Sozialstaat Österreich (1945–2020). Emmerich Tálos

Sozialstaat Österreich (1945–2020) - Emmerich Tálos


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href="#u18895ee4-3f2d-523b-9774-3e214b95d8cf"> 4. Sozialstaat Österreich im internationalen Vergleich

       4.1 Typologische Verortung

       4.2 Österreichs sozialpolitische Entwicklung im internationalen Vergleich

       4.3 Sozialstaatsindikatoren im Vergleich

       4.3.1. Sozialausgaben

       4.3.2. Finanzierung

       4.3.3. Generosität der Sozialleistungen: Nettolohnersatzraten

       4.3.4. Regulatorische Sozialpolitik: Arbeitsmarktregulierung

       4.3.5. Armut und Ungleichheit

       5. Ausblick

       Verwendete Literatur

       Zeittafel: Sozialstaat Österreich 1945–2020

       Abkürzungsverzeichnis

       Verzeichnis der Grafiken und Tabellen

      Vorbemerkung

      Der Sozialstaat ist seit der Corona-Krise 2020 wieder in aller Munde. War in den 1970er Jahren vom „Siegeszug“, so ist heute vielfach von Problemen und Herausforderungen die Rede. Der Szenenwechsel ist unübersehbar: Bis Beginn der 1980er Jahre war der sozialstaatliche Entwicklungsprozess durch eine beachtliche Expansion gekennzeichnet. Ebenso wie in vielen anderen europäischen Ländern gelten die Nachkriegsjahrzehnte in Österreich als „goldenes Zeitalter des Sozialstaates“ (z. B. Flora 1986, XXII). Arbeitsrechtliche Schutzmaßnahmen wurden erweitert, das Leistungsspektrum der Sozialversicherung ausgebaut, deren Niveau erhöht. Immer mehr Menschen kamen in den Genuss sozialstaatlicher Absicherung. In einem mehr als hundertdreißig Jahre andauernden Entwicklungsprozess haben sich fünf große Bereiche des österreichischen Sozialstaates herauskristallisiert: die soziale Sicherung mit den beiden „Netzen“ der Sozialversicherung und Sozialhilfe, die Regelung der Arbeitsbedingungen und Arbeits beziehungen, die aktive Arbeitsmarktpolitik, der Komplex familienrelevanter Leistungen und die Versorgungssysteme.

      Die gesellschaftliche Entwicklung im 20. Jahrhundert, insbesondere seit Ende des Zweiten Weltkrieges, wurde davon wesentlich geprägt. Der eindrückliche „Siegeszug“ des österreichischen Sozialstaates währte bis Mitte der 1980er Jahre. Seit damals zeichnen sich allerdings merkbare Veränderungen ab, die in erster Linie das breit ausgebaute System der Sozialversicherung betreffen.

      Der Veränderungsprozess war vorerst noch ein vergleichsweise moderater. Im Kontext eines verlangsamten Wirtschaftswachstums, steigender Arbeitslosigkeit und zunehmender Staatsverschuldung gerieten sozialstaatliche Leistungssysteme unter Druck. Zu diesen ökonomischen Problemen gesellten sich sozialpolitische Herausforderungen durch demografischen Wandel, gesellschaftliche Modernisierung, Migration und wirtschaftlichen Strukturwandel. Darüber hinaus hat sich das internationale Umfeld durch die europäische Integration, den Zusammenbruch der östlichen sozialistischen Staaten 1989 und die fortschreitende wirtschaftliche Globalisierung grundlegend verändert. Alle diese Veränderungen fanden im Wandel des Sozialstaates ihren Niederschlag.

      Im Unterschied zur durchgehenden Expansion des Sozialstaates in den Nachkriegsjahrzehnten ist die jüngere Entwicklung durch mehr Ambivalenz geprägt: Partielle Erweiterungen und Modifikationen, beispielsweise bei familienpolitischen Leistungen, der Antidiskriminierungspolitik und in der Langzeitpflege, sind ebenso zu verzeichnen wie Leistungseinschränkungen und strukturelle Veränderungen. Letzteres ist ablesbar am Bruch mit traditionellen Zielvorstellungen wie auch an zum Teil einschneidenden Leistungskürzungen. Der Sozialstaat spielt im Bereich sozialer Sicherung zwar noch immer eine wichtige Rolle für soziale Lebensbedingungen. Allerdings wird seine Bedeutung in Bereichen wie der Alterssicherung eingeschränkt. Zur Sicherung des Lebensstandards im Alter, die eine der zentralen Zielvorstellungen des „Sozialversicherungsgrundgesetzes“ der Zweiten Republik, des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) aus 1955, war, wird die staatlich geregelte Pension seit den gesetzlichen Änderungen unter der ersten Schwarz-Blauen Regierung (2003/2004) nicht mehr für alle reichen. Betriebliche und private Vorsorge spielen im Vergleich mit der vorangegangenen Entwicklung eine größere Rolle. Restriktive Trends sind auch für die Arbeitslosenversicherung und im Gesundheitssystem feststellbar.

