Sozialstaat Österreich (1945–2020). Emmerich Tálos

Sozialstaat Österreich (1945–2020) - Emmerich Tálos


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Sozialstaats die Sozialversicherungseinrichtungen einen positiven Saldo aufweisen.

      Nicht zuletzt zeigt sich die personelle und sachliche Expansion des Sozialstaates in einem massiven Anstieg der Sozialausgabenquote (Grafik 1.3.). Der Anteil der Sozialausgaben am BIP stieg von 16,0% (1955) auf 26,8 (1985), was einem Zuwachs von ca. 67 Prozent entspricht. Daneben reagiert die Sozialquote auf den Konjunkturverlauf, was z.B. den markanten Anstieg der Sozialausgaben Mitte der 1970er Jahre erklärt, als die erste Ölkrise zu einer Rezession führte.

      Wie rasant dieser Anstieg war, ist aus der Entwicklung seit 1955 ersichtlich. Eine Untersuchung der Entwicklung der Sozialquote für den Zeitraum 1955–1977 durch das Wirtschaftsforschungsinstitut kam zum Schluss:

      „Innerhalb des Zeitraumes von 22 Jahren sind die laufenden Sozialausgaben auf mehr als das Elffache gestiegen, was einer jährlichen durchschnittlichen Wachstumsrate von 11,7% entspricht. Demgegenüber wuchs das Brutto-Inlandsprodukt im Durchschnitt um 9,5% pro Jahr. Die Sozialausgaben wuchsen somit um knapp ein Viertel rascher als die gesamte Wirtschaft“ (Busch 1979, 382).

      Der rasante Zuwachs bei den Sozialausgaben war jedoch kein österreichisches Spezifikum. Grafik 1.4. zeigt für 18 westliche Länder die Entwicklung der Sozialausgabenquote nach ILO-Definition zwischen 1950 und 1980.

      Quelle: WIFO Monatsberichte 8/1979, 382 und 6/1988, 357.

Illustration

      Quelle: ILO: The Cost of Social Security (verschiedene Ausgaben).

      Auffällig ist jedoch, dass Österreich zur internationalen Spitzengruppe gehörte. 1950 lag Österreich bei den Sozialausgaben hinter Deutschland an zweiter Stelle und nahm in den 1960er Jahren sogar vorübergehend den Spitzenplatz ein. Dies war dem höheren Ausbaugrad des Sozialstaats als Folge seiner vergleichsweise frühen Institutionalisierung und dem Schubeffekt der Weltkriege auf die Sozialausgaben geschuldet (Obinger/Schmitt 2018). Erst in den 1970er Jahren wurde Österreich von einigen nordeuropäischen Ländern überholt.

      Ein wichtiges Ergebnis des „Siegeszuges“ des Sozialstaates nach 1945 besteht unstrittig darin, dass – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Erwerbstätige und ihre Familien gegen wesentliche soziale Risiken, wie Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter, abgesichert sind. Die Abhängigkeit vom Markt bzw. von der Integration in den Arbeitsmarkt ist durch Transferleistungen wie Entgeltfortzahlung, Arbeitslosengeld oder Pensionen teilweise eingeschränkt. Die Dominanz der staatlich geregelten sozialen Sicherung im Alter im Vergleich zu anderen, betrieblichen und privat organisierten Formen lässt sich an deren Relation beim Pensionseinkommen zeigen: Ca.93% dieser Leistungen resultierten 1983 aus der gesetzlichen Pensionsversicherung und aus Beamtenpensionen, 4% aus freiwilligen Betriebspensionen und ca. 3% aus privater Eigenvorsorge wie Lebensversicherungen (siehe Busch u.a. 1986, 191). Der Sozialstaat kann das Entstehen von Risiken wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit meist nicht verhindern, er bietet allerdings durch Geld- und Sachleistungen Kompensationen für daraus resultierende Folgen. Sozialstaatliche Leistungen tragen damit wesentlich zur Reduktion des Verarmungsrisikos bei (siehe Förster/Heitzmann 2002).

