Komplexitätsmanagement. Michael Reiss
gegensätzlichen Bewertungen von Komplexität bewegen sich zwischen den beiden Polen der Faszination und der Konfusion. Faszination äußert sich in Geschäftsmodellen, deren Erfolg auf Komplexität beruht. Ebenfalls faszinierend sind Märkte als Koordinationsmechanismen, durch Überraschungen erzeugte Spannungserlebnisse oder die Anziehungskraft des Unbekannten und des Zufalls, beispielsweise in Form von Lotterien oder Wetten. Konfusion resultiert aus der Sichtweise von Komplexität als notwendiges Übel, Stressfaktor, als Quelle von Beliebigkeit, Orientierungslosigkeit und fehlender Identität. Dabei überwiegt die Negativbewertung, also z. B. die Gleichsetzung von Komplexität mit Verschwendung, Ballast, Übergröße, Überdosierung, Leerlauf und Wiederholungen. Die negative Bewertung schlägt sich beispielsweise nieder in Statements wie »Give me a one-handed economist: All other economists say, ›On the one hand … but on the other hand‹«. Das zweite Gesicht der Komplexität, also die »gute« Komplexität in Form von Vorteilen der Diversity (Artenvielfalt), Wahlmöglichkeiten, Spielräumen, Fortschritt, produktiven Konflikten und pragmatisch-pluralistischen Strategien, etwa zur alternativen Streitbeilegung (ADR) oder für »Beyond Mediation«-Ansätze, wird deutlich seltener erkannt.
Für das Management repräsentiert Komplexität folglich eine ambivalente Erfolgsdeterminante: Der Charakter eines positiv bewerteten Erfolgsfaktors kommt beispielsweise in folgenden Feststellungen zum Ausdruck: »Kleine Einheiten sind flexibel«, »interdisziplinär zusammengesetzte Teams sind kreativ«, »kleine und mittlere Unternehmen haben aufgrund der Größe (Anzahl von Mitarbeitern) einerseits Flexibilitätsvorteile, andererseits aber auch Größennachteile gegenüber Großunternehmen« oder »Kryptographie, d. h. die Verschlüsselung von Informationen, schafft Informationssicherheit«. Als negativ bewerteter Misserfolgsfaktor begegnet uns Komplexität in Gestalt von Überforderung (z. B. Informationsüberflutung), Überdosierung (»Overkill«), Earth Overshoot Day, Umständlichkeit (»viele Schleifen«), Unberechenbarkeit, Wechselhaftigkeit, Willkür, (negativen) Überraschungen, überhastetem Verhalten oder einer »babylonischen Sprachverwirrung«.
Am Beispiel der Selbstorganisation lässt sich illustrieren, dass das dominierende Schwarz-Weiß-Denken, d. h. einseitig positive oder negative Bewertungen, im Zusammenhang mit Komplexität inadäquat ist. Selbstorganisation ist einerseits eine Quelle von Lernen und kollaborativem Lösen von Problemen und Konflikten. Die Schattenseiten der Selbstorganisation werden durch Phänomene wie Non-Compliance, Diskriminierung, Schattenwirtschaft, Plagiate, Korruption, Managerial Entrenchment (Missbrauch von Unternehmensentscheidungen für persönliche Ziele der Entscheider), Moral Hazard, Bootlegging und Reaktanz beschrieben. Ansatzweise werden einige wenige Varianten der Selbstorganisation wie z. B. Schatten-IT (private Endgeräte der Mitarbeiter am Arbeitsplatz) oder Skunk Works (nicht autorisierte Projekte der Mitarbeiter) explizit als ambivalent beurteilt.
Der Komplexität wird man also nur durch eine differenzierte ausgewogene Bewertung gerecht. So muss die Bewertung von »Medienvielfalt« neben dem Chancenpotenzial von Multimedia (z. B. audiovisuelle Reichhaltigkeit, Videotelefonie, Second Screen) auch das inhärente Risiko von Medienbrüchen (zwischen digitalen Medien und Print-Medien) berücksichtigen. Auch in die Bewertung von Hybriden müssen sowohl die Vorteile von »Best of Both Worlds« als auch die Nachteile von »Stuck in the Middle« eingehen.
Vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz können Fehleinschätzungen der Performance eines komplexitätsfokussierten Managements nicht verwundern: Eine Überschätzung liegt vor, wenn man nach dem Motto »Komplexität im Griff = Problem im Griff« die Erreichung eines komplexitätsfokussierten Ziels als die erfolgskritische Determinante der Performance betrachtet, etwa für die Kostendämpfung im Gesundheitswesen oder das Rightsizing (kostenoptimale Größe) von Unternehmen: Da die Komplexität jedoch nicht die inhaltlichen Aspekte einer Performanceorientierung abdecken kann, eignet sich eine komplexitätsoptimale Größe bestenfalls als Näherungslösung oder Heuristik, die anhand von inhaltlichen Performance-Indikatoren verifiziert werden muss. So reduziert eine Verschlankung der Wertkette durch Eliminieren von Aktivitäten ohne Kundennutzen die Komplexität. Mit der Auswahl konkreter Aktivitäten wäre das Komplexitätsmanagement jedoch meist überfordert. Andererseits kann es zu einer Unterschätzung der Komplexitätsorientierung kommen, wenn man mit der Formel »einfach=kostengünstig« deren Vorteil ausschließlich in einer Verschlankung sieht. Tatsächlich lassen sich durch eine Orientierung an formalen Komplexitätszielen nicht nur die Kosten, sondern auch die Qualität einer Problemlösung beeinflussen, also z. B. Kreativität, Kundenzufriedenheit oder Umweltverträglichkeit. Der lediglich heuristische Lösungsbeitrag des komplexitätsfokussierten Managements hat im Umkehrschluss zur Folge, dass eine unbefriedigende Performance nicht eindeutig auf ein inadäquates Komplexitätsmanagement zurückgeführt werden kann.
