Himmel trifft Erde. Alina Pfeifer

Himmel trifft Erde - Alina Pfeifer


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dem Land muss man früher aufstehen, um in die Schule und zur Arbeit zu kommen. Zum Shoppen bleibt nicht ganz so viel Zeit wie in der Stadt, weil man eine halbe Stunde hin- und eine halbe Stunde zurückfährt. Aber dafür haben Dorfmenschen so viel, was Stadtmenschen nicht haben.

      Dorfmenschen grüßen sich, weil man sich kennt. Dorfmenschen gehen jeden Morgen ins gleiche Café und holen sich einen Kaffee, aber die Bedienung kennt schon den Wunsch des Käufers. Wir Dorfmenschen kennen richtigen Schnee. Dieses Knirschen unter den Sohlen, das Schlittenfahren, die Schneespaziergänge und die Frühlingsluft, den Duft der Blumen. Nicht so viele Abgase und nicht so viel stauende Hitze zwischen den Häusern im Sommer.

      Doch auf dem Dorf gibt es auch Chaos. Wenn es schneit, kann es passieren, dass man in höher gelegeneren Dörfern festsitzt und gezwungenermaßen eine Nacht woanders schlafen muss. Aber das ist mir egal, ich werde von der Sonne geweckt, höre die Vögel zwitschern. Und ich kenne ein Gefühl, dass Stadtmenschen nicht haben: die Angst vor Wildschweinen.

      Stadtmenschen ärgern gerne Dorfmen­schen, indem sie sagen, man lebe in einem Kuhkaff. Manchmal stimmt es, und ich würde gerne dem Duft des Kuhmistes ausweichen, aber alles hat seine guten und schlechten Seiten. Aber das Dorf hat mehr gute als schlechte. Auch wenn ich in Erdkunde manchmal das Gefühl habe, dass die Theorie der zentralen Orte knapp verfehlt wurde, ist es doch ganz schön, auf dem Dorf zu leben.

      Ich glaube, bei Stadt- und Dorfmenschen handelt es sich um zwei unterschiedliche Gruppen. Die Stadtmenschen sind ja bloß neidisch auf die Natur. Und wir Dorfmenschen vielleicht auf die Zentralität?

      Aber in einem stehen sich die beiden in nichts nach: beim Feiern. Bekannte aus Städten sagen immer, dass Dorfkinder wüssten, wie richtig gefeiert wird. Und ich feier es, dass ich ein Dorfkind bin. Auch wenn ich mein Dorf irgendwann vielleicht mal verlassen muss, um neue Eindrücke zu bekommen oder um zu studieren, und ein Stadtmensch werde, werde ich doch immer wissen, wo meine Heimat ist: auf dem Dorf. Denn ich bin stolz darauf, sagen zu können: »Ich bin ein Dorfkind!«

      Weltvoll

      Ich sitze hier oben und du da unten. Die Welt sieht so klein und mickrig aus, kaum vorstellbar, diese ganzen Probleme. Ich passe auf dich auf!

      Ich sitze hier unten und du da oben. Die Welt sieht so groß aus. Ich kann nur erahnen, wie sie ganz aussieht. Von hier aus kann ich nur bis zum nächsten Horizont sehen. Die Probleme erdrücken mich. Jeden Tag wünsch ich mir meine Kindheit zurück. Mein altes Glücklichsein, meine Unbeschwertheit, meine alten Freunde, meine Schaukel, ja, sogar meine offenen Knie wünsch ich mir zurück. Mama hat gepustet, und ich habe weitergemacht. Keine Angst vorm Fallen, Mama und Papa waren ja da. Meine Welt war wertvoll. Und jetzt?! Jetzt gibt es Probleme, Streit und gebrochene Herzen. Krieg, Leid, Trauer und den ganzen Scheiß.

      Ich will meine blutigen Knie zurück.

      Diese Welt soll wertvoll sein? Weltvoll. Die Welt ist voll. Viele Menschen. Viele Probleme. Viel Hunger. Viel Armut. Viel Ungerechtigkeit. Viel Reichtum. Viel Geld. Aber zu wenig Liebe, Geduld, Fürsorge, wirklichen Reichtum, Glaube, Friede. Wo ist da die wertvolle Welt geblieben?!

      Ich will meine blutigen Knie zurück.

      Freunde enttäuschen mich. Feinde verletzen mich. Der Held hat ausgedient. Ich will meine blutigen Knie zurück.

      Ich sitze hier oben und du da unten. Keine Sorge, mein Kind, alles wird gut.

      Ich sitze hier unten und du da oben. Du hast leicht reden. Du sitzt da oben, du erlebst den ganzen Mist nicht.

      Ich will meine blutigen Knie zurück.

      Und dich, ja dich, will ich auch zurück. Hier unten. Du fehlst mir, ich vermisse dich. Alle sagen, das Leben geht weiter. Toll. Aber wie geht es weiter? Jeden Tag durch den Tag schleppen. Wo ist meine wertvolle Welt geblieben? Weltvoll. Volle Welt. Tolle Welt. Hier gibt es viele Menschen, aber keiner ist wie du. Dein Lachen, dein Gesicht, ich verliere es fast. Ich koche deine Sachen nach, doch alles landet im Klo. Ich bin hier unten und du da oben.