      Sozialstaatliche Maßnahmen verringern zudem die in unserer Gesellschaft am Erwerbsarbeitsmarkt strukturell bestehende Schieflage zwischen Arbeitgeber/innen und Arbeitnehmer/innen, wie am Eingriff in die Beziehungen der Arbeitsmarktakteure und an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen ersichtlich ist. Die zeitliche Nutzung der Arbeitskraft ist durch Begrenzungen der Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit eingeschränkt.

      Um die gleiche Schieflage geht es bei Regelungen des Kündigungsschutzes oder der institutionalisierten Mitwirkungsmöglichkeiten der unselbständig Erwerbstätigen bzw. ihrer Vertretung in den Betrieben. Die mit Kindern verbundenen erhöhten materiellen und zeitlichen Aufwendungen sollten zum Teil durch einschlägige Infrastruktur-, Geld- und Sachleistungen kompensiert werden. Der Sozialstaat Österreich sichert nicht nur – wie im Fall der Arbeitslosigkeit oder des Alters – materiell ab, sondern fördert Arbeitsmarktzugänge. Insgesamt ist damit der Sozialstaat zu einem zentralen sozialen Gestaltungsfaktor geworden.

      Bei allem Ausbau, bei aller Reichweite und hohem Niveau verschiedener Leistungen ist im Sozialstaat Österreich jedoch auch eine Reihe von Problemen strukturell angelegt. Diese waren in der Phase der Expansion noch weitgehend verdeckt: Die dominierende Anbindung an den Versichertenstatus durch Erwerbsarbeit bewirkt Ausgrenzung – nämlich all jener, die dieses Kriterium aus Gründen familiärer Arbeit, Behinderung oder Arbeitslosigkeit nicht realisieren bzw. realisieren können. Der Sozialstaat schließt analog dem Äquivalenzprinzip im Leistungssystem das Verarmungsrisiko nicht aus. Das Leistungssystem reproduziert – mit wenigen Einschränkungen – die am Erwerbsarbeitsmarkt bestehenden Einkommensungleichheiten. Die Schieflage zwischen den Geschlechtern wird damit wenig verändert, die ökonomische Abhängigkeit vieler Frauen von den durchwegs höheren Einkommen, auch sozialstaatlichen Transfereinkommen, ihrer Männer wird vielfach fortgeschrieben. Die Ungleichheit im Einkommen und in der Dauer der Integration in Erwerbsarbeit spiegelt sich in ungleichen Leistungen wider. Das heißt, dass der der Pensionsversicherung zugrunde liegende fiktive Generationenvertrag zwar zur Sicherung des sozialen Zusammenhaltes zwischen Erwerbstätigen und Nichtmehrerwerbstätigen beiträgt, die Ungleichheit der Leistungen in der Alterssicherung allerdings nur selektiv – nämlich bei Anspruch auf die Ausgleichszulage – abschwächt.

      Die Anbindung sozialstaatlicher Integration und Leistungen an Erwerbsarbeit bedeutete die Anbindung an eine spezifische Ausprägung der Erwerbsarbeit, die im Begriff des „Normalarbeitsverhältnisses“ gefasst wird. Darunter wird jener Typus von Beschäftigungsverhältnissen verstanden, der durch abhängige, vollzeitige und dauerhafte Beschäftigung mit geregelter Normalarbeitszeit, mit kontinuierlichem Entgelt und sozialstaatlichen Sicherungs- und Schutzgarantien gekennzeichnet ist. Dieser bildet nicht nur die Basis für die Sicherung der materiellen Teilhabechancen der derart Beschäftigten (und vielfach ihren Familien), sondern stellte und stellt für die sozialstaatlichen Regelungen in vielen Ländern, wie auch in Österreich, den dominanten Bezugspunkt dar. Die wesentlichen sozialstaatlichen Schutznormen und Leistungen sind in erster Linie daran orientiert. Dass dieses Arrangement „ewig hält“, daran hegten bereits die politischen Entscheidungsträger bei der Verabschiedung des ASVG im Jahr 1955 Zweifel:

      „Die Feststellungen über den neuen Rentenaufbau sollen nun nicht etwa die Tatsache bestreiten, dass auch in Österreich früher oder später eine echte und grundlegende Sozialreform durchgeführt


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