Komplexitätsmanagement. Michael Reiss

Komplexitätsmanagement - Michael Reiss


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Verbindungen zwischen den Bausteinen der Komplexität müssen weiter differenziert werden: Dies mündet einerseits in eine Unterscheidung von logischen Verbindungen und empirischen Verbindungen. Zudem lassen sich gewachsene (emergente) und gemachte (intendierte) Verbindungen unterscheiden. Logische Verbindungen basieren auf Implikationen (z. B. Vielfalt impliziert Vielzahl), definitorischen Konventionen (z. B. zwischen den Kennzahlen im Return-on-Investment-Kennzahlensystem) und Kombinatorik. Empirische Verbindungen beruhen auf Wenn-Dann-Wissen wie z. B. »Mit steigender Mitgliederzahl nehmen die Netzwerkeffekte zu«, das durch empirische Evidenz oder intuitive Plausibilität hinterlegt ist.

      Logische und empirische Verbundbeziehungen sind dafür verantwortlich, dass Komplexitätsverbünde die Regel, isolierte Insel-Komplexitäten hingegen eher die Ausnahme bilden. Im Interaktionsmanagement schaffen beispielsweise Tit-for-Tat-Strategien solche Verbindungen: Im Tarifkonflikt tritt beispielsweise als typisches Komplexitätssyndrom die Kombination von Schwerpunktstreiks, sprich eine komplexitätsmindernde Streikstrategie der Gewerkschaften und der komplexen sogenannten kalten Aussperrung auf: Hierbei sperrt beispielsweise ein Automobilhersteller aus, weil bei seinen Zulieferern schwerpunktgestreikt und möglicherweise (heiß) ausgesperrt wird. Solche Komplexitätssyndrome liefern einen Erklärungszusammenhang für eine bestimmte Komplexitätskonstellation, z. B. kalte Aussperrung als Reaktion bestimmter Arbeitgeber auf Streik in Zulieferunternehmen. Demgegenüber beschreiben die bereits behandelten Komplexitätsprofile lediglich das kombinierte Auftreten von Komplexität auf mehreren Komplexitätsdimensionen. Verbundkomplexität in Gestalt von Syndromen bildet eine weitere Facette der Metakomplexität. In vielen Fällen fungieren inhaltsfokussierte Zusammenhänge, etwa zwischen Strategie und Struktur, als Rahmen für die formalen Zusammenhänge zwischen Komplexitätsfaktoren, etwa zwischen komplexen mehrdimensionalen Strategien und mehrdimensionalen Strukturen.

      Nach dem Vorzeichen des Verbunds zwischen den originären und den derivativen Komplexitätsphänomenen gibt es einerseits unidirektionale Fortführungsmuster, etwa zwischen Strategiekomplexität und Strukturkomplexität. Hier haben beide Komplexitäten dasselbe Vorzeichen, was zu komplexitätsverstärkenden oder komplexitätsverringernden Zusammenhängen führen kann. Kompensationsmuster beruhen hingegen auf bidirektionalen Zusammenhängen, die beispielsweise durch Mehr-weniger- oder Wenig-Mehr-Zusammenhänge geprägt sind: Man denke etwa an das Verkehrsaufkommen von Straße und von Schiene in einem multimodalen Verkehrssystem. Vor dem Hintergrund dieser kompensatorischen Verbundbeziehungen wird die verbreitete und durchaus plausible Annahme unhaltbar, dass ein System insgesamt so komplex ist wie sein komplexestes Subsystem.

      Der Komplexitätsnexus äußert sich nicht nur in zweistufigen, sondern auch in mehrstufigen Interdimensionen- und Interdomänenverbindungen. Eine plausible mehrstufige Proliferation über die vier Komplexitätsdimensionen der Teamarbeit vollzieht sich über die Etappen reduzierte Gruppengröße, weniger Meinungsvielfalt, mehr Identität und weniger Mitgliederfluktuation. Mehrstufige Interdomänen-Verbindungen sind charakteristisch für Lieferketten. Grundsätzlich ist dabei zu beachten, dass alle empirischen Aussagen zu den Verbundbeziehungen unsicher sind, eine weitere Facette von Metakomplexität. So lässt sich anhand des jeweiligen Wissenstands nicht eindeutig klären, ob dasselbe Ausmaß an Vieldeutigkeit (Unsicherheit) beispielsweise mit niedriger Dynamik (z. B. lineare stetige Entwicklung) oder mit hoher Dynamik (z. B. Oszillationen, Brüche, Sprünge, Bifurkationen) einhergeht.

      1.2.5.2 Komponenten-Verbund

      Aus theoretischen und mehr noch aus gestaltungsorientierten Überlegungen bildet die Kongruenz (Ausgewogenheit) die relevanteste Beziehung zwischen Komplexitätsbedarf und Komplexitätspotenzial (image Kap. 1.4.3). Die Relevanz dieser Ausgewogenheit belegt nicht zuletzt das Ashby-Gesetz der erforderlichen Varietät zwischen den Umsystemanforderungen und den Systempotenzialen.

