Behemoth. Franz Neumann
1910 in Königsberg gab Wilhelm II. eine seiner zahlreichen ›Von-Gottes-Gnaden-Proklamationen‹ ab. Er sagte folgendes:
»Hier war es, wo der Große Kurfürst aus eigenem Recht zum souveränen Herzog in Preußen sich machte, hier setzte sich sein Sohn die Königskrone aufs Haupt … Friedrich Wilhelm I. stabilisierte hier seine Autorität ›wie einen Rocher de bronze‹ … Und hier setzte sich Mein Großvater wiederum aus eigenem Recht die preußische Königskrone aufs Haupt, noch einmal bestimmt hervorhebend, daß sie von Gottes Gnaden allein ihm verliehen sei und nicht von Parlamenten, Volksversammlungen und Volksbeschlüssen, und daß er sich so als auserwähltes Instrument des Himmels ansehe ... Als Instrument des Herrn Mich betrachtend ... gehe Ich Meinen Weg.«
Die unzähligen Witze und Karikaturen, in denen diese spezielle Neuformulierung der Theorie verspottet wurde, lassen wenig Zweifel daran, daß keine politische Partei sie ernst nahm – außer den Konservativen, und auch sie nur in dem Maße, wie der Kaiser sich mit ihren Klasseninteressen identifizierte. Die Rechtfertigung der souveränen Macht ist jedoch die Grundfrage der Verfassungstheorie, und deutsche Autoren durften sie nicht stellen. Es gab keine Alternative in einem Land, das in so viele Fronten – Katholiken und Protestanten, Kapitalisten und Proletarier, Großgrundbesitzer und Industrielle – aufgespalten und in dem jede Gruppe so fest in mächtigen sozialen Verbänden organisiert war. Selbst der Dümmste konnte erkennen, daß der Kaiser weit davon entfernt war, ein neutrales Staatsoberhaupt zu sein, und daß er auf der Seite ganz bestimmter religiöser, gesellschaftlicher und politischer Interessen stand.
Dann kam die Prüfung eines Krieges, der dem Volk die größten Opfer an Blut und Kraft abverlangte. 1918 war die kaiserliche Macht gebrochen, und alle Kräfte der Reaktion dankten ohne den geringsten Widerstand gegen den Linksruck der Massen ab – all das jedoch nicht als unmittelbare Konsequenz der militärischen Niederlage, sondern als Folge eines ideologischen Debakels. Wilsons »Neuer Frieden« und seine Vierzehn Punkte waren die ideologischen Sieger, nicht Großbritannien und Frankreich. Die Deutschen nahmen den »Neuen Frieden« mit seiner Verheißung einer Ära der Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung anstelle des Absolutismus und des bürokratischen Apparates, begierig auf. Selbst General Ludendorff, der in den letzten Kriegsjahren der eigentliche Diktator Deutschlands war, anerkannte die Überlegenheit der Wilsonianischen demokratischen Ideologie gegenüber der preußischen bürokratischen Effizienz. Die Konservativen kämpften nicht – in der Tat hatten sie nichts, womit sie hätten kämpfen können.
2. Die Struktur der Weimarer Demokratie
Verfassungen, die an den großen Wendepunkten der Geschichte geschrieben werden, beinhalten immer Entscheidungen über die zukünftige Struktur der Gesellschaft. Zudem ist eine Verfassung mehr als ihr Gesetzestext; sie ist zugleich ein Mythos, der Loyalität gegenüber einem ewig gültigen Wertsystem verlangt. Um diese Erkenntnis zu gewinnen, brauchen wir nur charakteristische Verfassungen in der Geschichte der modernen Gesellschaft, wie z. B. die französischen Revolutionsverfassungen oder die Verfassung der Vereinigten Staaten, zu prüfen. Sie legten die organisatorischen Formen des politischen Lebens fest; zugleich definierten und regulierten sie die Ziele des Staates. Diese letztere Funktion konnte in der liberalen Ära leicht erfüllt werden. Die Freiheitsgarantien, ob sie nun Teil der Verfassung waren oder nicht, hatten lediglich Sicherheiten gegen Übergriffe der verfassungsmäßigen Gewalten vorzusehen; alles, was zum freien Fortbestand der Gesellschaft benötigt wurde, war der Schutz der Eigentums-, Handels- und Gewerbefreiheit, der Rede-, Versammlungs-, Religions- und Pressefreiheit.
Nicht so im Deutschland der Nachkriegszeit. Die Verfassung von 1919 war eine Übernahme von Wilsons »Neuem Frieden«. Vor die Aufgabe gestellt, aus der Revolution von 1918 heraus einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft aufzubauen, versuchten die Verfassungsväter der Weimarer Republik jedoch, die Formulierung einer neuen Weltanschauung und eines neuen allumfassenden, allgemein anerkannten Wertsystems zu vermeiden.
