Komplexitätsmanagement. Michael Reiss

Komplexitätsmanagement - Michael Reiss


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und Rückzahlung), außerordentliche Aufwendungen und Erträge, Sondereinflüsse, Auffälligkeiten sowie Ausnahmeentscheidungen, z. B. Ministerentscheidungen oder Begnadigungen.

      Einige Abweichungen schaffen nicht nur Komplexitätsbedarfe, sondern auch Komplexitätspotenziale. So sorgen beispielsweise die Preisdifferenzierung, das typisierte Bauen oder die personalisierte Medizin für ein Flexibilitätspotenzial. Eine untypische riskante Vorleistung (z. B. die den Geschäftspartnern gewährte Einsichtnahme in Daten des Rechnungswesens) hat eine vertrauensbildende Wirkung.

      Eine extreme Spielart von Vielfalt bilden Ausnahmephänomene. Man denke an Ausreißer, Exoten, Fat Cats in der Vergütungsstatistik, Neobiotika (gebietsfremde Fauna und Flora), Pandemien, obere und untere Perzentile in einer Normalverteilung, Notfälle (im Gesundheitswesen), Inversionswetter, Sonderwirtschaftszonen, kommissarische Leitung, Black Friday im Einzelhandel, Bursts (Spitzen) in Zeitreihen (z. B. Häufigkeit der medialen Behandlung von Hype-Themen), das Dezember- bzw. Novemberfieber, sogenannte »Never Events« (großer Schaden, geringe Wahrscheinlichkeit), Einträge im Guiness Buch der Rekorde, schwarze Schwäne, El Niño, Wunderkinder oder Nachfragespitzen in Absatzzeitreihen, z. B. im Gefolge von Abwrackprämien. Ausnahmen sind zudem das Resultat von Zweckentfremdung (Exaptation), etwa die Umnutzung von Medikamenten, der Einsatz von Baseballschlägern und Fahrzeugen als Waffen, die gewerbliche Nutzung von Wohnraum, die Verwendung von Messe- oder Turnhallen als Übernachtungsmöglichkeit für Katastrophenopfer oder von Handys als Taschenlampen.

      Unausgewogenheit begegnet uns z. B. in Gestalt von schiefen Häufigkeitsverteilungen, der Konzentration der Vermögensverteilung (z. B. weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung besitzen mehr als 40 Prozent des weltweiten Vermögens) oder unausgewogenen Kostenstrukturen: So zeichnen sich beispielsweise die Kostenstrukturen von digitalen Medienprodukten (z. B. Computerspielen) durch einen sehr niedrigen Anteil von variablen Kosten aus, weshalb hier von »grenzkostenloser Produktion« gesprochen wird. In Server-Client-Systemen mit »Thin Clients« ist die Kostenstruktur beispielsweise durch hohe Gemeinkostenanteile geprägt.

      Zahlreiche Erscheinungsformen von Vielfalt gehen auf das Konto der Gegensätzlichkeit von zwei gleichzeitig auftretenden Elementen. Im Zentrum stehen dabei etwa Spannungen in Entscheidungssituationen (Knight/ Paroutis 2017; Karhu/ Ritala 2020), Konflikte, z. B. Standards Wars (»Android versus iOS«), Normengegensätze, z. B. IFRS versus HGB und die Ranglisten unterschiedlicher Boxverbände. Gegensätzlichkeit kennzeichnet ferner den Rassismus, antagonistische Steuerungssysteme, z. B. Gehirnhälften, Gewaltenteilung, Ich, Es und Über-Ich, Sympathikus und Parasympathikus, Contre Rôle-Philosophie des Controllings und die Dialektik, z. B. die Advocatus Diaboli-Methode. Im Katalog der Unverträglichkeiten finden sich außerdem strategische Misfits (z. B. Diversifikationsstrategie in Verbindung mit einer Funktionalorganisation), Unverträglichkeiten zwischen mehreren Medikamenten, Kannibalisierung von Geschäftsfeldern, Widerlegung (Diskrepanz von Hypothese und Evidenz), kognitive Dissonanzen und Disharmonien. Eine wichtige Quelle von Gegensätzlichkeit ist die Rollenhäufung: Sie kann zum einen für ein eher geringes Ausmaß an Gegensätzlichkeit sorgen, etwa im Fall eines Third Party Logistics Provider, der eigene Logistikdienste anbietet und darüber hinaus als Koordinator von Logistik-Subunternehmern agiert, ferner im Fall der Kombination von Händler- und Plattformbetreiber-Rolle, Reviewer und Reviewee in Peer-Review-Verfahren (z. B. Steuerberater) oder bei Selbstbedienung, Customer Self Payment oder Do It Yourself-Aktivitäten. Deutlich mehr Gegensätzlichkeit tritt bei hybriden Rollenkombinationen auf, etwa Anwaltsmediatoren oder bei der Polizei, wenn sie nicht nur als Ordnungshüter, sondern auch als Konfliktmanager bei gleichzeitig stattfindenden Demonstrationen und Gegendemonstrationen agieren soll. Gegensätzlichkeit kann auch Komplexitätspotenziale generieren, etwa in Gestalt von Augmented Reality, Mixed Reality oder sogenannten hybriden Sourcing-Systemen: Hier werden relationale Service Level Agreements mit Spot-Einkaufsverträgen kombiniert.

