Komplexitätsmanagement. Michael Reiss
als einer Sparte des Komplexitätsmanagements vertraut: Dort operiert man mit Einstellungen zum Risiko (z. B. Risikoaversion) oder mit der Einschätzung der Sicherheit (z. B. Bayesscher Wahrscheinlichkeitsbegriff) als subjektiven Bausteinen. Die objektiven Erscheinungsformen verdanken ihren Status einer wissenschaftlichen Analyse oder einem sozialen Konsens. Im Risikomanagement schlägt sich diese Differenzierung in einer Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Wahrscheinlichkeiten zur Messung von Unsicherheit als einer Facette von Komplexität nieder.
Aus der Perspektive des Managements von Komplexität unterscheiden sich die skizzierten Beispiele auch bezüglich der Komplexität des Managements, gemessen anhand der Eingriffsintensität durch Manager: Hier gibt es einerseits Erscheinungsformen einer gewachsenen Komplexität, etwa das Bevölkerungswachstum, die Polarisierung von Gesellschaften oder Extremwetterlagen. Diese Komplexitätsphänomene sind nicht das Resultat von komplexitätsorientierten Interventionen. Vielmehr stellen sie Bedingungen für ein Komplexitätsmanagement dar. Die Palette der Modelle emergenter Komplexitätsphänomene enthält beispielsweise Koevolution, begrenzte Rationalität (infolge von Restriktionen in den kognitiven Infrastrukturen von Menschen), ökologische Rationalität (heuristische Nutzung von Orientierungsdaten im Umsystem), Pfadabhängigkeit, das Transitivitätsprinzip (»Feinde meiner Freunde sind auch meine Feinde«), die Regression zur Mitte (in der Statistik), die Tendenz zur Mitte (bei der Datenerhebung via Befragungen), die virale Verbreitung von Krankheiten und Informationen, etwa Gerüchte oder Mundpropaganda, Faustregeln (»Die Wahrheit liegt in der Mitte«), »Frozen Accidents« (Zufallsereignisse determinieren die langfristige Entwicklung von Systemen), Perkolation (Ausbreitung von Konflikten und Epidemien), Kettenreaktionen, Domino-Effekte (Vielzahl von Betroffenen), Chunking, Framing, Stereotypen, Antifragilität (Bendell 2014), das Gesetz von Brooks, das Einfachheitsparadox, kalte Progression, schleichender Funktionszuwachs (Scope Creep: die unkontrollierte Ausdehnung des Leistungsumfangs eines Projekts bzw. der Anforderungen an die Projektoutputs) und der Second-System Effekt (Nachfolger-Modelle von erfolgreichen Vorgänger-Versionen werden überdimensioniert). Hinzu kommen Varianten unbeabsichtigter Folgen, Paradoxien sowie Trends und Hypes. Tatsächlich befassen sich Modelle emergenter Komplexität sehr oft mit Irrationalität, Dysfunktionalitäten, Fehlfunktionen und Paradoxien, z. B. mit Amnesie, Kannibalisierung zwischen Geschäftsfeldern, dem Umgang mit kognitiver Dissonanz, mit mentalen Verzerrungen (»Biases«, Caputo 2013), mit neurotischen Abwehrmechanismen, bipolaren Störungen oder der Adverse Selection.
Die skizzierten Komplexitätsphänomene unterscheiden sich graduell, mitunter auch radikal von den Erscheinungsformen der gemachten Komplexität, beispielsweise Quotenregelungen und Strategien der Desinformation oder Standardisierung. Diese Komplexitätskonzepte sind das Ergebnis einer intendierten Komplexitätssteigerung oder Komplexitätsverringerung auf der Suche nach einer »optimalen« Komplexität. Sie basieren auf Ziel-Mittel-Modellen der Standardisierung, Commoditisierung, Industrialisierung von Service-Geschäftsmodellen, dem Einsatz von Carry-over-Parts, der Eliminierung (z. B. negativer Aspekte), Glättung, Mittelung, Linearisierung, Beschleunigung, des Versteckens, Tarnens oder des Postponement, etwa der späten Komplettierung einer Computer-Auslieferung mit Software, Netzkabeln oder Manuals (Zinn 2019). Darüber hinaus zielen z. B. einige komplexitätsbasierte Cyber-Angriffe wie E-Mail-Bombardierung darauf ab, die Kapazität von Servern zu überfordern. Bei der Preisgestaltung kann man mehr Transparenz (d. h. weniger Komplexität für die Zielgruppe) durch eine sogenannte partitionierte Preisgestaltung erreichen, weniger Transparenz (d. h. mehr Komplexität) hingegen durch Drip-Pricing (z. B. Sternchen-Preise).
Nicht nur bei der Komplexität, auch beim Management von Komplexität firmiert nicht jede komplexitätsfokussierte Erscheinungsform von Management explizit unter »Komplexitätsmanagement«. So handelt es sich auch beim Innovationsmanagement, Risk Management, Internationalen Management, der Konstruktion von Hybriden (z. B. hybride Wettbewerbsstrategien, Lernmethoden, Pflanzen, Materialien, Fahrzeuge), Change Management und Konfliktmanagement insofern um Teilgebiete des Komplexitätsmanagements, als diese sich jeweils auf eine spezielle Dimension der Komplexität fokussieren.
