Historische Translationskulturen. Группа авторов

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bei denen auf dem Weg zu ihrer demokratischen Ausprägung Gesprächs- und Handlungsbedarf vorliegt.

      Translationskultur als Forschungsobjekt oder Erklärungsmodell

      Für die Operationalisierung des hier im Mittelpunkt stehenden Konzepts haben die Autor/innen zwei unterschiedliche Wege genommen. In der Mehrzahl der Beiträge wird Translationskultur als Objekt der Deskription betrachtet, aber in einzelnen Artikeln wird auch der Versuch unternommen, das Konzept der Translationskultur mit den von Prunč vorgelegten Dimensionen als eine operative und reflexive Folie zu verwenden, mit der der aktuelle Stand des spezifischen translatorischen Handlungsraums mit seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen – beispielsweise in Bezug auf das oben genannte „demokratische“ Ideal – erfasst werden soll.

      Translationshistorische Analysen verfolgen nicht selten das Ziel, Formen translatorischer Handlungen sowie translatorischer Produkte in ihren historischen und gesellschaftlichen Entstehungszusammenhängen und -bedingungen zu verstehen, um auf diese Weise Wissen über Übersetzen und Dolmetschen in der Vergangenheit und ihre Bedeutung in mehrsprachigen Kommunikationskontexten zu akkumulieren. In diesen Bemühungen ist Translationskultur zumeist als historisch-räumlich-kulturell näher definiertes Objekt eines Rekonstruktionsversuchs aufzufassen. Dabei handelt es sich idealtypisch um ein Zusammenführen von translatorischer Praxis (Produkte und Handlungen) und auf Translation bezogenen, in Prunčs Definition erwähnten gesellschaftlich etablierten Normen, Konventionen, Erwartungshaltungen und Wertvorstellungen (vgl. Prunč 1997: 107). Die Analyse bemüht sich somit um ein gesellschaftliches (Re-)Konstrukt, das den „Konsens und Dissens über zulässige, empfohlene und obligatorische Normen der Translation“ (Prunč 2012: 331) in der gegebenen historischen Situation zu erfassen versucht.

      In dieser kurzen Form unterstellt die Aufgabenbeschreibung jedoch eine gewisse methodologische Einfachheit, die in konkreten translationshistorischen Projekten den epistemologischen Anforderungen nicht entspricht. Dies ist zumindest zum Teil darauf zurückzuführen, dass sich Prunč als „Translationsphilosoph“ (vgl. Schippel 2019) wohl um kein ultimativ ausgearbeitetes, wissenschaftstheoretisch hieb- und stichfestes Konzept bemühte, sondern es offen für sowohl unterschiedliche Anwendungsversuche als auch eine kritische Weiterentwicklung desselben halten wollte. Allein der Begriff Kultur führt zu nicht unbedeutenden definitorischen Herausforderungen: In Prunčs Verwendung enthält Translationskultur Merkmale nicht nur eines intellektuell-ästhetischen Kulturbegriffs (mit Verweis auf epochen- und kulturspezifische Schönheitsideale mit diesbezüglichen Wandlungsprozessen) und eines instrumentellen Begriffs (im Sinne einer etablierten Praxis oder policy; vgl. Geschichtskultur, Militärkultur oder Unternehmenskultur), sondern auch Merkmale eines anthropologischen Kulturbegriffs (mit Fokus auf die Gesamtheit kollektiver Denk- und Handlungsmuster) (vgl. Lüsebrink 2012: 10f.). Über diese begriffsinhaltlichen Dimensionen hinaus ist vom Problem der kulturellen Abgrenzung bei der historischen wie auch der gegenwärtigen Konstituierung und Konzeptualisierung der Translationskulturen nicht hinwegzusehen: Wie konstituiert sich das Handlungsfeld Translation und der damit zusammenhängende Rekonstruktionsversuch in Beziehung zu nationalen, institutionellen, sprachlichen oder sonstigen Grenzziehungen? (Zu Konstituierungs- und Verortungsprinzipien des Handlungsfelds vgl. u.a. Wolf 2010.) Oder ist vielmehr, als Zeichen der multiperspektivischen Kraft des Konzepts, dezidiert zwischen intrakulturellen, interkulturellen und internationalen Wirkungsebenen der Translationskultur zu differenzieren (vgl. Schippel 2008: 12)? Die begriffliche Weite erzwingt offensichtlich eine Reduktion der Perspektive auf Teilausschnitte oder -aspekte der Translationskulturen und eine schrittweise Annäherung an die zu erzielende Rekonstruktion. Bei einer derartigen Annäherung bieten sowohl die in Prunčs Definition erwähnten Einzelaspekte (u.a. Norm, Konventionen, Erwartungen) als auch weitere inhaltlich benachbarte Begriffe methodologische Anhaltspunkte. Zu diesen gehören u.a. Übersetzungskultur oder Translationspolitik.

