Sozialstaat Österreich (1945–2020). Emmerich Tálos
href="#ulink_77482e6c-43dd-5612-8969-448141096409">2 Brutto-Pro-Kopf-Einkommen der Arbeitnehmer/Verbraucherpreisindex; Wifo Datenbank.
3 Reallohnwachstum minus Produktivitätswachstum; Jahresdurchschnitt; nicht um terms of trade bereinigt.
4 Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer/innen, brutto; Wifo Datenbank; ESVG 1995.
5 Löhne und Gehälter pro Arbeitnehmer/in, netto, real; Wifo Datenbank; ESVG 1995.
6 Arbeiternettotariflohnindex verknüpft mit Tariflohnindex 1966; jeweils Dezember; Wifo Datenbank.
7 Verbraucherpreisindex, jährlich; Wifo Datenbank.
Das hohe Wirtschaftswachstum resultierte maßgeblich aus dem wirtschaftlichen Wiederaufbau. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete die Verstaatlichte Industrie, die ihrerseits eine Folge des Zweiten Weltkrieges war. 1946 und 1947 wurden große Teile der Grund- und Schwerindustrie, fast der gesamte Kohle- und Metallbergbau, drei Banken, die Energieversorgungsunternehmen und die Donauschifffahrt in öffentliches Eigentum überführt. Durch die Verstaatlichung von ca. 70 Unternehmen entstand einer der größten öffentlichen Unternehmenssektoren in der westlichen Welt (siehe z.B. Butschek 2004, 113). Als ab Mitte der 1970er Jahre der Nachkriegsboom zu Ende ging, wurde dieser Sektor zu arbeitsmarktpolitischen Zwecken (labour hoarding) eingesetzt, was jedoch unter den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den 1980er Jahren zur massiven Krise der Verstaatlichten Industrie beitrug.
Wies die Arbeitsmarktsituation in den 1950er Jahren noch ein hohes Niveau der Erwerbslosigkeit auf – mit Raten von zum Teil weit über 5% (1950 bis 1956) (siehe Wirtschafts- und Sozialstatistisches Handbuch 1945– 1969, 276), so verfügte Österreich von Beginn der 1960er Jahre bis Beginn der 1980er Jahre über Vollbeschäftigung mit Erwerbslosenraten von weniger als 3%. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre sank die Erwerbslosigkeit sogar auf 2% bzw. darunter. Ungeachtet rückläufiger Beschäftigtenzahlen bei den selbständig Erwerbstätigen, insbesondere im Bereich der Landund Forstwirtschaft, stieg die Gesamtzahl der Beschäftigten in den 1950er Jahren leicht, sank in den 1960er Jahren und stieg erneut während der 1970er Jahre.
In dem gegenständlichen Zeitraum ist das so genannte „Normalarbeitsverhältnis“, das heißt ein vollzeitiges, kontinuierliches, arbeits- und sozialrechtlich erfasstes Beschäftigungsverhältnis, nicht nur die Norm am Erwerbsarbeitsmarkt, sondern auch der Referenzpunkt für sozialstaatliche Sicherung. Letzteres ist ablesbar am ASVG 1955, wonach zur Sicherung des Lebensstandards im Alter 45 Beitragsjahre erforderlich waren. Atypische Beschäftigungsformen spielten in Österreich lange Zeit keine Rolle. Erste Debatten über die Regelung von Teilzeit- und Leiharbeit sind für die 1970er Jahre konstatierbar.
Die demografische Entwicklung ist nach 1945 langfristig durch drei Trends gekennzeichnet: Erstens kam es zur Zunahme der österreichischen Bevölkerung insgesamt. Betrug diese in der Ersten Republik (1923) 6,5 Mio., 1951 6,9 Mio., so 1981 schon über 7,5 Mio. (siehe Faßmann 1997, 41). Zweitens ist die Entwicklung im gegenständlichen Zeitraum noch durch moderate Verschiebungen in den quantitativen Anteilen der Altersgruppen geprägt: Kamen im Jahr 1951 auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (15–60 Jahre) ca. 37 Kinder und ca. 25 über 60-Jährige, so zeichnen sich in der Folgezeit gegensätzliche Trends bei diesen beiden Altersgruppen ab. Ein Jahrzehnt später fiel die Relation bei den Kindern auf 32, während sie bei den über 60-Jährigen auf 32 anstieg. Drittens ist langfristig eine steigende Lebenserwartung zu konstatieren. Lag diese 1949/51 für Männer bei der Geburt bei 61,9 Jahren, so 1980/82 bei 69,23. Bei Frauen betrug die Lebenserwartung 1949/51 erst 66,97 Jahre, dann 1980/82 bereits 76, 37 Jahre (Statistik Austria, Lebenserwartung für ausgewählte Altersjahre 1868/71 bis 2010/12 und 1951 bis 2018).
