nicht zu schreiben. Ich habe Ihnen ja aufgeschrieben, wohin wir von hier aus fahren werden. Vielen Dank für Ihren Besuch.«
Natascha kam mit bis zum Wagen. Sie trug nun wieder Jeans und eine einfache Bluse. Doch Helmut meinte sie immer noch wie einen silberglänzenden Pfeil durch die Luft fliegen zu sehen.
»Ich glaube, du schaffst es sogar allein, den Zirkus wieder hochzubringen«, sagte er und hielt ihre Hand länger, als es nötig war.
Sie schüttelte den Kopf mit dem schönen dunklen Haar. »Nein, Helmut – das ist mit einem einzigen kleinen Todessprung nicht zu schaffen. Vielleicht haben die Leute heute eine Ahnung von der großen Schau vermittelt bekommen. Aber eine Ahnung ist zu wenig. Zirkus muss guter Zirkus sein, sonst taugt er auf die Dauer nichts und geht ein. So ist das nun einmal. Daran kommen wir nicht vorbei.«
Helmut Koster sah sie an und lächelte. »Recht hast du, Natascha Ramoni. Denke einmal darüber nach, was du tun könntest, um aus eurem kleinen Zirkus wieder einen großen berühmten zu machen.« Er erschrak ein wenig über seinen eigenen Mut in dieser Abschiedsminute und bemerkte verwundert, dass eine Träne in ihrem Auge aufblitzte. Oder war es nur das Lampenlicht vom Zeltplatz her, dass es so aussah, als weine sie?
Nachdenklich setzte Helmut Koster sich hinter das Steuer und fuhr nach Bachenau zurück. Dieser Tag hatte ihm eine sehr seltsame Erkenntnis gebracht. Ich habe gedacht, dass ich den Zirkus meinte, als ich hierherfuhr, gestand er sich ein. Aber ich wollte Natascha wiedersehen. Zugleich meinte er, die Wärme ihrer Haut zu spüren und die Sanftheit ihrer Stimme zu hören.
Wenn er auch noch nicht bereit war, es sich einzugestehen, so war es doch geschehen. Sein Herz, von Betti ein wenig enttäuscht, hatte sich Natascha zugewandt. Er liebte sie. Das stolze Mädchen, das der eigenen Schwester den Krieg angesagt hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Sinn.
*
Die Freundschaft zwischen Wanja und Helmut Koster hatte einen Knacks bekommen. Wanja nahm es dem Tierpfleger übel, dass er ohne ihn losgefahren war, um seinen Großvater und den Zirkus zu besuchen.
»Das war gemein«, sagte Wanja. »Es ist schließlich mein Großvater, und er hätte sich bestimmt gefreut, mich wiederzusehen. Natascha erst recht. Aber du hast gar nicht an mich gedacht. Dabei hattest du Tante Andreas Auto und hättest Platz für mich darin gehabt.«
»Aber du musstest doch in die Schule gehen. Ich bin schon am Vormittag gefahren«, verteidigte sich Helmut, der arglos die herzlichen Grüße von Gregor Ramoni und Natascha sowie die aller anderen Zirkusleute ausgerichtet und von seinem Ausflug erzählt hatte.
Es war Samstagnachmittag. Die beiden saßen im Freigehege des Tierheims im Gras, und Wanja fütterte den Esel Fridolin mit einer saftigen Distel.
Der Junge war enttäuscht und ärgerlich. »Die Schule ist doch nicht wichtig«, schalt er. »Der Lehrer hat gesagt, dass ich beinahe schon in die nächste Klasse gehen könnte. Auf einen Tag wäre es bei mir bestimmt nicht angekommen. Aber du wolltest mir eben keine Freude machen.«
»Es tut mir leid, Wanja. Ich habe nicht gewusst, dass es dir so wichtig ist. Mir ging es in erster Linie darum, Natascha wiederzusehen.«
»Glaubst du denn, ich würde sie nicht gern wiedersehen?«, beklagte sich Wanja.
»Also gut, es war vielleicht ein Fehler von mir«, bemühte sich Helmut den Jungen zu verwöhnen. »Aber ich kam einfach nicht auf die Idee, dass es dir so wichtig sein könnte. Du bist doch jetzt so gern in Sophienlust?«
Wanja verzog den Mund. »Ich mag sie alle sehr gut leiden. Am liebsten natürlich Tante Isi. Sie versteht mich immer, und wenn ich einmal nicht fröhlich