Komplexitätsmanagement. Michael Reiss

Komplexitätsmanagement - Michael Reiss


Скачать книгу
auf dem Komplexitätskonstrukt aus zwei Komplexitätskomponenten, werden den beiden Komplexitätsbedarfen »Diversität« und »Dynamik« zwei korrespondierende Komplexitätspotenziale zugeordnet: ein Integrationspotenzial zur Bewältigung der Additiv-Komplexität, also von großen Zahlen oder von Heterogenität sowie ein Flexibilitätspotenzial zur Bewältigung von Alternativ-Komplexität, sprich Unschärfe und Volatilität (Bernardes/ Hanna 2009; Farjoun 2010; Kapoor/ Klueter 2015; Pérez Pérez/ Serrano Bedia/López Fernández 2016; Reiss 2018a). »Integration« dient dabei als Sammelbegriff für Aktivitäten der Konfliktlösung, Herstellung von Interoperabilität, für das ganzheitliche Product Lifecycle Management und für die Schaffung von Synergie. »Flexibilität« steht für Ambiguitätstoleranz, Responsiveness, Anpassungsfähigkeit, Wandlungsfähigkeit, Change Readiness und Agilität. In der Organisationsdomäne korrespondiert die Additiv-Komplexität mit dem Komplexitätspotenzial mechanistisch funktionierender Organisationen (d. h. Disziplin, Maschinen-Modell eines Unternehmens, Kommando und Kontrolle), die Alternativ-Komplexität mit dem organischen Funktionieren, also Flexibilität und Anpassungsfähigkeit (z. B. Organismusmodell eines Unternehmens).

      Dieser kompakte zweidimensionale Ansatz ermöglicht auch eine Unterscheidung zwischen »einfacher« und »komplexer« Komplexität: Eine extrem komplexe Komplexitätsbelastung ergibt sich aus einer Kumulation von Diversität und Dynamik. Die parallele Koexistenz von additiver Komplexität (Diversität) und alternativer Komplexität (Dynamik) kennzeichnet die Hyperkomplexität (Jehle/ Hildebrandt/ Meister 2016; Reiss 2018a). Diese Herausforderung geht über die bloße Ausbreitung von Komplexität über die vier Dimensionen, z. B. die Ausbreitung von Volumen in Vielfalt, Vielfalt in Mehrdeutigkeit oder Mehrdeutigkeit in Volatilität hinaus (image Kap. 1.2.5.3). »Integrierte Flexibilität« oder »flexible Integration« bezeichnet das Komplexitätspotenzial zur Handhabung der Hyperkomplexität.

      Vor diesem Hintergrund sollte man bedenken, dass der Oberbegriff »Komplexität« zwei extrem unterschiedliche Arten von Komplexität beinhaltet. Diese Heterogenität lässt sich beispielsweise an zwei komplexitätsfokussierten Interpretationen von »Seltenheit« illustrieren: Zum einen steht »selten« für eine geringe Häufigkeit und damit geringe Additiv-Komplexität, etwa im Fall seltener Krankheiten oder seltener Erden. Zum anderen signalisiert »selten« eine kleine Wahrscheinlichkeit (z. B. des Auftretens schwarzer Schwäne, Hajikazemi et al. 2016) und damit eine hohe Alternativ-Komplexität, also Entropie als Maß der Überraschung durch ein unerwartetes Ereigniss. Analog repräsentieren Hierarchien einerseits eine Variante komplexer Organisationsstrukturen, weil sie infolge vieler und feinkörniger Regelungen eine hohe Additiv-Komplexität aufweisen. Andererseits sind nicht-hierarchische Organisationsformen (z. B. spontane Ordnungen) insofern alternativ-komplex, als sie auf sehr wenigen und interpretationsfähigen Regelungen beruhen, z. B. auf Öffnungsklauseln, unvollständigen Verträgen, »Punktuation«, Documents of Understanding, Absichtserklärungen und Delegation. Dieses inhärente Spannungsfeld unterscheidet Komplexität von anderen multidimensionalen Konstrukten wie z. B. Intelligenz, Macht oder Betriebsklima.

      Aufgrund der vielfältigen Zusammenhänge zwischen den vier Komplexitätsdimensionen (image Kap. 1.2.5.3) besteht die Komplexität jedoch nicht aus zwei stringent getrennten Inseln. Tatsächlich dienen die Verbindungen, z. B. in Form einer Komplexitätsausbreitung über die vier Dimensionen, als Brücken zwischen diesen Inseln. Beispielsweise verwendet man üblicherweise zwei gegensätzliche, aber verbundene Komplexitätsdimensionen zur Charakterisierung von Paradoxien oder Hybridkonstrukten: Zum einen die Vielfalt (»Fusion zweier Welten«, d. h. Sowohl-als-Auch-Charakterisierung), zum anderen die Mehrdeutigkeit (»Mangel an Identität«, d. h. Weder-noch-Charakterisierung).

