Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
hat er es mir genommen, dass ich ohne ihn gefahren bin. Nun wollte er wohl gleichfalls zu euch. Daran kann es kaum einen Zweifel geben.«
Nataschas Augen wurden schmal. »So – du bist also schuld«, kam es vorwurfsvoll und anklagend über ihre Lippen. »Dabei hast du Vater und mir versprochen, auf den Jungen zu achten. Zuerst erzählst du uns so lange von der Schule in Wildmoos und vom Kinderheim Sophienlust, bis wir uns überreden lassen, Wanja hinzubringen, und dann kannst du nicht einmal dafür sorgen, dass er auch gern dort ist und sich glücklich fühlt. Gerade du musst wissen, dass ein Zirkuskind besonders viel Einfühlungsvermögen und Liebe braucht, wenn es auf einmal gezwungen ist, sesshaft zu werden.«
Helmut Koster sah Natascha unglücklich an. »Ich sehe jetzt ein, dass ich Wanja hätte mitbringen sollen am Freitag. Der Lehrer hätte ihn sicherlich für diesen Tag von der Schule beurlaubt.«
»Jetzt ist es zu spät«, fuhr Natascha erregt auf. »Komm, wir müssen sofort zu Vater! Es muss doch etwas unternommen werden. Die Polizei muss Wanja suchen. Das Fernsehen soll eine Suchmeldung bringen, und der Rundfunk selbstverständlich auch. Ich kenne mich aus. Ein kleiner Junge von sieben Jahren geht wahnsinnig leicht verloren. Es ist schrecklich gefährlich für ihn.«
Helmut Koster wagte es, seine Hand auf ihre Schulter zu legen. Ganz leicht nur. »Ich wollte dich so gern allein sprechen am Freitag, Natascha«, gestand er scheu.
Zornig schüttelte sie seine Hand ab. »So? Der arme Junge war dir also im Weg, weil du dich in meine Angelegenheiten einmischen und unbedingt von Irina und Fedor reden wolltest! Was bildest du dir eigentlich ein? Wer bist du überhaupt, dass du so einfach Ratschläge erteilen willst? Wenn du wirklich Zirkusblut in den Adern hättest, wärst du nicht Tierpfleger bei Frau von Lehn geworden, sondern hättest dich weiterhin so durchgeschlagen, wie wir alle es tun. Wir pfeifen auf Sicherheit und Bequemlichkeit, wenn wir nur unsere Kunst ausüben und weiterhin durchs Land ziehen können. Vater hätte nicht erlauben dürfen, dass Wanja uns verließ. Er hätte wissen müssen, dass man sich auf einen wie dich nicht verlassen kann.«
»Natascha, ich …,?ich wollte nicht nur wegen deiner Schwester mit dir reden. Es war noch etwas anderes …«
»Sei still«, fiel sie ihm leidenschaftlich ins Wort. »Ich will gar nichts mehr hören. Komm jetzt endlich zu Vater. Er muss es so schnell wie möglich erfahren.«
Sie hasteten über den Platz und erreichten den Wohnwagen des Zirkusdirektors, in dem es wie gewohnt nach frisch gebrühtem Kaffee duftete. In Hemdsärmeln, schneeweißen übrigens, saß Gregor Ramoni im Sessel und starrte die beiden jungen Leute entgeistert an.
»Was gibt es? Wieso sind Sie wieder hier, Helmut?«
»Wanja ist fortgelaufen, Vater«, sprudelte Natascha hervor. »Sie haben nicht gut auf ihn aufgepasst. Helmut gibt selber zu, dass er an allem schuld ist.«
Das Gesicht Gregor Ramonis wurde starr vor Schrecken. »Wanja ist fort?«, vergewisserte er sich mit seltsam tonloser Stimme. Er sah dabei nicht seine Tochter, sondern Helmut Koster fragend an.
Dieser riss sich gewaltsam zusammen. »Er war heute Morgen verschwunden, Signor Ramoni«, berichtete er, sich zur Ruhe und Sachlichkeit zwingend, obgleich Nataschas ungezügelte Vorwürfe ihn tief getroffen hatten. »In Sophienlust haben sie bereits alles abgesucht. Es ist zu befürchten, dass Wanja die Absicht hatte, zu Ihnen zu gehen. Wahrscheinlich wollte er sein Fahrrad nehmen. Aber ein anderes Kind hat das Rad gestern Abend entdeckt und eingeschlossen. So muss er wohl zu Fuß aufgebrochen sein.«
»Heimweh, der arme Junge! Wo mag er jetzt sein? Wissen Sie, wann er losgelaufen ist?«, fragte Ramoni, der die Fassung wahrte, obwohl seine Wangen eine aschgraue Farbe angenommen hatten. »Würde er denn den Weg überhaupt finden?«
»Gib wenigstens zu, dass du die Schuld an allem trägst«, rief Natascha dazwischen. Ihr Atem ging heftig, und Helmut wagte es jetzt nicht, sie auch nur anzusehen. Wanja ist fort, und mit Natascha ist es für immer aus, dachte er verzweifelt und mutlos.