1.1.2 Standort von Komplexitätsmodellen
Der Komplexitätsansatz beruht auf einer Differenzierung zwischen der inhaltsfokussierten Modellierung von Sachverhalten einerseits und der formal-komplexitätsfokussierten Modellierung andererseits. Die inhaltsfokussierte Modellierung eines Unternehmens erfolgt beispielsweise anhand von spezifischen Merkmalen wie Marken, Rechtsform, Belegschaft, Unternehmenskultur und Vergütungsformen. Ein zentraler Bestandteil der inhaltsfokussierten Modellierung ist darüber hinaus die Festlegung von Ziel- und Performancegrößen, etwa angestrebter Gewinn, Kundennutzen oder Nachhaltigkeit (Hamann et al. 2013). Vor allem die Systemtheorie hat uns mit der formalen Modellierung vertraut gemacht: Dort basiert ein formales Bild von einem Unternehmen auf generischen Merkmalen wie Elemente und Relationen, Tendenzen zu Gleichgewichten (aufgrund der Existenz von »Attraktoren«) sowie auf Mehrebenen-Architekturen aus Supersystem, System und Subsystemen. Noch deutlicher komplexitätsfokussiert ist die Gegenüberstellung von mechanistischer und organischer Funktionsweise von Unternehmen (Reiss 2013, S. 21). Hier greift man auf Komplexitätsmerkmale wie Zahl der Hierarchie-Ebenen, Größe von Organisationseinheiten, Standardisierungsgrad, Formalisierungsgrad und Interaktionsintensität zurück.
Folgende Beispiele dienen der anschaulichen Gegenüberstellung von inhalts- und komplexitätsfokussierter Modellierung: Die Verfahren der Arbeitsbewertung sind insofern komplexitätsfokussiert, als sie inhaltlich sehr unterschiedliche Tätigkeiten anhand eines einheitlichen Katalogs von generischen Anforderungen beurteilen. Hierbei handelt es sich um generische Konstrukte und Begrifflichkeiten, die einheitlich auf beliebige Bereiche angewendet werden können und auf diesem Weg eine Vergleichbarkeit der Modelle sicherstellen. Rankings wie beispielsweise die Forbes Liste, Fortune 500 oder ABC-Analysen basieren auf inhaltlichen Kriterien (z. B. Vermögen, Umsätze). Aus komplexitätsfokussierter Sicht gilt das Interesse lediglich dem Skalenniveau der zugrundeliegenden Messskalen oder der Anzahl der aufgenommenen Rankingobjekte. »Lernen« ist aus komplexitätsfokussierter Sicht eine Veränderung im Verhaltensrepertoire oder Wissensbestand, berücksichtigt jedoch nicht die konkreten Lerninhalte. Sogenannte Rebound-Effekte erfassen die Tatsache, dass beispielsweise Energie, die effizienter produziert und billiger angeboten wird, zu einer erhöhten Nachfrage und Nutzung führt, wodurch der angestrebte Einsparungseffekt nicht zustande kommt. Die inhaltsfokussierte Modellierung deckt hierbei die technische Effizienzsteigerung und die umweltschädliche Preiselastizität der Nachfrage ab. Die komplexitätsfokussierte Modellierung informiert lediglich über die Diversität des Nachfrageverhaltens, d. h. ob die Einsparungen für einen Mehrkonsum derselben Energieform (direkter Rebound) oder anderer Güter (indirekter Rebound) verwendet werden. Darüber hinaus lässt sich aus der Komplexitätsperspektive der unerwartete und paradoxe Zusammenhang zwischen einem umweltfreundlichen Angebotsverhalten und einem umweltschädlichen Nachfrageverhalten diagnostizieren.
Sogenannte Cafeteria-Systeme im Anreizmanagement werden inhaltsfokussiert durch die jeweiligen Anreizbausteine gekennzeichnet, etwa Einkommen jetzt oder später als Rente (Deferred Compensation) bzw. mehr Entgelt oder mehr Freizeit. Aus der Komplexitätsperspektive interessiert lediglich das Flexibilitätspotenzial, d. h. die Wahlmöglichkeiten zwischen Anreizen innerhalb eines Gesamtbudgets von Anreizen, die es in weniger komplexen Anreizsystemen nicht gibt. Im Vordergrund einer komplexitätsfokussierten Competitor Intelligence steht beispielsweise die Berechenbarkeit des Wettbewerberverhaltens und weniger der Inhalt der jeweils praktizierten Wettbewerberstrategie, z. B. Kostenführerschaft oder Differenzierung. An Fixkosten interessiert den komplexitätsfokussierten Controller nicht die Kostenhöhe, sondern nur das atypische Verhalten der Kosten gegenüber sich verändernden Kosteneinflussgrößen. Im Mittelpunkt der Bewertung von Informationen steht inhaltlich der pragmatische Informationsgehalt (z. B. Entscheidungsrelevanz), bei der komplexitätsfokussierten Modellierung hingegen der semantische Informationsgehalt, etwa Aktualität, Präzision, Geltungsbereich und Eindeutigkeit.
Analog lassen sich Verkehrssysteme inhaltlich etwa anhand von Verkehrsmitteln, also Automobilen, Schiffen, Flugzeugen oder Drohnen modellieren. Die formal-komplexitätsfokussierte Charakterisierung erfolgt anhand der Vielfalt von Verkehrsmitteln (multimodaler Verkehr) oder deren hybrider Kombination (z. B. Kombiverkehr). Die Qualifikation