      Komplexitätsorientierte Manager müssen bei ihren Bemühungen um eine Komplexitätskongruenz berücksichtigen, ob und wie sich die beiden Komplexitätskomponenten gegenseitig beeinflussen, was direkt oder vermittelt über Mediatorvariablen geschehen kann. Ein Problembewusstsein für die Existenz solcher emergenter Verbundbeziehungen ergibt sich beispielsweise aus sogenannten Memory-Effekten bei technischen Geräten. Sie verdeutlichen, dass etwa der Ladeumfang (Potenzial) von Akkus sich beim aktuellen Ladevorgang an früheren Ladeumfängen (Bedarfen) orientiert. Die folgenden Beispiele zum Verbund zwischen den beiden Komponenten der Komplexität lassen sich in vier Gruppen sortieren:

      • Komplexitätsbedarf verkleinert Komplexitätspotenzial: Hier sorgt beispielsweise in fragilen Systemen ein durch Stress, Hektik, Zeitdruck, ruinösen Wettbewerb, Wechselbäder und Vermeidung-Vermeidung-Konflikte steigender Komplexitätsbedarf für eine Degeneration des Komplexitätspotenzials infolge von Panik. Diese verhindert die die Anwendung von adäquaten Coping-Strategien und lässt bestenfalls Raum für einfache Heuristiken. Analog besagt das Gesetz von Parkinson, dass (sogar leichte) Aufgaben das zur Verfügung stehende Zeitpotenzial aller Mitarbeiter vollständig ausfüllen.

      • Komplexitätsbedarf vergrößert Komplexitätspotenzial: Die häufige Wiederholung (Repetitivität) von Leistungserstellungsprozessen führt via Übungseffekte (Lernkurveneffekte) zu Potenzialverbesserungen. In ähnlicher Weise kann eine Arbeitsanreicherung (Job Enrichment) die Vielseitigkeit der Stelleninhaber verbessern. Ferner vergrößert eine heterogen-komplexe Team-Konfiguration das Kreativitäts- und Problemlösungspotenzial des Teams. In ähnlicher Weise verursacht ein ungleichmäßig verteilter Bedarf, etwa Belastungsspitzen bei der Stromversorgung im Tagesablauf, den Aufbau von Überkapazitäten. Ebenso erhöht eine Impfung durch den Aufbau von Antikörpern die Widerstandkraft eines Organismus. Auf einer ähnlichen Logik bauen die Modelle der Antifragilität auf, wo Stress, Hektik und Zeitdruck anders als bei fragilen Systemen zu einer Potenzialverbesserung führen. Bei produktiven Konflikten wird beispielsweise die Kreativität der Konfliktparteien (Mediatorvariable) gefördert, die zur Anwendung von integrativen Verhandlungsstrategien führt und eine Konflikteskalation vermeidet (image Kap. 2.3.1).

      • Komplexitätspotenzial vergrößert Komplexitätsbedarf: Versicherungen und Sicherheitssysteme (z. B. Airbags) provozieren unachtsame Verhaltensweisen, die beispielsweise in eine Verschärfung von Unfallrisiken und Konflikten münden können, z. B. im Fall von Rechtschutzversicherungen. Analog verleitet der Besitz von Waffen zu aggressivem Verhalten, wodurch die Intensität von Konflikten erhöht wird. Ferner verursacht die extensive Behandlung mit Antibiotika eine Resistenz von Bakterien.

      • Komplexitätspotenzial verkleinert Komplexitätsbedarf: Achtsamkeit, Rückzugsverhalten und Vorsicht verringern die Wahrscheinlichkeit, von bestimmten Risikotypen (antizipierten Komplexitätslasten) betroffen zu sein.

      Ergänzend zu den skizzierten Varianten des Verbund zwischen den beiden Komplexitätskomponenten muss auch der Intrakomponenten-Nexus berücksichtigt werden, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen: Ein Intrapotenzial-Verbund kann bei neutralen Drittparteien auftreten: Deren Unbefangenheit und Unparteilichkeit (komplexitätsfokussierte Potenzialeigenschaften) werden umso mehr eingeschränkt, je besser sich diese Akteure vernetzen können. Ebenfalls im Konfliktmanagement liegt ein positiver Potenzialverbund zwischen den integrativen Konfliktmanagement-Strategien einerseits und der Verteilungsmasse (Pie) als Verteilungspotenzial einer Konfliktlösung vor, weil diese Strategien die Verteilungsmasse vergrößern können: Die übliche Annahme, dass die Verteilungsmasse über den Konfliktlösungsprozess hinweg unverändert bleibt, erweist sich also als Mythos (Lui / Liu/ Zhan 2016). Das gilt analog auch für Strategien der Coopetition, die das Marktvolumen vergrößern, welches irrtümlicherweise als konstant angesehen wird (Miklis 2004; Walley 2007; Langen 2010; Wilhelm 2011). Ein für die Ermittlung der Kongruenz von Komplexitätsbedarf und Komplexitätspotenzial relevanter Intrabedarfs-Verbund liegt etwa vor, wenn ein Beratungsunternehmen Aufträge von zwei Klienten erhält, die zueinander in einem Konkurrenzverhältnis stehen. Hierdurch entsteht ein beratungsinterner Separierungsbedarf, weil sich nur so Interessenkonflikte


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