»Wanja war gestern bei mir«, berichtete er dann. »Als ich ihm Ihre und Nataschas Grüße ausrichtete, wurde er sehr böse. Er machte mir bittere Vorwürfe, weil ich ohne ihn zu Ihnen gefahren war.«
»Er hat Sehnsucht bekommen«, schaltete sich Ramoni mit unendlich trauriger Stimme ein. »Vielleicht hätten Sie ihm lieber nichts von Ihrem Besuch hier erzählen sollen. Das habe ich am Freitag auch nicht bedacht.«
Natascha wandte den beiden jetzt ostentativ den Rücken zu und blickte durch das kleine Fenster des Wohnwagens auf den Zirkusplatz hinaus.
»Es wäre wohl doch richtiger gewesen, ihn am Freitag mitzunehmen«, sagte der Tierpfleger mutlos. »Natürlich ist es jetzt zu spät. Aber ich hätte gestern bemerken müssen, dass er den Plan fasste, auf eigene Faust loszugehen. Er sagte, dass er nicht in Sophienlust zu bleiben brauche, wenn er nicht unbedingt wolle. Zwar sei er ganz gern mit den anderen Kindern beisammen, sogar die Schule macht ihm ein bisschen Spaß, aber der Zirkus fehle ihm.«
»Ich bin als Bub acht Mal durchgebrannt«, erklärte Gregor Ramoni, »als meine Eltern mich in eine Internatsschule schickten. Dabei mochte ich die Lehrer und die anderen Kinder gut leiden. Aber es kam immer wieder über mich. Wer vom Zirkus ist, hält es nun einmal nicht lange am gleichen Ort aus.«
»Wenn ich das nicht wüsste, bräuchte ich mir keine Schuld zu geben, Signor Ramoni«, entgegnete Helmut Koster leise. »Ich bin doch selber vom Bau. Hätte ich Wanja am Freitag mitgenommen, wäre er jetzt wahrscheinlich nicht verschwunden. Ihnen und Natascha gegenüber hätte Wanja freimütig die Bitte ausgesprochen, wieder bei Ihnen bleiben zu dürfen. Aber in Sophienlust hat er nichts gesagt, und zu mir hat er gestern jedes Vertrauen verloren, weil ich bei Ihnen war, ohne ihm vorher etwas davon mitzuteilen. Ich muss gestern wie mit Blindheit geschlagen gewesen sein, dass mir die Augen nicht aufgingen. Was sollen wir jetzt nur tun? Ich habe unterwegs nach ihm gesucht, und ich hatte insgeheim bis zuletzt gehofft, dass der schlaue kleine Bub sein Ziel möglicherweise schon erreicht haben könnte.«
»Wie denn? Zu Fuß – diesen weiten Marsch – und noch dazu in der Dunkelheit?«, ließ sich Natascha ärgerlich vernehmen. »Es war sonnenklar, dass er nicht bei uns sein konnte.«
»Er hätte einen Autofahrer anhalten können«, gab Ramoni zu bedenken. »Nicht wahr, darauf haben Sie ein wenig spekuliert?«
Helmut Koster nickte stumm. Es war arg genug, dass Wanja nicht zu finden war. Schlimmer noch kam ihn an, dass er sich von Schuld nicht freisprechen konnte. Aber am härtesten traf ihn, dass Natascha offensichtlich nichts mehr von ihm wissen wollte.
»Ist die Polizei verständigt worden?«, erkundigte sich Ramoni.
»Ja, das hat Herr von Schoenecker sofort getan. Es werden auch Suchmeldungen über den Rundfunk durchgegeben. Aber wenn Wanja sich absichtlich versteckt hält, wird das alles nicht viel nützen.«
»War er wenigstens warm angezogen? Es ist ziemlich kühl, und bis vor zwei Stunden hat es geregnet.«
»Er trug seinen Lodenmantel und feste Schuhe. Trotzdem ist zu befürchten, dass er bis auf die Haut nass wurde im Laufe der Nacht. Es lässt sich nicht genau feststellen, wann er losgelaufen ist. Aber man muss damit rechnen, dass er die ganze Nacht unterwegs war, wobei auch zu befürchten ist, dass er nicht die richtige Richtung eingeschlagen hat.«
Natascha wandte sich um. Es geschah sehr plötzlich. Ihre schönen Augen waren vor Erregung so dunkel, dass der Unterschied zwischen Pupille und Iris nicht mehr zu erkennen war.
»Vielleicht wird er niemals gefunden«, flüsterte sie. »Hast du denn nicht gewusst, was er uns bedeutet? Wir haben ihn lieb – einfach schrecklich lieb. War es denn unbedingt nötig, dass er in die Schule musste, um das dumme Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen? Es hätte sich sicherlich auch ein anderer Weg gefunden.«
»Du darfst nicht so ungerecht sein, Natascha«, mahnte ihr Vater bestürzt. »Helmut hat es gut und aufrichtig gemeint. Wir waren in Bachenau und Sophienlust, und das Kinderheim hat uns ausgezeichnet gefallen. Mit Frau von Schoenecker habe ich mich so gut verstanden wie nur selten mit einem anderen Menschen. Ich lege beide Hände