      Vieldeutigkeit: Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass Elemente alternativ auftreten. So ist jede Zufallsvariable insofern vieldeutig, als sie eine Menge von alternativen Realisierungen verkörpert, denen Wahrscheinlichkeiten zugeordnet sind. Das Konzept der Opportunitätskosten beispielsweise beruht definitionsgemäß auf zwei alternativen Verwendungen desselben Inputfaktors. Mitunter ist die Fixierung dessen, was als Alternativverwendung gelten soll, relativ willkürlich. Ungewissheit als eine Kategorie von Mehrdeutigkeit äußert sich in alternativen Erwartungen, Szenarien, eingeschränkter Prognostizierbarkeit, Unwägbarkeiten, dubiosen Forderungen (Ausfallrisiken, z. B. bei sogenannten Zombieunternehmen), Unzuverlässigkeit, freibleibenden (d. h. unverbindlichen) Angeboten, schwebenden Verfahren (»Pending«), Orientierungsproblemen, Verwirrung, Konfusion, z. B. Customer Confusion in Einzelhandelsverkaufsstätten (Garaus/ Wagner 2019) und statistischen Irrtumswahrscheinlichkeiten, wenn das Alternativenspektrum auf zwei Hypothesen (Null- und Alternativ-Hypothese) und zwei Aktionen (Annehmen/ Verwerfen) reduziert wird (Bankhofer/ Vogel 2008, S. 125 ff.).

      Intransparenz verhindert, dass bestimmte Sachverhalte eindeutig erkannt werden können (Albu/ Flyverbom 2019). Man denke etwa an fehlende Bilanzklarheit oder an die implizite Zustimmung durch Verzicht auf ein Opt-out im Unterschied zur explizit-transparenten Einwilligung durch ein Opt-in. Die intransparenten Sachverhalte werden als »verborgen«, »verdeckt« (z. B. verdeckte Arbeitslosigkeit oder verdeckte Auktionen, bei denen die Gebote nicht allseits bekannt sind), »latent« (z. B. latente Steuern), »still« (z. B. stille Selbstfinanzierung oder stille Reserven) oder »versteckt« (z. B. Hidden Intentions oder Hidden Costs) bezeichnet. Beim Datenschutz, der Geheimhaltung, der Desinformation und der Tarnung handelt es sich um Aktivitäten, mit denen bewusst eine Intransparenz geschaffen werden soll. Ebenfalls durch Intransparenz gekennzeichnet sind Anonymität (z. B. unterdrückte Telefonnummern), implizites Wissen (Tacit Knowledge), das weder verbalisiert noch formalisiert werden kann, der Einsatz von Bargeld, informelle Beziehungen (z. B. psychologische Verträge zur Loyalität zwischen Vertragsparteien), schlecht lesbare Handschriften, sogenannte latente, d. h. nicht beobachtbare Variablen (z. B. Stimmungen, Persönlichkeitseigenschaften, Altruismus), die nur über manifeste Variablen, Indikatoren (Proxies) oder Ersatzgrößen (z. B. Aussagen, Verhaltensweisen, Spendenvolumen) erfasst werden können, Rauschen bei Telefongesprächen, Phasenrauschen (»Jitter«) bei der Internet-Kommunikation sowie positive oder negative externe Effekte von individuellen Entscheidungen auf den Nutzen anderer Akteure. Diese sind nicht transparent in Verträgen geregelt und werden auch nicht in Marktpreisen erfasst.

      Intransparenz charakterisiert darüber hinaus den Einfluss einer sogenannten vierten Gewalt (Medien), der Rechtsprechung, wenn diese die Interpretationsspielräume in unzureichend konkretisierten Gesetzen kompensiert oder von Sachverständigen, die den Ausgang von Gerichtsverfahren beeinflussen. Digitale Interaktionen sind intransparent, solange man nicht weiß, ob sich hinter einem Akteur ein Mensch oder ein Roboter verbirgt. Sogenannte Wizard-of-Oz-Experimente sind intransparent, weil die menschlichen Probanden annehmen, mit einem KI-System zu kommunizieren, obwohl tatsächlich andere Menschen die Reaktionen dieses Systems steuern. Die Undurchsichtigkeit wird mitunter bildhaft beschrieben, etwa als Black Box, Kompetenzgerangel, graue Eminenzen, Gremiendschungel, Tafelgeschäfte, Insiderinformationen (nicht der Öffentlichkeit bekannt), Dark Pools (Handelsplattformen für Finanzprodukte außerhalb der Börsenaufsicht), Zaubertricks, Taschenspielertricks und Schleier, z. B. die Lagerhaltung als Schleier, der das Erkennen von Koordinationsdefiziten in Geschäftsprozessen behindert.

      Von Unklarheit spricht man, wenn eine eindeutige Spezifikation fehlt. Sie äußert sich beispielsweise in Interpretationsspielräumen, Zweifeln, einem Hinterfragen, der Indifferenz, kritischen Haltungen, »alternativen Fakten« oder einer Bibelexegese. Einige Zeitangaben, die die unterschiedlichen Zeitzonen ignorieren oder nicht zwischen 10 Uhr und 22 Uhr unterscheiden, führen zu Verwechslungen. Alternative Begriffsdefinitionen, etwa von »Institution«, »relevantem Markt«, »Wert« (Substanz-, Rest- oder Zeitwert, diskontierte Wertansätze), der sogenannten MENA-Region (Middle East & North Africa), »Kundenwert« (Wert für den Kunden oder Lifetime Value des Kunden) oder von »Drittparteien«, mit denen entweder Dienstleister für eine der originären Parteien oder integrative Dienstleister (z. B. Logistikdienstleister, Notare, Gerichte) für beide Parteien gemeint sein können. Für Unklarheit sorgen auch zusammengesetzte Muster, die die Abhängigkeiten zwischen zwei Variablen erfassen: Zu den klassischen Beispielen zählen geknickte Preis-Absatz-Funktionen,


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