Die Ermittlung des Stellenwerts eines komplexitätsfokussierten Managements sollte deshalb auf möglichst vollständigen Argumentenbilanzen beruhen. Dies lässt sich am Beispiel von komplexen Zweiliniensystemen, also der Verhaltenssteuerung durch zwei Führungskräften, etwa in der Verbandsführung (Präsident und Geschäftsführer von Verbänden), Führung politischer Parteien (geschlechtergemischte Doppelspitze), hinsichtlich elterlicher und schulischer Erziehung (Vater, Mutter, Lehrer), in Matrixorganisationen (Projektleiter und Abteilungsleiter), Führung von Arbeitsgruppen (Beliebtheitsführer und Tüchtigkeitsführer), bezüglich disziplinarischer und fachlicher Führung oder Verhörmethoden (Guter Bulle, böser Bulle) veranschaulichen: In einer komplexitätsfokussierten Sichtweise stellen alle aufgeführten Modelle unterschiedliche Varianten einer Plural Leadership (Endres/ Weibler 2019) dar. Für deren Eignungsbeurteilung existiert eine Fülle von Erfahrungen, etwa bezüglich typischer Synergien oder Konfliktpotenziale. Darauf aufbauend werden inhaltlich konkretisierte Aussagen über die Performance der einzelnen Interaktionskonstellationen erarbeitet. Analog ermöglicht eine komplexitätsfokussierte Abstraktion im Netzwerkmanagement beispielsweise die Identifikation von Netzwerkeffekten, die von der Anzahl, der Vielfalt, den Rollen und der Verweildauer der Netzwerkteilnehmer abhängen (Clement/ Schollmeyer 2009). Diese Erkenntnisse werden dann in Initiativen zur Rekrutierung von Netzwerkmitgliedern übertragen, beispielsweise in die Akquise von Kunden über Preisvergünstigungen bei neu eingeführten Produkten. In ähnlicher Manier sensibilisiert die Kategorisierung eines Produktionssystems als »Massenproduktion« für erzielbare Economies of Scale. Analog lassen sich Erkenntnisse zu industriellen Commodities auf die Industrialisierung von Dienstleistungen (sogenannte McDonaldisierung) übertragen.
Die Beschäftigung mit dem Konstrukt »Komplexität« hat (trotz oder wegen) der ausführlich dargestellten Ambivalenz seit mehreren Jahrzehnten einen festen Platz sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis. Darüber hinaus gibt es Anzeichen für eine stetig zunehmende Bedeutung. Diese komplexitätsfokussierten Trends steigern den Stellenwert, ohne aus dem Management von Komplexität einen kurzlebigen Management-Hype zu machen. Der sich bereits in den Einführungsüberlegungen abzeichnende Relevanzzuwachs betrifft sowohl die Komplexität von Problemstellungen als auch von Lösungsansätzen. Mit anderen Worten resultiert der zunehmende Stellenwert sowohl aus einer Erhöhung des Komplexitätsniveaus als auch aus intensivierten Bemühungen um ein Management dieser Herausforderungen, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen: Im globalen politischen Umfeld wird die bipolare Welt durch eine multipolare Welt abgelöst. Immer häufiger ersetzen Multiparteien-Koalitionen die herkömmlichen Ein- oder Zweiparteienkonstellationen bei der Regierungsbildung. Das klassische auf »den« Kunden fokussierte Absatzmarketing geht immer häufiger in ein komplexes Marketing auf zweiseitigen oder mehrseitigen Märkten über. Gleichermaßen ist es erforderlich, die Strategien für grenzüberschreitende Geschäftsaktivitäten in internationale, globale, multinationale und transnationale Strategien zu differenzieren, je nachdem, ob dadurch Lokalisierungsvorteile, Globalisierungsvorteile oder beide Vorteile angestrebt werden (Wagner/ Menske-Petermann 2006). Karrierewege werden zunehmend diversifiziert, z. B. in einer Fach-, Führungs- und Projektlaufbahn. Das Einsatzgebiet des Portfolio-Managements wird ausgehend von finanziellen Anlagen auf zahlreiche andere Domänen wie Geschäftsfelder, Allianzen, Energieformen oder Projekte ausgeweitet. Im Risikomanagement wird häufig mit Mehrsäulenmodellen operiert: Im Basel II-Abkommen zur risikofokussierten Bankenregulierung erfolgt das etwa mit den drei Säulen »Mindesteigenkapitalanforderungen«, »Bankaufsichtsprozesse« und »erweiterte Offenlegung«. Auch die Kommunikationswege im Unternehmen werden stärker differenziert. Dies geschieht nicht nur nach Medien,