Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
mit der weithin sichtbaren Aufschrift ›Kinderheim Sophienlust‹.
»Hallo, Uwe, grüß dich, mein kleiner Kerl!«
Uwe wurde erst rot, dann blass. »Du – Vati? Bist du mit Mutti hier? Ich – ich wusste gar nicht, dass du kommen wolltest.«
»Mutti lässt dich grüßen. Sie schickt mich, weil sie so wenig Zeit hat. Ich bin seit einiger Zeit von meiner Reise zurück. Nun wollte ich dich endlich wiedersehen. Ich hab dir auch etwas mitgebracht.«
»Ich – ich habe jetzt keine Zeit. Ich muss Billy zurückführen. Wir hatten Zirkusvorführung, weil Helmut Koster Geburtstag hat.«
»Na, das kannst du mir später erklären. Ich nehme dich im Auto mit, wenn du willst.«
»Ja, gleich, Vati. Warte bitte.«
Uwe verschwand. Das Pferdchen ging willig mit ihm.
Andrea von Lehn war inzwischen auf den Wagen mit der auswärtigen Nummer aufmerksam geworden und trat nun auf Werner Breuer zu.
»Was verschafft uns das Vergnügen Ihres Besuches? Ich bin die Hausfrau.« Sie betrachtete den gut aussehenden Mann mit wachem, scharfem Blick und bemerkte sehr wohl, dass er unter der Sonnenbräune verlebt wirkte. Er gefiel ihr nicht. Andrea selbst zählte nicht zu den Frauen, die sich von einem Mann wie Werner Breuer betören lassen würden.
»Frau von Lehn? Ich hätte Sie eher für eins der jungen Mädchen aus Sophienlust gehalten. Eine Oberprimanerin vielleicht.«
Andrea ging auf das etwas plumpe Kompliment gar nicht erst ein. »Was können wir für Sie tun? Darf ich um Ihren Namen bitten?« Sie gab sich jetzt recht hoheitsvoll, und plötzlich wirkte sie durchaus nicht mehr wie eine Primanerin.
Werner Breuer war entzückt und verbeugte sich. »Ich bin der Vater eines dieser zahlreichen Kinderchen, gnädige Frau. Uwe Breuer, mein Filius, falls Sie nichts dagegen haben. Ich wollte ihn endlich besuchen, nachdem ich von einer längeren Geschäftsreise zurück bin.«
»Uwe also. Da wird er sich gewiss freuen.«
Jetzt beging Andrea einen entscheidenden Fehler. Obwohl sie von Werner Breuer nicht sonderlich eingenommen war, befriedigte es sie doch, dass dieser Vater nun endlich auftauchte. Sie wusste nichts über die genauen häuslichen Verhältnisse von Uwe und kam zu der Überzeugung, dass der Zwist, der offenbar zwischen den Eltern Breuer geherrscht hatte, nun beigelegt sein müsse. Wenn ein Vater, der allzu lange abwesend gewesen war, zurückkehrte und sich sofort um seinen Jungen kümmerte, dann war nach ihrer Erfahrung die Welt wieder in Ordnung.
»Ich darf Uwe doch in meinem Wagen mitnehmen? Ich möchte mit ihm hier im Hotel zu Abend essen und bringe ihn dann später ins Kinderheim zurück. Ist das in Ordnung?«
»Ja, gewiss, warum nicht? Es darf nur nicht zu spät werden, denn Uwe gehört zu den Kleinen und soll möglichst pünktlich zu Bett gehen. Das ist Sophienluster Hausordnung.«
Werner Breuer neigte zustimmend den Kopf und verbeugte sich noch einmal. »Eine Hausordnung, die ich selbstverständlich respektieren werde. Meine Frau und ich sind dankbar, dass Uwe in Sophienlust so gut aufgehoben ist. Es sind schwierige Zeiten in der Landwirtschaft. Aber das Ärgste ist jetzt geschafft. Ich denke, dass wir Uwe bald zurückholen können.«
Mit dieser geschickt eingeflochtenen Äußerung zerstreute er auch die allerletzten Bedenken von Andrea. Sie glaubte ihre Theorie bestätigt.
Uwe hingegen zögerte. Seine Beziehung zum Vater war nicht mehr natürlich und frei. Allzu lange hatte er ihn nicht gesehen. In seine Freude über das Wiedersehen mischte sich auch die Erinnerung an das, was er mit seinem Vater erlebt hatte.
»Ich möchte lieber mit den anderen Kindern fahren, Vati«, sagte er leise, sodass Andrea es nicht hörte.
