Komplexitätsmanagement. Michael Reiss
»Infomotion«, »Edutainment«, also Verknüpfungen von Informationen, Bildung und Emotionen), dynamische nichtlineare Systeme, Change Management, deskriptive Statistik (Massenphänomene), Konfliktmanagement, Innovationsmanagement, Wahrscheinlichkeitstheorie, Katastrophen- und Chaostheorie, dissipative und non-ergodische Strukturen sowie Fuzzy-Set-Theorie und -Management.
Einen oberflächlichen numerischen Nachweis dafür, wie allgegenwärtig die Beschäftigung mit Komplexität ist, liefern die Trefferzahlen in Suchmaschinen, für »Complexity« etwa mehr als 170.000.000. Weniger oberflächlich sind die Zusammenstellungen von Komplexitätskonstrukten im Alltag und in der Ökonomie. Aus den eingangs skizzierten Beispielen kann man ablesen, dass es unter den Komplexitätskonstrukten neben den emergenten Komplexitätsphänomenen (z. B. Vergessen, Verdrängen, Amnesie, Trends, Tendenzen, Überraschungen, Zweifel) auch »gemachte« Komplexitätskonzepte (z. B. Normierung, E-Mail-Bombing, Reizüberflutung, Tarnung, Pseudonyme, Geheimdiplomatie, Amnestie, Verjährung, Rücklagen, Sarkasmus) gibt. Sie sind das Ergebnis einer zielgerichteten Gestaltung, sprich eines Managements von Komplexität. Auf der umfangreichen Liste von Alltagskonzepten des zielorientierten Umgangs mit Komplexität finden sich beispielsweise Redundanzen (»Geldbeträge in Worten und in Ziffern spezifizieren«, »zweifache Eingabe von Passwörtern«, »Schlüssel zweimal herumdrehen«), mehrfache Authentifizierung (z. B. Passwort, Fingerabdruck, Bestätigungscode, Security-Token, Zwei-Faktor-Authentisierung) oder das Nato-Alphabet.
Ferner ist es nicht verwunderlich, dass alle Erscheinungsformen von Idealen und Utopien, etwa in Gestalt des Universalgelehrten, Superman, idealen Teams oder Arbeitgebers, aufgrund der charakteristischen Kumulation zahlreicher erwünschter Eigenschaften komplex sind. So wird z. B. der ideale Mitarbeiter umgangssprachlich als »eierlegende Wollmilchsau« charakterisiert.
Häufig wird »komplex« als klassifikatorische Ja-Nein-Eigenschaft verwendet, etwa bei komplexen versus einfachen Produktprogrammen. Da jedoch tendenziell alles als »komplex« eingestuft werden kann, haben sich ordinale Verwendungen von Komplexität durchgesetzt: Sie erlauben eine Unterscheidung zwischen mehr oder weniger Komplexität, komparativ statisch also zwischen einer Steigerung (Anreicherung) oder einer Verringerung (Vereinfachung) von Komplexität gegenüber einer Bezugskonstellation, etwa einer Normalkomplexität oder einem Bezugszeitpunkt.
In statischer Betrachtung werden zwei, jeweils sehr umfangreiche Cluster von Phänomenen und Konzepten der Komplexität unterschieden: ein auf wenig Komplexität und ein auf viel Komplexität fokussiertes Cluster. Dies kann man anschaulich anhand von gegensätzlich konfigurierten Begriffspaarungen illustrieren, etwa Dogmatismus versus Pluralismus, Assimilation versus Dissimilation (z. B. von Einstellungen), geschlossenes versus offenes Innovationsmanagement, explizites versus implizites Wissen, Integration (z. B. Inklusion) versus Segregation (z. B. Ghettoisierung, Rassentrennung, Trennung von Kirche und Staat), Entschleunigung versus Beschleunigung von Prozessen oder mechanistische versus organische Funktionsweise organisatorischer Gebilde.
Nicht alle Erscheinungsformen von »komplex« oder »einfach« werden durch genau diese Ausdrücke bezeichnet. Das verdeutlicht etwa das Stichwortverzeichnis eines Standardwerks der Organisationstheorie (Kieser/ Ebers 2014). Es enthält für »Komplexität« lediglich zwei Seitenangaben, obwohl Komplexitätskonstrukte praktisch auf allen Seiten des Werks behandelt werden. Für viele Erscheinungsformen von »komplex« oder »einfach« werden verwandte Begriffe verwendet. Nicht selten werden Begriffe, Wortbausteine oder Präfixe wie »vielfältig«, »bunt«, »Maxi«, »groß« (z. B. Großunternehmen im Unterschied zu KMU), »Mega« (z. B. Megaprojektmanagement, Flyvbjerg 2019), »multi«, »poly«, »entfernt«, »undurchsichtig«, »Ausnahme«, »paradox«, »spekulativ«, »unübersichtlich«, »voll« (z. B. Full Service, Thin- versus Fat-Clients), »offen«, »grenzenlos«, »grenzüberschreitend«, »unberechenbar«, »chaotisch«, »Sharing« (Teilen statt Besitzen, d. h. Fehlen von individuellen Verfügungsrechten), »sophisticated« oder »fuzzy« herangezogen, um hohe Komplexität abzubilden. Eine schwach ausgeprägte Komplexität wird hingegen beispielsweise durch Bezeichnungen wie »statisch«, »stationär«, »miniaturisiert« (z. B. Ultrabooks), »geordnet«, »geglättet«, »regelmäßig«, »geschlossen«, »klein« (z. B. kleine Lösungen, Smalltalk), »kurz« (SMS: Kurznachrichten, RSS: Really Simple Syndication, Tweets, Push Nachrichten) oder »Mikro« (z. B. Mikro-Finanzierung) ausgedrückt.
