Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 4 – Familienroman - Patricia Vandenberg


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Ich habe ganz einfach nicht mehr daran gedacht, dass ich selber ein Ausreißer war als Junge und dass man bei einem Zirkusjungen auf alles gefasst sein muss. Ob er wohl Geld bei sich hatte, unser kleiner Wanja?«

      »Vielleicht zwei oder drei Euro von seinem Taschengeld. Für eine Fahrkarte würde es jedenfalls nicht reichen. Es ist auch eine schlechte Verbindung, und er würde sicherlich nicht wissen, dass er zuerst mit der Eisenbahn und dann noch mit dem Postbus fahren muss.«

      Gregor Ramoni trank gedankenverloren einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, um seine vor Sorge trocken gewordene Kehle zu befeuchten. »Ich habe schreckliche Angst um Wanja, Helmut. Trotzdem möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie persönlich zu uns gekommen sind. Es ist Ihnen gewiss nicht leichtgefallen.«

      »Zu danken brauchen Sie mir nun wirklich nicht, Herr Direktor«, stieß Helmut hervor. »Ich ängstige mich selber genügend um den Buben. Wenn Natascha es auch vielleicht jetzt nicht glauben mag, ich hänge an Wanja. Man muss diesen aufgeweckten kleinen Burschen doch einfach lieb haben. Meine Gedanken versagen, wenn ich mir vorzustellen versuche, wo er jetzt sein könnte und was ihm passiert sein mag.«

      Gregor Ramoni faltete die sonnengebräunten Hände. »Kinder haben oft einen Schutzengel, Helmut. Wanja ist als dreijähriger Knirps in einem unbeobachteten Augenblick im Zirkuszelt hochgeklettert zum Trapez und hat oben geschaukelt. Es war ein schrecklicher Anblick für uns alle. Der Junge saß freihändig auf der glatten Stange, lachte und verteilte Kusshändchen, wie Natascha und Irina es immer taten.«

      »Stürzte er ab?«, fragte Helmut atemlos.

      »Nein, ich habe ihn heruntergeholt«, warf Natascha leise ein. »Ich kletterte hoch, während Irina und Vater sich freundlich unterhielten und darauf achteten, dass er sich wenigstens mit den kleinen Händen an den Seilen hielt. Als ich ihn endlich sicher in meinen Armen hielt, hätte ich weinen können, so dankbar und glücklich war ich, dass er sich nicht verletzt hatte. Vielleicht liebe ich ihn seit diesem Tage so sehr, als wäre er mein eigener kleiner Sohn.«

      Wenigstens sprach sie nun wieder, wenn sie damit auch die Kluft noch weiter aufriss.

      »Lebte sein Vater damals noch?«, fragte Helmut Koster.

      »Nein, er war etwa zwei Monate zuvor gestorben. Die Verantwortung für den kleinen Jungen lag ganz auf uns.«

      »Es hat keinen Sinn, nur an die Vergangenheit zu denken«, äußerte Gregor Ramoni nun aufatmend. »Wir wollen in Sophienlust anrufen und uns erkundigen, ob dort inzwischen etwas in Erfahrung gebracht wurde.« Er zog seine Jacke über und schickte sich an, mit Helmut Koster zum Gasthof zu gehen, wo es ein Telefon gab.

      Natascha blieb zurück. »Es ist nicht nötig, dass ich euch begleite«, sagte sie bitter. »Ich weiß, dass sich nichts geändert hat. Wir werden suchen, warten und am Ende etwas Schreckliches erfahren.«

      Ihr Vater strich ihr mit sanfter Hand über den dunklen Scheitel. »Verliere den Mut nicht, Natascha. Wanja ist nicht dumm. Er wird sich schon durchzuschlagen wissen. Man muss auch ein bisschen Gottvertrauen haben.«

      Natascha schlug die schwarzen Augen vorwurfsvoll zu ihrem Vater auf. »Ein kleiner Bub von sieben Jahren allein im Regen in der Nacht«, murmelte sie.

      Im Gasthof erfuhren die beiden Männer dann tatsächlich nichts Neues, als sie in Sophienlust anriefen.

      *

      Wanja war sehr nass geworden in der Nacht. Er hatte auch längst die Richtung verloren, weil er vor einigen Autos Angst bekommen und sich im Gebüsch versteckt hatte. Schließlich war er gar nicht mehr auf die Landstraße hinausgegangen, sondern querfeldein und durch den Wald gestapft, in der Annahme, dass der Weg auf diese Weise kürzer sei. Mit sieben Jahren wusste man eben noch nicht, dass man eine bestimmte Richtung einhalten musste. Für Wanja genügte der feste Vorsatz, seinen Großvater, Natascha und den Zirkus finden zu wollen.

      Gegen Morgen war es kalt geworden, und Wanja hatte sich ein bisschen unter einem besonders großen Baum ausgeruht. Nach dem Aufwachen hatte er Hunger und Durst gespürt. Mit einiger Wehmut hatte er an das leckere Frühstück gedacht, das Magda in Sophienlust jeden Tag auftischte. Frische Brötchen, Kakao, Butter, Honig und für jedes Kind ein Ei.