»Warum denn? Schau dir meinen neuen Wagen erst einmal an. Dann wirst du keine Lust mehr haben, in einem eurer Schulbusse zu fahren. Ich kaufe dir Eis oder sonst etwas Leckeres im Hotel. Du kannst aber auch ein ordentliches, saftiges Steak haben. Heute ist mir keine Wurst zu teuer. Also! Ich habe mir die Erlaubnis von Frau von Lehn schon geholt.«
»Wohin willst du, Uwe?«, fragte nun ein kleines Mädchen. »Nimmst du mich mit?«
»Ist das die Tochter von Dr. Rhode?«, fragte Werner Breuer geistesgegenwärtig. »Mutti und der Doktor haben mir von dir erzählt. Nur deinen Namen habe ich vergessen, kleines Mädchen.«
»Ich bin natürlich die Gunni«, antwortete Gunni mit wichtiger Miene. »Und wer bist du?«
»Uwes Vati.«
»Ach so, dann willst du Uwe jetzt natürlich erst einmal mitnehmen. Das ist schade. Hast du seine Mutti auch mitgebracht?«
»Nein, leider nicht. Sie hatte zu viel zu tun. Aber sie lässt euch beide schön grüßen. Und dein Vati lässt dich auch grüßen, Gunni«, behauptete Werner Breuer kühn.
Allmählich gewannen beide Kinder Vertrauen zu ihm. Vor allem Uwe wurde zutraulicher. Er vergaß, dass sein Vater ihn schon oft enttäuscht hatte.
»Einsteigen, Kinder, es wird sonst zu spät!«, rief Schwester Regine.
Gunni lief davon. »Bis später, Uwe. Viel Spaß mit deinem Vati.« Sie fand sich damit ab, dass sie auf ihren besonderen Freund einmal verzichten musste, und suchte sich ein Plätzchen im Schulbus neben Heidi Holsten.
Uwe ging mit seinem Vater zum Wagen. Als die beiden Kleinbusse abfuhren, kläfften die vier Dackel, und Andrea gebot ihnen lachend, still zu sein. Sie trug jetzt ihr Peterle auf dem Arm und nahm von Vater und Sohn Breuer keine besondere Notiz mehr.
Im Hotel, wo Werner Breuer noch kein Zimmer gemietet hatte, entschied sich der Bub für ein Spiegelei auf Schinken, und sein Vater bestellte für sich das Gleiche.
Allmählich schmolz das Eis. Uwe wickelte sein Geschenk aus. Es war ein Auto mit Fernlenkung, Batterieantrieb, Hupe und richtig funktionierenden Blinkern. Beim Rückwärtsfahren schalteten sich sogar die großen Rückleuchten automatisch ein. Diesmal hatte der Vater genau das richtige Geschenk getroffen.
»Du, das mag ich, Vati«, sagte Uwe begeistert. »Vielen Dank. Hat Mutti es mit dir ausgesucht?«
»Nein, ich war allein im Geschäft. Ich dachte, dass so etwas ein Mann besser versteht. Und wie ich sehe, hat das auch gestimmt.«
»Früher hast du mir manchmal Sachen mitgebracht, für die ich schon zu groß war.«
»Na ja, das musst du mir nicht übel nehmen. Man vergisst manchmal als Erwachsener, wie schnell Kinder größer werden. Jetzt bist du wenigstens mit meinem Geschenk zufrieden.«
»Das Auto ist wunderbar, Vati. Mal sehen, ob es Gunni gefällt. Sie ist zwar erst vier, aber man kann gut mit ihr spielen. Sie fürchtet sich auch nicht vor Tieren wie andere kleine Mädchen.«
»Hm, mir hat Gunni auch gefallen. Und Mutti sagt, sie mag Gunni gut leiden, weil sie deine Freundin ist.«
»Das stimmt. Wir haben uns gleich verstanden, als sie kam. Sie hat keine Mutti mehr. Das ist sehr traurig, aber in Sophienlust, bei Tante Isi, Tante Ma, Schwester Regine und den anderen, braucht sie nicht einsam zu sein. Außerdem hat sie jetzt mich.«
»Mutti hat mir erzählt, wie gut ihr euch versteht. Ich freue mich, dass es dir in Sophienlust gefällt. Trotzdem möchte ich dich wieder mitnehmen.«
Uwe sperrte den Mund auf, obwohl er ein Stück Eidotter mit Schinken auf der Zunge hatte. »Mitnehmen?«, fragte er schließlich. »Aber ich kann doch nicht einfach wegfahren. Das darf man in Sophienlust nicht.«
»Erstens sagen wir Bescheid, und zweitens bin ich dein Vati. Eltern haben mehr zu sagen als die Heimleitung.«
»Bleibst du denn jetzt immer zu Hause? Musst du nicht mehr verreisen?«
»Ich bleibe. Die Zeit der vielen Reisen ist vorbei. Ich werde Mutti nun endlich auf dem Gut richtig helfen, damit sie sich nicht mehr so abplagen muss.«
»Hast du – hast du Geld mitgebracht