Sozialstaat Österreich (1945–2020). Emmerich Tálos
Sozialstaatsentwicklung im 20. Jahrhundert ist die Ausweitung des Versichertenkreises der Sozialversicherung. Im Unterschied zur Ersten Republik resultierte die Erweiterung nach 1945 in erster Linie aus der personellen Ausdehnung der Pflichtversicherung in allen Sozialversicherungszweigen (siehe Grafik 1.1.). Dabei folgte diese Ausweitung der traditionellen Orientierung der österreichischen Sozialversicherung an Erwerbstätigen: Die in der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen wurden ebenso wie die Bauern und freiberuflich Selbständigen (Ärzte, Apotheker, Dentisten, Tierärzte) in einem sukzessiven Prozess von den 1950er bis in die 1970er Jahre, teilweise nicht ohne Widerstände,1 in die Versicherungszweige der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung einbezogen. Damit war die Zielvorstellung einer Sozialversicherung für alle (bezahlt) arbeitenden Menschen – von wenigen Ausnahmen (wie Prostituierten und geringfügig Beschäftigten) abgesehen – weitgehend realisiert. Seit den 1970er Jahren sind zudem auch Schüler und Studierende unfallversichert. Für die Pensionsversicherung wurde die Möglichkeit einer begünstigten Weiter- und Selbstversicherung geschaffen. Zugleich mit der Ausweitung der Direktversicherten stieg die Zahl der durch die Sozialversicherung indirekt Erfassten (Familienangehörige ohne eigenständigen Versicherungsschutz, anspruchsberechtigte Hinterbliebene). Durch die Einbeziehung von Familienangehörigen, von Pensionsbeziehern, von Arbeitslosen und Bezieher/innen von Sozialhilfeleistungen erreichte die Krankenversicherung (im Sachleistungsbereich) das Niveau einer Volksversicherung (Tabelle 1.3.). Diese beachtliche Expansion der personellen Reichweite wird durch das Faktum untermauert, dass im Jahr 1890 erst 6,8%, im Jahr 1930 bereits 60% der Bevölkerung krankenversichert waren.
Tabelle 1.3. Geschützte Personen in der Krankenversicherung*
Geschützte Personen | Anteil der geschützten Personen an der Bevölkerung in Prozent | |||
Insgesamt | Versicherte | Angehörige | ||
Jahr | Absolutzahlen (in Tausend) | |||
1948 | 4.455 | 2.970 | 1.455 | 63,5 |
1950 | 4.586 | 3.177 | – | 66,1 |
1955 | 4.895 | 3.450 | 1.445 | 70,2 |
1960 | 5.460 | 3.651 | 1.809 | 77,5 |
1965 | 6.648 | 4.186 | 2.462 | 91,6 |
1970 | 6.782 | 4.375 | 2.407 | 91,8 |
1975 | 7.284 | 4.600 | 2.684 | 96,9 |
1979 | 7.450 | 4.775 | 2.675 | 99,3 |
* Diese Statistik ist fallbezogen und berücksichtigt mehrfache Versicherungsverhältnisse einer Person nicht. Andererseits sind Personen, die bei den Krankenfürsorgeanstalten versichert sind, darin nicht erfasst.
Quelle: Jahresbericht 1955/1956. Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, 12; Jahrbuch der österreichischen Sozialversicherung für das Jahr 1962, 7; Jahrbuch der österreichischen Sozialversicherung für das Jahr 1970, 12; Sozialstatistische Daten 1977, Wien 1977, 162; Handbuch der österreichischen Sozialversicherung für das Jahr 1979, I. Teil, 13.
Ungeachtet des Rückgangs der selbständig Erwerbstätigen, vor allem in der Land- und Forstwirtschaft, ist auch die Zahl der Pensionsversicherten im gegenständlichen Zeitraum von 2,65 auf 2,81 Millionen gestiegen, was einem Anteil von ca. 86% der Beschäftigten insgesamt entsprach.
1.6. Sozialstaatliche Expansion: nicht zum Nulltarif
Die sozialstaatliche Expansion in personeller und sachlicher Hinsicht fand in beträchtlich wachsenden Einnahmen und Ausgaben ebenso wie im Anstieg der Sozialleistungsquote ihren Niederschlag. Auf inflationsbereinigter Basis (Bereinigung mittels BIP-Deflator) lagen die Ausgaben 1980 fast auf dem 16-fachen Niveau der Ausgaben von 1948 (Tabelle 1.4.).
Tabelle 1.4. Gebarung der österr. Sozialversicherung 1948–1980 (Angaben in Mio. ÖS)
Erklärung: (2) Gesamteinnahmen: Linke Spalte: natürliche Zahlen; rechte Spalte: deflationiert mittels BIP-Deflator (1948=100). (3) Gesamtausgaben: Linke Spalte: natürliche Zahlen; rechte Spalte: defla tioniert mittels BIP-Deflator und 1948 gleich 100 gesetzt.
Quelle: Jahrbuch der österreichischen Sozialversicherung für das Jahr 1962, Tabelle 59; Handbuch der österreichischen Sozialversicherung für das Jahr 1977, II. Teil, Tabelle 76; Handbuch der österreichischen Sozialversicherung für das Jahr 1979, II. Teil, Tabelle 77; Handbuch der österreichischen Sozialversicherung für das Jahr 1982, II. Teil, Tabelle 77; BIP-Deflator: Statistisches Handbuch der Republik Österreich 1978, 71, Statistisches Handbuch der Republik Österreich 1982, 255.
Die Steigerung der Einnahmen im gegenständlichen Zeitraum resultiert aus mehreren Quellen: dem Anstieg der Anzahl der Versicherten sowie deren steigenden Einkommen und damit wieder steigenden Einnahmen aus Beiträgen, nicht zuletzt aus der Erhöhung der Höchstbeitragsgrundlagen, Beitragssätze und staatlichen Zuschüsse.
Das Pro-Kopf-Einkommen verzeichnete beachtliche Zuwachsraten (siehe Tabelle 1.1.). Die Höchstbeitragsgrundlagen, das heißt jene Ein kommensgrenze, bis zu der Sozialversicherungsbeiträge entrichtet werden müssen, stiegen nominell für ASVG-Versicherte von ÖS 2.400 in der Krankenversicherung und ÖS 3.600 in der Unfall- und Pensionsversicherung im Jahr 1955 auf ÖS 14.500 bzw. ÖS 19.500 im Jahr 1980. Die Beitragssätze in der Pensionsversicherung wurden im gleichen Zeitraum von 12% (Arbeiter) bzw. 11% (Angestellte) auf 20,5% für Arbeiter ebenso wie für Angestellte im Jahr 1980 angehoben.
Der Anteil des Bundesbeitrags in Prozent der Gesamteinnahmen der Sozialversicherung lag nach Inkrafttreten des ASVG 1956 bei knapp über 10%, stieg in der Folgezeit bis auf 24,3% (1968) und sank auf ca. 15% im Jahr 1980.
Gleichermaßen wie bei den Einnahmen ist bei den Ausgaben der Sozialversicherung ein Anstieg zu verzeichnen, wobei die Aufwendungen für Pensionen