Die Sozialstaatsexpansion in den Nachkriegsjahrzehnten ist nicht nur auf dem Hintergrund günstiger ökonomischer Rahmenbedingungen zu sehen. Auch auf der politischen Ebene zeichnen sich im Vergleich mit der Ersten Republik merkbare Veränderungen ab. Nach der Wiedereinführung der rechtsstaatlich-parlamentarischen Demokratie im Jahr 1945 (auf Basis der Verfassung von 1929) waren die folgenden Jahrzehnte in politischer Hinsicht vor allem durch eine spezifische Konstellation auf Ebene der Regierung, der Parteien und der Verbände geprägt. In der Parteienlandschaft dominierte langjährig das Duopol von ÖVP und SPÖ (siehe z.B. Müller 2006) – mit einem hohen Konzentrationsgrad bei den Wahlen, mit einem im internationalen Vergleich ausnehmend hohen Organisa -tionsgrad (Mitglieder) und mit der Vorherrschaft in Parlament und Regierung. Das Ende der annähernd 20 Jahre andauernden Großen Koalition bis Mitte der 1960er Jahre bedeutete nicht, dass damit auch die Zusammenarbeit zwischen den Großparteien in der Zeit der Alleinregierungen (ÖVP: 1966–1970, SPÖ: 1970–1983) endete. Bei allen fortdauernden Unterschieden in den gesellschaftspolitischen Optionen und Strategien bestand in den Nachkriegsjahrzehnten eine weitgehende Übereinstimmung hinsichtlich der aktiven Rolle des Staates bei der Steuerung der ökonomischen und sozialen Entwicklung. Die Einbeziehung der selbständig Erwerbstätigen in die Sozialversicherung hat darüber hinaus zum Abbau traditioneller Frontstellungen gegen die Sozialpolitik à la Erste Republik beigetragen. Nicht zuletzt spielte die Sozialpolitik für die politische Legitimation der Parteien eine zunehmend größere Rolle. Sozialpolitik wurde zur Wahlpolitik.
Während der Zweiten Republik kam es zur Herausbildung eines weitläufigen Netzwerkes von Beziehungen zwischen den Interessenorganisationen sowie zwischen diesen und der Regierung – bekannt als „Sozialpartnerschaft“ bzw. „Austrokorporatismus“ (siehe Karlhofer/Tálos 1999; Tálos/Hinterseer 2019). Dieses Netzwerk bildete den Rahmen für Interessenakkordierung und zugleich für die international herausragende Form der Beteiligung der Interessenorganisationen an politischen Entscheidungsprozessen. Es fundierte auf dem erst für die Zweite Republik konstatierbaren Grundkonsens über gesamtwirtschaftliche Ziele: Wirtschaftsund Beschäftigungswachstum, Preis- und Währungsstabilität. In engem Zusammenhang damit stand der Konsens im Bereich der Sozialpolitik: Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung als Basis für die Sicherung und den Ausbau der Sozialpolitik. Diesem Selbstverständnis entsprachen Kompromissstrategien auf Ebene der Parteien und Interessenorganisationen, die in vielfach praktizierten politischen „Tauschakten“, vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik, ihren Niederschlag fanden. Interessenkonflikte und zum Teil heftige Auseinandersetzungen waren damit keineswegs ausgeschlossen. Es ging dabei allerdings lange Zeit nicht bzw. weniger um eine grundsätzliche Infragestellung der Ausrichtung des Sozialstaates überhaupt, als vielmehr um die konkrete Ausgestaltung arbeits- und sozialrechtlicher Regelungen, deren Entwicklungstempo, deren Reichweite und finanzielle Implikationen. Diesbezüglich differente Positionen zwischen Parteien und Interessenorganisationen verhinderten politische Lösungen nicht. Der sozialpolitische Entscheidungsprozess war weitaus durch Kompromisse, zum Teil durch Junktimierungen z. B. mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen, und zeitliche Verschiebungen von Lösungen, zum kleineren Teil durch Alleingänge der jeweils allein regierenden Partei geprägt.
1.3. Das Profil des österreichischen Sozialstaates
Das allgemeine Profil des österreichischen Sozialstaates nach 1945 ist im Wesentlichen von fünf Bereichen bestimmt:
– die soziale Sicherung mit ihren beiden „Netzen“ Sozialversicherung und Sozialhilfe,
– die Regelungen der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen (d.h. das Arbeitsrecht),
– die aktive Arbeitsmarktpolitik,
– der Komplex familienrelevanter Leistungen und
– die Versorgungssysteme.
In kompetenzrechtlicher Hinsicht gibt es eine Teilung zwischen Bund und Ländern. Ersterem kommt dabei traditionell allerdings ein merkbar größeres Gewicht zu – ablesbar