      Mit Übersetzungskultur werden die intellektuell-ästhetischen Dimensionen des Konzepts von Prunč in den Vordergrund gestellt, indem die Kultur und Tradition des literarischen Übersetzens mit ihren thematischen und gattungsspezifischen Schwerpunkten, Diskurse über die Aufgabe der literarischen Übersetzer/innen sowie, davon abgeleitet, die grundsätzliche Offenheit oder Geschlossenheit von Zielkultur und zielsprachlicher Literatur analysiert werden. (Vgl. Frank 1989; zu Gegenüberstellungen Übersetzungs- vs. Translationskultur vs. Regime, s. Pym 2006; Kujamäki 2010.)

      Mit Translationspolitik wird dagegen die Aufmerksamkeit stärker auf instrumentelle und anthropologische Dimensionen von Translationskulturen gerichtet: Die Analyse geht, über die translatorische Praxis hinaus, den diese Praxis steuernden nationalen, staatlichen oder gar unternehmensspezifischen Prinzipien und Entscheidungen (inklusive Gesetzgebung und ihre Anwendung) nach, die unter anderem die Verwendung von Translation bei Behörden oder die Auswahl und Verfügbarkeit von Translaten und damit oft auch den Zugang sprachlicher Minderheiten zu gesellschaftlichen Diskursen in mehrsprachigen Kontexten regulieren. Erfasst werden auch die in der Gesellschaft herrschenden Diskurse über Mehrsprachigkeit und Notwendigkeit, Nutzen und Wert der Translation, d.h. „kollektive Denk- und Wahrnehmungsmuster“ (vgl. Lüsebrink 2012: 11), die sich wiederum in den genannten einschlägigen Entscheidungen für oder gegen Translation niederschlagen können.1

      Aus der allgemeinen Aufgabe der translationskulturellen Rekonstruktion lassen sich für konkrete Analysen unterschiedliche Teilaufgaben ableiten: Von Interesse ist zunächst die Praxis des Übersetzens und Dolmetschens in dem jeweiligen sprachlichen und/oder geografischen Raum, d.h. ihre Ursprünge und vergangene Formen, historisch markante Etappen sowie gegenwärtige Inhalte, die in Bezug auf ihre kultur- und ortsspezifischen Rahmenbedingungen beschrieben und analysiert werden können. Beispiele für solche Rahmenbedingungen schließen unter anderem die offizielle Sprach- und Kulturpolitik eines Staates oder die durch unterschiedliche offizielle oder inoffizielle Instanzen vertretene Translationspolitik ein, die einmal auf die Übersetzungstätigkeit, dann aber auch sowohl auf den Zugang der Bürger/innen zu übersetzten Produkten als auch auf ihre Möglichkeiten, an den gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen durch Translation teilzuhaben, direkten Einfluss haben.

      Zum Inhalt des Bandes

      Die genannten übersetzungskulturellen und translationspolitischen Dimensionen von Translationskulturen kommen in den einzelnen Fallstudien des vorliegenden Bandes in unterschiedlicher Stärke zur Anwendung und werden auch mit diversen sozialen und kulturellen Funktionen von Translation verbunden. Wird Übersetzungstätigkeit zum Beispiel mit Fragen der Identitätskonstruktion verknüpft, wird ein Mechanismus sichtbar, der genauso entscheidend zur Entstehung und Entwicklung von Translationskulturen beitragen kann wie der bloße alltägliche Kommunikationsbedarf. So zeigen Fiona Begley und Hanna Blum in ihrem Beitrag „The role of translation in the Celtic Revival: Analysing Celtic translation cultures“, wie Übersetzungstätigkeit sowohl von der englischen Kolonialmacht als auch von keltischen Kolonisierten für ihre jeweils eigenen kommunikativen, kolonialen und identitätsfördernden Ansprüche instrumentalisiert wurde. In dem Beitrag „Un paese, 6.000 lingue: Binnenübersetzung als Teilbereich der italienischen Übersetzungskultur“ geht Emanuela Petrucci wiederum den Charakteristika, Funktionen und der spezifische Bedeutung von literarischen Binnenübersetzungen in der italienischen Literatur nach. Aufgezeigt werden wichtige auslösende Faktoren wie das Bemühen um breitere Verständlichkeit, Sichtbarkeit und einen höheren Status der literarischen Werke und einzelnen Sprachvarietäten – Auslöser, die in den sich entwickelnden Übersetzungs- und Translationskulturen nicht selten zu beobachten sind.

      Kultur- und zeitspezifische Diskurse zu Translation sind ein weiterer wichtiger Bestandteil historischer Translationskulturen und ihrer Rekonstruktionsversuche. Von Interesse sind dabei normative Aussagen zu „angemessenen“, „unangemessenen“ oder „notwendigen“, „erlaubten“ oder gar „verbotenen“ Formen von Translationstätigkeit und Übersetzungen (als Texte), die Schlüsse über die die jeweilige Translationskultur konstruierenden Erwartungshaltungen und Wertvorstellungen zulassen. In ihrem Beitrag „Ungarische Translationskultur im Sozialismus: Zensur, Normen und Samisdat-Literatur“ besprechen Edina Dragaschnig und Claus Michael Hutterer


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