      Auf der Seite der Komplexitätspotenziale lassen sich die beiden Potenzialkategorien folgendermaßen konkretisieren: Ein Integrationspotenzial besitzen beispielsweise Lebenszyklusmanagement-Ansätze, One Stop Shopping-Modelle (kurze Wege in Einkaufszentren) oder virtuelle Kraftwerke, das sind Cluster aus Dezentralen Erzeugungsanlagen (DEA). Ein Flexibilitätspotenzial wird z. B. durch Slack bereitgestellt, etwa in Gestalt von Puffern, Redundanzstationen, Ausweichterminen, Vertretungen oder Zweitbesetzungen, Nachtragshaushalten, Modellen der Barrierefreiheit sowie diversen »fluiden« Organisationsformen wie die zellulare, fraktale, I-Form-, Lattice-, Spaghetti- oder Freedom-Form-Organisation (Schreyögg/ Sydow 2010).

      Im Gegensatz zu der häufiger auftretenden Akkumulation von Diversität und Dynamik in der Bedarfskomponente besteht ein Risiko des Konflikts zwischen der gleichzeitigen Verfügbarkeit eines Integrationspotenzials für den Umgang mit Diversität und eines Flexibilitätspotenzials für den Umgang mit Turbulenzen. Vordergründig wird diese Gegensätzlichkeit durch die antithetischen Slogans »Big is beautiful!« (wegen des Integrationspotenzials) versus »Small is beautiful!« (wegen des Flexibilitätspotenzials) zum Ausdruck gebracht. Ein Problembewusstsein für das Spannungsverhältnis resultiert auch aus dem sogenannten organisatorischen Dilemma: Es besagt, dass eine heterogene Teamkonfiguration zwar Flexibilität fördert (z. B. kreative Problemlösungen), aber die Integration im Sinne einer Konsensfindung behindert. Ein ähnliches Spannungsverhältnis besteht zwischen Freiheit (Flexibilität) und Solidarität (Integration). In gleicher Weise unterstützt die unverbundene Diversifizierung (d. h. ein hohes Maß an Vielfalt in Form einer konglomeraten Diversifizierung) die Flexibilität, z. B. die Handhabung von Risiken. Sie erzeugt aber keine Synergien, d. h. Integrationsvorteile. Im Gegensatz dazu dient die verbundene Diversifikation als Synergiequelle, ist aber nicht in der Lage, das Risikomanagement zu unterstützen.

      Dass eine Lösung dieses Konflikts zwischen Integration und Flexibilität möglich ist, signalisiert vordergründig die Formel »Small within big is beautiful!«. Auch die Euro-Münzen bringen durch ihre Vor- bzw. Rückseiten eine »Einheit in der Vielheit« zum Ausdruck. Eine Vereinbarkeit kommt (in metaphorischer Darstellung) durch eine hybride »Flottenkonfiguration« aus schwerfälligen, aber integrativen Supertankern (Konzernzentrale) und beweglichen Schnellbooten (Spin-offs, Start-ups), ferner durch das arbeitsteilige Zusammenwirken von Sponsor-Einheiten und Venture-Einheiten im Innovationsmanagement oder von Corporate Center und Business Centern in der Konzernorganisation zustande (image Kap. 1.4.4.4). Ebenso unterstützen Hybridstrategien wie das Two-Part-Tariffs-Pricing oder die Mass Customization sowohl Integration (kostengünstige Herstellung von Standardmodulen) als auch Flexibilität, also die kundenspezifische Konfiguration von Modulen. Weiterhin beruht Portabilität, also die Übertragbarkeit von Betriebsrenten (Versorgungsanwartschaften), Urlaubsansprüchen, Rufnummern (bei Anbieterwechsel) oder Software und Anwendungen von Cloud zu Cloud auf einem kombinierten Flexibilitätspotenzial (Reaktion auf Kontextänderungen, z. B. Wechsel des Arbeitgebers) und Integrationspotenzial (Kompatibilität durch Schnittstellenstandards).

      1.2.4 Domänen der Komplexität

      Grundsätzlich kommen alle Bereiche der realen oder virtuellen Welten als Domänen der Komplexität in Betracht. Allerdings konzentrieren sich Bemühungen um die Lokalisation von Komplexität auf Kulminationspunkte der Komplexität, etwa auf Überlastungen, soziale Brennpunkte (schwierige soziale Umfelder), Engpassbereiche, Konfliktherde, Mega-Kapazitäten, Phasen des Umbruchs oder auf ausgleichende Potenziale. Das Anliegen ist, auf einer komplexitätsfokussierten »Heatmap« die markanten Komplexitätslasten und Komplexitätspotenziale anhand von Größe, Vielfalt (oder Einheitlichkeit), Transparenz (oder Undurchsichtigkeit) und Trägheit (oder Instabilität) zu lokalisieren.

      Leider fehlen Standards (»Planquadrate« oder »Bits«), mit denen man allgemeingültig bestimmen könnte, wo eine Komplexitätsdomäne aufhört und eine andere Domäne anfängt. Vor diesem Hintergrund haben Domänenlandkarten den Charakter von unsystematischen Sammlungen aus Branchen, Regionen, ökonomischen Prozessen (Produktion und Transaktion), Kennzahlensystemen, Wissensdomänen (z. B. Know-how, Know-why), wissenschaftlichen Disziplinen


Скачать книгу