      Schließlich gelangte er zur Autobahn, und die rasend schnell vorüberfahrenden Wagen erschreckten ihn. Jemand winkte ihm zu, aber niemand hielt an, um den kleinen Jungen im Lodenmantel mit der Brille auf der Nase zu fragen, was er denn am frühen Sonntagmorgen hier eigentlich wolle.

      Mittags war Wanja so erschöpft, dass er sich irgendwo ins Gras fallen ließ und vor Hunger und Übermüdung einschlief. Dass man ihn suchen und sich um ihn sorgen könnte, kam ihm nicht einen Augenblick lang in den Sinn. Er hatte gar keine Kraft mehr, noch an irgendetwas zu denken.

      Erst als der Mond ihm ins Gesicht schien, erwachte er. Er fror und musste husten. In Sophienlust hatte ihm Schwester Regine immer Milch mit Honig gebracht, wenn er Husten bekommen hatte, erinnerte er sich. Dann beschloss er: Ich muss weiterlaufen. Wenn ich hier sitzen bleibe, komme ich nie zu Großvater und Natascha.

      Ach, alles war so schrecklich weit weg auf einmal. Wanja begann seinen Entschluss bitter zu bereuen. Aber nun wusste er endgültig nicht mehr, was er tun sollte. In einer großen Stadt hätte er zu einem Polizisten gehen und ihm seinen Namen nennen können. Aber hier im Wald schien es nicht einmal einen Förster zu geben.

      Taumelig und müde, hungrig und ohne jeden Mut lief Wanja weiter. Nur der Stolz verbot ihm zu weinen. Es kam ihm vor, als wäre er schon seit hunderttausend Jahren unterwegs.

      *

      Der Sonntag verging, ohne dass Wanja gefunden wurde. Helmut Koster setzte sich mit Andrea von Lehn in Verbindung und blieb auf ihren Vorschlag hin beim Zirkus. Zwar ging Natascha ihm aus dem Weg, doch er spürte, dass ihr Vater seine Anwesenheit dankbar begrüßte. Obwohl sich alle entsetzlich um den Jungen bangten und sorgten, mussten die Vorstellungen doch durchgeführt werden.

      Helmut Koster lenkte sich ab, indem er kräftig mit Hand anlegte, wobei er merkte, dass er noch immer genau Bescheid wusste. Er bediente das Grammophon, half bei den Tieren und machte sich überall nützlich.

      Natascha führte ihre Übungen am Trapez aus und verzichtete auch nicht auf den freien Sprung ins Netz, obwohl sie jetzt nicht so absolut sicher war wie in den Tagen zuvor. Es musste eben sein.

      Helmut schaute ihr mit Herzklopfen zu, aber nur er sah, dass sie die Lippen fest aufeinandergepresst hielt, als habe sie Angst. Doch der Sprung ging glücklicherweise jedes Mal gut aus.

      »Immer noch nichts?«, fragte der Zirkusdirektor, als die Vorstellung vorüber war und Helmut ein letztes Telefongespräch mit Andrea von Lehn geführt hatte.

      »Nein, nichts. Wenn ihm nur nichts passiert ist! Schrecklich, dass er nun schon die zweite Nacht draußen zubringen soll. Es regnet zwar nicht, aber kalt und dunkel wird es auch heute sein. So ein kleiner Junge fürchtet sich doch …«

      Niemand antwortete ihm. Natascha sah Helmut wieder einmal nicht an, sondern starrte traurig vor sich auf den Boden. Sie trug noch ihr glitzerndes Kostüm und hatte nur einen Umhang darübergeworfen. Wunderschön war sie, aber zwischen ihr und Helmut stand seit Wanjas Verschwinden eine unsichtbare, undurchsichtige Wand.

      Ich habe sie verloren, dachte der Tierpfleger. Sie wird es mir nie verzeihen, wenn dem Jungen etwas passiert sein sollte. Und wie die Dinge liegen, muss man jetzt beinahe darauf gefasst sein, etwas Schlimmes zu erfahren.

      Helmuts Sorge um Wanja war jedoch so groß, dass er seine eigenen Wünsche in den Hintergrund stellte. Wenn Wanja nur wiederkommt, setzte er seine stummen Betrachtungen mit einem tiefen Seufzer fort.

      *

      Am Montagmorgen radelte die junge Krankenschwester Anita Bauer durch ein schmales Waldstück. Sie sah eine kleine Gestalt am Wegrand und stieg ab, um nachzuschauen, ob das Kind gestürzt sei und sich verletzt habe.

      Ein feuchter Lodenmantel, ein bleiches Gesicht, eine verrutschte Brille, eiskalte schmutzige Hände. Der Junge lag in tiefer Bewusstlosigkeit. Schwester Anita glaubte auch festzustellen, dass er unterkühlt sei.

      »Wo


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