      Ich will meine blutigen Knie zurück.

      Ich bin hier oben und du da unten. Ich hätte dir gerne noch so viel gezeigt, doch meine Zeit da unten hat sich zum Ende geneigt. Doch ich sitze hier oben und schaue dir zu. Du machst alles so toll. Ich bin stolz auf dich.

      Ich sitze hier unten und du da oben. Ich habe nicht mehr viel Zeit, gleich muss ich aufstehen. Doch dieser Traum war wunderschön. Einmal noch mit dir reden.

      Ich will meine blutigen Knie zurück.

      Ja, aber was bringt mir diese Vergangenheit? Die ganze Wehmut? Ich muss nach vorne schauen. Versuchen, die zerbrochene Welt zu reparieren. Wie damals meine blutigen Knie. Die weltvolle, wertvolle Welt genießen.

      Ich sitze hier oben und du da unten. Ich werde dich nie vergessen und dich jeden Tag sehn. Lass los, mein Kind.

      Ich lass los. Ich will meine blutigen Knie zurück.

      Ja, aber auch meine neue wertvolle Welt!

      Hilfe

      Ich sitze hier und du sitzt da. Du sitzt da und ich sitze hier. Zwischen uns ist Platz. Zwischen uns eine Kluft, die größer nicht sein könnte. Eine Kluft voll mit Vorurteilen, Unterschiedlichkeiten und Gegensätzen. Die Kluft sorgt für Distanz.

      Ich würde so gerne sagen, ich verstehe dich. Doch, es tut mir leid, das kann ich nicht. Ich kann zwar mitfühlen, aber ich werde es nie verstehen. Flucht, Angst, Panik, Lebensangst. Krieg, Zerstörung, Leid.

      Mir geht es auch nicht immer gut, aber das, was du erlebt hast, kann ich einfach nicht verstehen. Und dennoch tust du mir leid. Sehr sogar.

      Ja, ich höre von Menschen, die ihr Land verlassen müssen, ihr Leben riskieren und dann noch ihre Familie verlieren. Sie kommen an, geschwächt, schockiert und manchmal sogar krank, innerlich wie äußerlich.

      Und ich bekomme so wenig davon mit. Lebe so oft in meiner heilen Welt. Doch du tust mir leid.

      Aber Mitleid ist nicht das, was du brauchst, nicht noch mehr Leid. Du brauchst Hilfe. Aber das Annehmen ist schwer. Und das versteh ich wirklich. Doch hey, du brauchst dich für Hilfe nicht zu schämen. Die Menschen meinen es gut mit dir. Und ja, es gibt Menschen, die meinen es nicht gut mit dir, aber nicht jeder ist gleich. Gib ihnen eine Chance. Du brauchst Hilfe, und das meine ich nicht böse, sondern lieb.

      Ich sitze hier und du sitzt da. Du sitzt da und ich sitze hier. Zwischen uns ist Platz. Zwischen uns schwimmen Tränen und Angstschweiß. Du bist zerbrochen, ich sehe das. Nimm Hilfe an, bitte.

      Es ist nichts Schlechtes und nichts Verwerfliches. Es gibt Menschen, die dir helfen wollen. Es wird Zeit für einen Neuanfang. Lass den Krieg in deinem Kopf und in deinem Herzen zu Frieden werden. Komm zur Ruhe, komme an. Und ich weiß, dass es leichter gesagt als getan ist; ich hab gut reden, denn eigentlich weiß ich nichts. Nichts von dir und deinem vorherigen Leben. Aber ich will dir helfen. Lass dir helfen.

      Ich will dir helfen, doch oft weiß ich nicht wie und oft bin ich damit überfordert. Kann ich das denn? Dir helfen? Aber du hast mich getroffen, und ich bin dir begegnet, jetzt lass ich dich nicht allein. Lass dir helfen.

      Du sitzt da und ich sitze hier. Ich sitze hier und du sitzt da. Zwischen uns ist Platz. Ich nehme meinen Stuhl und rücke näher zu dir. Jetzt sitze ich hier und du sitzt hier, gleich neben mir. Ich räume die Vorurteile aus, schaue auf die Gemeinsamkeiten, ich geb mir zumindest Mühe, nicht immer klappt es, aber wir sitzen hier. Und ich weiß, du brauchst Hilfe. Meine oder die eines anderen. Du bist wie ich, Menschen brauchen Frieden. Den sollst du haben. Und ich kann dir jetzt ins Ohr flüstern: »Bitte, lass dir helfen, ich bleibe auch da.«

      Und jetzt endlich stehst du auf und lässt dir helfen.

      Du kommst wieder und ich sitze immer noch da. Wie versprochen. Jetzt sitz ich hier und du sitzt hier, gleich neben mir. Wir beide nebeneinander. Kein Platz dazwischen. Keine Kluft, keine Tränen.

      Hilfe? Angenommen!


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