Das Gegensatzpaar »schwach versus stark« ist beispielsweise durch eine (allerdings mehrdeutige) Überschneidung mit der Differenzierung zwischen »einfach oder komplex« gekennzeichnet: So sind »schwache Signale« aufgrund ihres versteckten, mehrdeutigen, mutmaßlichen, unklaren oder unscharfen Charakters tatsächlich komplex. Im Gegensatz dazu gibt es keine Affinität zwischen sogenannten »schwachen oder starken Bindungen« (Weak versus Strong Ties) und »komplexen oder einfachen Bindungen«. Analog bedeutet »leicht« nicht immer »einfach«: »Light«-Versionen etwa die »GmbH light« oder auch »Mini-GmbH« (Unternehmergesellschaft mit beschränkter Haftung) repräsentieren in der Tat Vereinfachungen, etwa im Hinblick auf die Mindestanforderungen an das Eigenkapital von Start-ups. Im Gegensatz dazu steht »light« als Hinweis auf geringere Mengen an schädlichen Inhaltsstoffen wie z. B. Teer in Zigaretten oder Zucker in Getränken nicht für »Einfachheit«. Auch sogenannte »Kleine Welten« (Small-World Phenomenon) repräsentieren keine echten »einfachen« Welten: Auch wenn ein einzelner Akteur »einfach« nur eine Handvoll direkter Verbindungen benötigt, um weltweit vernetzt zu sein, erfordert die weltweite Vernetzung dieses Knotens ein komplexes Beziehungspotential, das nur die Gesamtheit aller weltweit verteilten Knoten bereitstellen kann.
1 Grundlagen des Komplexitätsmanagements
1.1 Komplexitätsfokussierte Modellierung
1.1.1 Spektrum von Komplexitätsmodellen
Die Beispiele in der Einführung belegen, dass es nicht »die« homogene monolithische Komplexität gibt, sondern mehrere Facetten und Varianten der Komplexität. Das macht den Komplexitätsansatz selbst – und nicht nur die eingangs skizzierten Erscheinungsformen in der Realität – zu einem komplexen Konstrukt. Sowohl die Klärung der beschreibenden Bedeutung von Komplexität (Denotation) als auch deren bewertende Bedeutung (Konnotation) stellen eine Herausforderung dar, weil Komplexität selbst durch eine Metakomplexität geprägt ist. Die komplexe Konnotation von Komplexität äußert sich in einer kontroversen Bewertung. So stellt beispielsweise das gesetzlich reglementierte Publikationsverhalten von Unternehmen für die Sender eine Komplexitätslast dar (z. B. jährliche Berichterstattung, Ad-hoc-Publizität). Für die Empfänger hingegen schafft es eine komplexitätsmindernde und vertrauensstiftende Transparenz. Das gilt analog auch für sogenannte Total Cost of Ownership-Modelle: Für den Hersteller komplizieren sie die Angebotskalkulation, fördern jedoch gleichzeitig die Angebotstransparenz für den Abnehmer.
Auch die deskriptive Modellierung eines Komplexitätsphänomens ist insofern komplex, als hierfür einzelne Komplexitätsmerkmale nicht ausreichen. Vielmehr müssen drei Kategorien von Faktoren dieser »Komplexität der Komplexität« oder »Metakomplexität« herangezogen werden:
• Komplexitätsdimensionen: Sie klären, wie Komplexität auftritt. Dies kann beispielsweise in Form von Masse, Widersprüchlichkeit oder Unvorhersagbarkeit geschehen.
• Komplexitätsdomänen: Diese informieren darüber, wo Komplexität auftritt, etwa in Gestalt von komplexen Elementen oder Relationen bzw. von unternehmensinterner oder -externer Komplexität.
• Komplexitätskomponenten: Sie bestimmen, ob Komplexität die Funktion eines Lastfaktors (z. B. Informationsflut) oder eines Leistungsfaktors (z. B. Speicherkapazität) erfüllt.
Streng genommen muss man also bei jeder Verwendung von »Komplexität« drei Angaben machen. Ein solcher »Komplexitätstensor« klärt beispielsweise im Fall des »Euro«, dass durch diese Währung die belastende Vielfalt (Komplexitätsdimension) von Währungen im Euroraum (Domäne) durch eine Einheitswährung (Funktion) reduziert wird.
Zudem umfasst das Spektrum von Komplexitätsansätzen neben subjektiven Phänomenen (»Perceived Complexity«, »gefühlte« Komplexität, z. B. der Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International) auch