Komplexitätsmanagement. Michael Reiss
wodurch Komplexität zu einem Misserfolgsfaktor wird. Andererseits wird auf die gute Komplexität in Form der Vorteile von Diversity, Wahlmöglichkeiten (z. B. sogenannte »Choice Riders« im Gegensatz zu »Captive Riders« im urbanen Straßenverkehr), Spielräumen oder produktiven Konflikten verwiesen und Komplexität damit als Erfolgsfaktor propagiert. Die Beschäftigung mit dem Konstrukt »Komplexität« hat trotz dieser Ambivalenz seit mehreren Jahrzehnten einen festen Platz in der Wissenschaft, der Beratung sowie der Alltags- und Managementpraxis. Darüber hinaus gibt es Anzeichen für eine stetig zunehmende Bedeutung. Um die komplexitätsfokussierten Zugänge sowohl denotativ als auch konnotativ richtig positionieren zu können, muss man zwischen einer inhaltsfokussierten und einer formal-komplexitätsfokussierten Modellierung von Sachverhalten unterscheiden. Inhaltlich geht es beispielsweise um die Schwierigkeit von Problemen und die zur Problemlösung benötigten Kompetenzen. Beim komplexitätsfokussierten Zugang geht es hingegen um quantitative Kapazitätsbedarfe, die Häufigkeit des Auftretens eines Problems, unscharfe oder intransparente Problembeschreibungen sowie um sich im Zeitablauf verändernde Problemstellungen sowie Problemlösungskapazitäten. Beide Modellierungsformen sind eng miteinander verknüpft. Verbreitet ist eine sukzessive Verknüpfung über die drei Etappen »inhaltsfokussiertes Ausgangsmodell«, »komplexitätsfokussiertes Modell« und »inhaltsfokussiertes Ergebnismodell«.
1.2 Komplexitätsterminologie
1.2.1 Architektur der Komplexität
»Multi«, »bi«, »poly«, »dual«, »mega«, »ko-« »mixed«, »blended«, »inter«, »cross«, »mehrdeutig«, »wechselseitig«, »fuzzy«, »agil«, »flexibel« oder »ad hoc« sind Beispiele aus einem umfangreichen Fundus von Begrifflichkeiten, die durchweg das Vorliegen von Komplexität signalisieren. Allerdings erzeugt diese Ubiquität diverse Mehrdeutigkeiten in der Semantik von komplexitätsfokussierten Modellen. So erweist sich beispielsweise das Dual Sourcing (Bereitstellung von Inputgütern durch zwei Lieferanten) als zweideutig: In einem additiven oder subsidiären Ergänzungsverhältnis können die beiden Lieferanten einerseits für eine sichere Bedarfsdeckung sorgen, etwa für Ausfallsicherheit z. B. via Second Sourcing. Andererseits kann ein kompetitives, substitutionales Dual Sourcing praktiziert werden, um Einstandspreise zu senken oder die Innovativität der Lieferanten zu fördern. Eine ähnliche Ambiguität charakterisiert die Strategie der Globalisierung: Sie steht einmal für mehr Vielfalt (Komplexität) auf weltweiten statt nur nationalen oder regionalen Märkten. Zum anderen meint Globalisierung eine geringe Komplexität durch die Versorgung des Weltmarkts mit Standardgütern, z. B. Treibstoffen, Standard-Software oder gastronomischen Dienstleistungen (»McDonaldisierung«). Ähnlich mehrdeutig wird unter Servitization einerseits die Ergänzung von Produkten durch produktbegleitende Services verstanden, also das Angebot hybrider Produkt-Service-Kombinationen, z. B. Gerät, Installation, Wartung und Entsorgung (Gao et al. 2009). Andererseits bezeichnet die Servitization in der Industrie die Ersetzung von Sachleistungen durch Dienstleistungen, etwa Mobilität statt Fahrzeuge oder Betreibermodelle statt Verkauf. Das mündet verallgemeinert in die XaaS-Formel »Everything as a Service« (Baines/ Bigdeli/ Bustinza 2017). Ebenso fehlt eine allseits akzeptierte Differenzierung zwischen dem Projektportfolio-Management und dem Multiprojekt-Management als zwei Erscheinungsformen eines komplexen Projektmanagements. Schließlich bedeutet »Chaos« im Alltagsverständnis eine nicht vorhersagbare Unordnung. Hingegen steht Chaos im wissenschaftlichen Verständnis für eine deterministische Ordnung (Gribbin 2004, S. 5). Ganz analog steht das Komplexitätsphänomen »Zufall« im Alltagsverständnis für ein nicht erklärbares Ereignis. In der Mathematik hingegen ist Zufall ein (mit Wahrscheinlichkeiten bewertetes) Ereignis als Ergebnis eines Zufallsprozesses.
Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen Unschärfe erwartet man von einer Komplexitätsterminologie relativ normierte Begriffssysteme, etwa nach dem Vorbild der Systemterminologie. Allerdings muss eine solche Terminologie der Metakomplexität Rechnung tragen. Deshalb darf man Komplexitätsterminologie auch nicht mit einem Glossar der Komplexität gleichsetzen: Die Begriffskonventionen können nicht auf ein »monolithisches« Komplexitätskonstrukt zurückgreifen. Vielmehr müssen sie die drei Komplexitätsfaktoren »Dimensionen«, »Domänen« und »Komponenten« und deren jeweilige Ausprägungen, die Komplexitätsbausteine, differenziert erfassen. Anders als bei anderen mehrdimensionalen Konstrukten gibt es keinen »Generalfaktor« der Komplexität, etwa nach dem Vorbild des g-Faktors bei der Intelligenz. Vielmehr muss jedes Komplexitätskonstrukt hinsichtlich Komplexitätskomponenten (Rolle: Wozu?), Komplexitätsdimensionen (Erscheinungsform: Wie?) und Komplexitätsdomänen (Lokalisation: Wo?) spezifiziert werden. Diese drei Spezifikationsfaktoren definieren ein Tensor-Modell der Komplexität. Die Anwendung dieser differenzierten Terminologie erfolgt in Beschreibungsmodellen, Erklärungsmodellen und Gestaltungsmodellen für Komplexitätsphänomene oder Komplexitätskonzepte. Dabei eignen sich einige der terminologischen Spezifikationsfaktoren auch als Erklärungsparameter (
Die folgenden Beispiele illustrieren das Tensor-Modell: So bezeichnet beispielsweise das Komplexitätskonzept »Public Private Partnership« ein Komplexitätspotenzial für Infrastrukturinvestitionen, das sich aus zwei Domänen zusammensetzt. Aufgrund deren Gegensätzlichkeit (z. B. gemeinwirtschaftliche versus erwerbswirtschaftliche Zielsetzungen) besitzen Public Private Partnerships einen Hybridcharakter. Die Matrixorganisation fungiert in der Organisationsdomäne als Potenzial zur Unterstützung komplexer Strategien. Sie geht mit einem gestiegenen Bedarf an Humanressourcen (Matrixmanager) und an Kapazitäten für die Konflikthandhabung einher. Infolge der unterschiedlich ausgeprägten Diversität in dieser Familie von Zweiliniensystemen fällt das Konfliktrisiko in einer Produkt-Regionen-Matrix vermutlich geringer aus als in einer Produkt-Funktionen-Matrix. Offensichtlich erschöpft sich das Tensor-Modell nicht in einer bloßen »Addition« der drei Komplexitätsfaktoren. Eine brauchbare Spezifikation der vorliegenden Komplexität gelingt nur durch eine komplementäre Erfassung unter Berücksichtigung des Verbunds zwischen und innerhalb der drei Komplexitätsfaktoren (
Dabei kann die Modellierung der Komplexitätsfaktoren, z. B. der Komplexitätsdimensionen wie etwa der Dynamik, sehr pauschal (z. B. »Turbulenz«) oder sehr präzise, etwa anhand des Volatilitätsindex VIX oder des Aktienindex S&P 500 an der Chicago Board Options Exchange vorgenommen werden. Ähnlich kann man die Komplexitätsdomänen sehr grob (z. B. Komplexität des generischen Umsystems) oder detaillierter modellieren, z. B. regionale Wettbewerber oder nationale Gesetzgebung aus dem spezifischen Umsystem. Mit anderen Worten wird der terminologische Spezifikationsgrad der drei Komplexitätsfaktoren unterschiedlich hoch ausfallen. Man muss dabei beachten, dass dieser Spezifikationsgrad nicht anhand eines einzigen Spezifikationsparameters, sondern mit Hilfe von insgesamt fünf verschiedenen Spezifikationsparametern ermittelt wird. Dies verdeutlicht einmal mehr die Metakomplexität des Komplexitätskonstrukts. Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, variiert der Spezifikationsgrad des Komplexitätstensors aus Dimensionen, Domänen und Komponenten auf fünf Spezifikationsparametern: Eine hochgradige Spezifikation ist vollständig, präzise, detailliert, nicht-konditional und individualisiert. Eine schwache Spezifikation – oft auch als »ill-defined« oder »schlecht strukturiert« (Simon 1962) charakterisiert – ist lückenhaft,