      Eine Herausforderung besonderer und seit der Nachkriegszeit einmaliger Art stellt die Corona-Pandemie des Jahres 2020 mit ihren äußerst negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und mit der damit zusammenhängenden enorm gestiegenen Nachfrage nach sozialstaatlichen Leistungen dar. Deren Auswirkungen auf den Sozialstaat Österreich lassen sich Ende 2020 noch nicht insgesamt abschätzen. Unübersehbar allerdings ist, wie unverzichtbar der breit ausgebaute Sozialstaat mit seinen Leistungen für die österreichische Gesellschaft ist.

      Im ersten Abschnitt des Buches stehen der Sozialstaat der Nachkriegsjahrzehnte, seine Gestaltungsprinzipien und Dimensionen, sein Umfeld und seine Expansion auf den verschiedenen Ebenen im Blickpunkt. Gegenstand des zweiten Abschnittes ist der sozialstaatliche Veränderungsprozess seit Mitte der 1980er Jahre: das veränderte Umfeld und die sich abzeichnenden Problemlagen sowie die getroffenen Regelungen in den verschiedenen sozialstaatlichen Bereichen. Der dritte Abschnitt geht den Bestimmungsfaktoren dieser differenten Entwicklungen nach, der vierte Abschnitt befasst sich mit der internationalen Verortung und dem internationalen Vergleich des österreichischen Sozialstaates. Abschließend wird ein Blick auf mögliche zukünftige Entwicklungen vor dem Hintergrund der aktuellen Corona-Pandemie geworfen.

      1. Sozialstaat Österreich im „Goldenen Zeitalter“ (1945–1985)

      1.1. Von den Anfängen zum „Siegeszug“: Die Entwicklung des Sozialstaates bis 1985

      Die Anfänge des österreichischen Sozialstaates datieren ebenso wie die in Deutschland aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Am Beginn der Entwicklung steht in den 1860er Jahren die Einführung der Armenfürsorge in den Kronländern und Gemeinden der Habsburgermonarchie. Zwei Jahrzehnte später wurden in der österreichischen Reichshälfte der Monarchie zum einen verschiedene Arbeitsschutzregelungen (elfstündiger Höchstarbeitstag in Fabriken, Schutzmaßnahmen für Kinder, Jugendliche und Frauen) beschlossen, zum anderen die Sozialversicherung mit den Zweigen der Unfall- und Krankenversicherung (1887/1888) etabliert. Beides kann als Antwort auf die so genannte Arbeiterfrage betrachtet werden, die im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung virulent wurde (siehe Tálos 1982; Hofmeister 1981). Während die Armenfürsorge lange Zeit ein sehr weitmaschiges und kümmerliches soziales Netz für Bedürftige bildete, erfuhr die Sozialversicherung noch in der Monarchie mit der Einführung der Pensionsversicherung für Privatangestellte (1907) einen weiteren Ausbau. Mit der Schaffung der Sozialversicherung wurde in der Monarchie der Grundstein für die Tradition einer an Erwerbsarbeit gebundenen sozialen Sicherung gelegt.

      Der Erste Weltkrieg bedeutete eine Zäsur. Mit Kriegsausbruch wurde der Arbeitsschutz gelockert und der Arbeitsmarkt militarisiert. Das kriegsinduzierte soziale Massenelend führte gegen Kriegsende zu selektiven Verbesserungen im Bereich der Kranken- und Unfallversicherung sowie zu ersten staatlichen Eingriffen im Wohnungswesen. Bedeutsam war die Schaffung des k.k. Ministeriums für soziale Fürsorge im Jahr 1917, aus dem später das Staatsamt


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