Pandemie. Группа авторов

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Kinn, auf dem grauen Wintermantel, den sie wegen der unerwarteten Wärme offen trug. Bernhard stutzte. Mitten im blonden Haar der Tochter fiel ihm eine breite dunkle Linie auf. Den Friseur würd ich ihr bezahlen, wenn einer geöffnet hätte. Kann ja noch Wochen dauern. Tobias trug sein rot kariertes Tuch ungeachtet der menschenleeren Straßen noch korrekt über Mund und Nase. Wie ein Cowboy, mit seinen strubbligen braunen Haaren. Oder wie ein altmodischer Bankräuber. Sein Großvater fuhr sich über die Glatze und lächelte. Draußen, unterhalb des Wohnzimmerfensters, standen die beiden auf den Betonplatten, die zur Haustür führten; irgendetwas diskutierten sie. Bernhard trat einen Schritt zurück in den Raum, denn die zwei sollten sich schließlich nicht beobachtet fühlen. Gerade blieben sie vor der Eingangstür stehen, denn Annette wühlte in ihrer Tasche. Lauschen musste Bernhard nicht, musste nicht die Ohren spitzen, er konnte ja gar nicht anders, als dem Gespräch der beiden zu folgen; warum auch nicht?

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      »Heute Abend … Ich glaub, du hast dabei vergessen, dass wir so etwas wie eine Ausgangssperre haben.« Annettes Stimme klang müde, aber noch geduldig.

      »Hab ich gar nicht; aber wir sind ja nicht draußen, sind ja im Haus bei Fabian.«

      »Weshalb willst du unbedingt heute zu ihm hin?« Die Tochter klang abgelenkt; sie kramte weiter in ihrer Tasche. Der Enkel zögerte mit der Antwort.

      Aha, dachte Bernhard, erst mal gibt sie sich kontrollierend, und sie fordert sogar was … aber eigentlich gibt sie schon nach. Innerlich. Drei, vier Sätze noch, und der Junge hat seine Erlaubnis. Bernhard sah hier ein vertrautes Muster. Täglich ärgerte ihn die Nachgiebigkeit seiner Tochter! Aus ihren Worten hörte er das heraus, was er als Weichheit wertete: Einknicken, nannte er so was, auch in Streitgesprächen mit der Tochter. Einknicken! Bernhard hielt es ihr vor, wenngleich er sie, in derselben Debatte, innerlich mehr in Schutz nahm als sie sich selbst, denn ihre Nachgiebigkeit führte er zurück auf die Lage einer alleinerziehenden Mutter, auf Schuldgefühle und all das … Dazu muss ich nicht Psychologie studiert haben, sagte sich Bernhard. Aber es ärgerte ihn doch jedes Mal, dies allzu Verständige, dies Butterweiche. »Haltung zeigen«, forderte er dann von der Tochter, »… klare Ansage – wie willst du dir bei Tobi sonst Respekt verschaffen? Und du selbst bist schließlich auch noch da, mit deinen Bedürfnissen, Menschenskind!«

      Unten vor der Tür verkündete Tobias es nun, laut und langsam, in feierlichem Ton: »Mama, Forgiddo XL kommt zu denen nach Hause!« Schweigen, während Schlüssel klimperten und die Mutter aufschloss.

      Bernhard hörte die beiden eintreten, zuerst die Mutter: »Soviel ich weiß, ist das Konzert von Forgiddo XL abgesagt, genau wie alle anderen in der Multihalle.« Als der Enkel antwortete, hallte seine Stimme unten im Flur, in begeistertem Ton:

      »Der hat aber unter seinen Fans, unter allen, die Tickets bestellt hatten, weißt du, unter allen hat er einen Hausbesuch verlost, für sie und fünf Freunde. Richtig mit Musik! Mini-Konzert. Jetzt rate mal, wer gewonnen hat!«

      »Kann ich unmöglich raten; es wird doch wohl nicht Fabian Stihler sein?«

      »Bingo!« Tobias jubelte. »Weil der geschrieben hatte, wir sechs von der Volleyballmannschaft würden zusammen dabei sein. Und Stihlers, die haben ein Riesenwohnzimmer. Das musste man nämlich auch genau schreiben. Die haben fünfzig Quadratmeter.«

      »Jetzt zieh dir erst mal die Schuhe aus.«

      »Knoten drin.«

      »Dann nimm dir jetzt mal die Zeit, um den aufzumachen.« Der Großvater hörte den Jungen stöhnen und das Plumpsen, als er sich auf die Treppenstufe setzte.