Hugo Preuß, ein scharfsinniger demokratischer Verfassungsrechtler, der mit dem eigentlichen Entwurf der Verfassung betraut war, wollte so weit gehen, das Dokument auf einen bloßen Organisationsrahmen zu beschränken, fand aber keine Unterstützung. Unter dem Einfluß des Demokraten Friedrich Naumann entschieden sich die Architekten der Verfassung für den entgegengesetzten Kurs, nämlich für die umfassende Ausführung des demokratischen Wertsystems im zweiten Hauptteil der Verfassung, unter dem Titel »Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen«.
Eine bloße Übernahme der Grundsätze des politischen Liberalismus kam nicht in Frage. Die Revolution von 1918 war nicht das Werk der Liberalen, sondern der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften gewesen, wenngleich gegen den Willen und die Neigung ihrer Führung. Zwar war es gewiß keine sozialistische Revolution: das Privateigentum wurde nicht enteignet, der Großgrundbesitz nicht aufgeteilt und die Staatsmaschine nicht zerschlagen, die Bürokratie war nach wie vor an der Macht. Doch das Verlangen der Arbeiterklasse nach größerer Mitbestimmung über das Schicksal des Staates mußte befriedigt werden.
Vom Klassenkampf sollte es zur Zusammenarbeit der Klassen kommen – das war das Ziel der Verfassung. Tatsächlich ist so die Ideologie der katholischen Zentrumspartei zur Ideologie der Weimarer Republik und das Zentrum selbst, mit seinen aus den unterschiedlichsten Gruppen stammenden Mitgliedern – Arbeitern, Selbständigen, Beamten, Handwerkern, Industriellen und Agrariern – zum Prototyp der neuen politischen Struktur geworden. Das Wesen der Verfassung war der Kompromiß zwischen allen sozialen und politischen Gruppen. Mit Hilfe eines politischen Pluralismus, der sich hinter der Form der parlamentarischen Demokratie verbarg, sollten die antagonistischen Interessen harmonisiert werden. Vor allem sollte die imperialistische Expansion ein Ende haben. Das republikanische Deutschland würde seinen Produktionsapparat in einer international organisierten Arbeitsteilung zur vollen Nutzung bringen können.
Die pluralistische Doktrin war ein Protest gegen die Theorie und Praxis der Staatssouveränität. »Die Theorie des souveränen Staates hat versagt« und soll aufgegeben werden.17 Der Pluralismus begreift den Staat nicht als eine souveräne Größe außerhalb und über der Gesellschaft, sondern als eine unter vielen gesellschaftlichen Institutionen, die keine größere Autorität hat als Kirchen, Gewerkschaften, politische Parteien oder Berufs- und Wirtschaftsverbände.18 Die Theorie hatte ihren Ursprung in Otto von Gierkes Interpretation der deutschen Rechtsgeschichte, die sich in einer merkwürdigen Kombination mit dem reformistischen Syndikalismus (Proudhon) und den Soziallehren des Neothomismus vermischte. Gegen einen feindlichen souveränen Staat forderten die Gewerkschaften und Kirchen die Anerkennung ihres angeblich ursprünglichen und nicht übertragenen Rechts auf die Vertretung autonomer Bevölkerungsgruppen. »Wir betrachten den Staat nicht so sehr als einen Zusammenschluß von Individuen in ihrem gemeinschaftlichen Leben; wir betrachten ihn vielmehr als einen Zusammenschluß von Individuen, welche bereits in verschiedenen Gruppen zu einem weitergehenden und umfassenderen gemeinsamen Zweck vereinigt sind.«19
Dem pluralistischen Prinzip lag das Unbehagen des ohnmächtigen Individuums angesichts eines allzu mächtigen Staatsapparates zugrunde. In dem Maße, wie das Leben immer komplexer wird und die Zahl der vom Staat übernommenen Aufgaben wächst, verstärkt das isolierte Individuum seinen Protest dagegen, Mächten ausgeliefert zu sein, die es weder begreifen noch kontrollieren kann. So schließt es sich unabhängigen Organisationen an. Von der Übertragung entscheidender administrativer Aufgaben an diese privaten Körperschaften versprachen sich die Pluralisten zwei Resultate: die Kluft zwischen Staat und Individuum überbrükken sowie die demokratische Identität von Regierung und Regierten wirklich herstellen und zugleich, durch die Übertragung von Verwaltungsaufgaben an kompetente Organisationen, maximale Effizienz erreichen zu können.
Der Pluralismus ist also die Antwort des individualistischen Liberalismus auf den Staatsabsolutismus. Leider kann er seine selbstgestellten Aufgaben nicht erfüllen. Wenn der Staat erst einmal darauf reduziert ist, schlicht eine gesellschaftliche Institution unter anderen zu sein und somit seiner obersten Zwangsgewalt beraubt ist, dann wird nur ein Bündnis zwischen den in der Gesellschaft herrschenden unabhängigen sozialen Organisationen die konkrete Befriedigung der allgemeinen Interessen bewirken können. Damit derlei Vereinbarungen zustande kommen und eingehalten werden, muß es eine fundamentale Verständigungsbasis unter den beteiligten gesellschaftlichen Gruppen geben,