      »Weißt du, wenn ihr zu sechst seid, sind selbst fünfzig Quadratmeter nicht riesig; Abstand!!! … verstehst du?«

      »Aber hör mal, Forgiddo ist ein Weltstar. Der hat allein im letzten Jahr fast eine Million CDs verkauft, glaube ich, und dann die Klicks im Netz … du hast ja keine Ahnung!«

      Bernhard hörte, wie seine Tochter die Küchentür öffnete. Sie begann die Einkäufe auszupacken. Ihre Stimme klang dumpfer, aber schärfer im Ton: »Jetzt rechne mal. Ihr sechs Jungs, mit Stihlers seid ihr acht.«

      »Die hören doch keine Musik von Forgiddo, liebe Güte, Mama.«

      »Die werden aber dabei sein wollen, wenn so eine Weltgröße in ihrem Haus ist. Sind also acht. Und Geschwister hat Fabian inzwischen wohl nicht mehr?«

      »Nur Silke und Merle. Aber die sind jünger.«

      »Natürlich, mit zehn und mit zwölf Jahren« – sie räusperte sich – »geht man ja brav ins Bett, wenn ein Weltstar im Hause ist. Macht mit Forgiddo elf Leute. Spricht der Forgiddo eigentlich Deutsch?«

      »Nee, warum? Dafür ist doch der Dolmetscher da. Sonst kommt das ganz komisch, wenn wir im Video aneinander vorbeireden.«

      »Das wird aufgezeichnet?«

      »Klar doch, für YouTube, kannst du dir dann auch anschauen.«

      »Das werden ja immer mehr Leute! Wenn ich dich richtig verstehe, gibt’s auch ein bisschen Musik.«

      »Klar, so wie Karaoke. Er bringt eine Anlage mit. Und Chips und alles.«

      Bernhard hörte, wie seine Tochter die Kühlschranktür zuwarf.

      »Also, jetzt pass mal auf, Rechnen, erste Klasse: Sechs Jungs plus zwei Geschwister plus zwei Eltern plus ein Sänger mit Dolmetscher, wie viele sind das? Na? Schon mal zwölf … Ich fasse es nicht.«

      »Was denn jetzt? Ja oder nein?« Obacht, dachte Bernhard, Explosionsgefahr. Gleich wird’s laut.

      »Natürlich NEIN. Zwölf Leute in einem Wohnzimmer, mindestens zwölf! Ich denk mir noch einen für die Kamera dazu, vielleicht noch einen Techniker, soll auf YouTube ja gut klingen, gut rüberkommen … Ich fasse es nicht! Schon mal was gehört von Abstand halten, im Moment? Anderthalb Meter, besser zwei?« Bernhard war sich nicht sicher, ob Annette eher von der Arbeit erschöpft war, oder von Tobias’ Bitte gereizt; in jedem Fall war sie ziemlich laut geworden.

      »Die Stihlers machen das schon. Fünfzig Quadratmeter! Bitte, Mama.«

      So flehentlich hatte Bernhard den Enkel schon lange nicht bitten gehört. Manchmal hatte auch er als Kind so inständig gebeten, dies Gefühl kannte Bernhard; worum es ihm damals gegangen war, das wusste der Großvater nicht mehr, aber Herzensangelegenheiten waren es schon gewesen … der Junge tat ihm jedenfalls leid. Die Mutter auch, natürlich! Bernhard wartete darauf, dass seine Tochter nachgab, einknickte; wie, das lag für ihn auf der Hand: Fahren würde sie Tobias natürlich nicht – aber wenn der selbst einfach losginge, wenn er lief, rannte, radelte … »… tja«, würde sie seufzen, »ich kann den Jungen schließlich nicht festbinden …« Herrgott noch mal! Meine Tochter!

      In Wirklichkeit schwieg Annette.

      »Also, was denn jetzt? Mama!«

      »Ich fahr dich da nicht hin, garantiert nicht.«

      Aha, bemerkte Bernhard, Rückzug wie erwartet. Fahren zwar nicht, aber … Annette setzte nach: »Die Stihlers können sich Mühe geben wie sonst was. Aber fünf fremde Jungs? Drei eigene Kinder? Vor allem … was meinst du, wo der Forgiddo überall rumkommt, mit wem der wohl alles Hände geschüttelt hat, Bussi gegeben, umarmt? Kennst du etwa den Dolmetscher und die anderen Typen? Ich bin nicht mal sicher, ob Forgiddo selbst die kennt … kommen vielleicht von irgendeiner Agentur. Also: nein.«

      »Das ist nur, weil du Forgiddo nicht magst!«

      Er jedenfalls, soviel war für Bernhard klar, er mochte den Musiker nicht, den er von Plakaten kannte. Prolliger Angeber, aggressiv …, Bernhards Urteil stand fest, … aber darum geht’s Annette wohl nicht, dachte er. Auch ihn erschreckte die schiere Zahl: Zwölf Leute, mindestens, vielleicht vierzehn oder mehr, Leute, die dauernd selbst unter vielen Leuten sind. Unter Leuten, die infiziert sein können,


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