Behemoth. Franz Neumann
sich als numen, als göttliches Wesen mit prophetischen Kräften. Seine Gesetze waren sacer, heilig, die res publica war diva, göttlich. Unter dem Einfluß der orientalischen Vorstellungen wurde Friedrich II. von Hohenstaufen als personifizierter Gott betrachtet, und John von Salisbury, der große englische Humanist, sah in dieser ganzen Entwicklungsrichtung völlig zu Recht ein Zeichen für eine Rückentwicklung zum Heidentum.45 Der Aberglaube an die Heilkraft der Könige hatte eine außerordentlich lange Blütezeit; er hielt sich bis weit in das Zeitalter des Rationalismus hinein. Philipp der Schöne von Frankreich und seine Umgebung beriefen sich erneut auf die königliche Heilkraft als Gegengewicht gegen die Ansprüche Papst Bonifacius’ VIII.46 und gelegentlich auch, um die Enteignung des Ordens der Templer zu erleichtern. Das 14. Jahrhundert erlebte eine Renaissance der wundertätigen Praktiken und Glaubenssätze; Luther berichtet darüber ohne ein einziges kritisches Wort47, in Frankreich und England erschienen Dutzende von Pamphleten über die Heilkraft des Königs. Die Regentschaft von Cromwell ist die einzige Periode, in der diese Heilung nicht ausgeübt wurde. Nach der Restauration wurde der Glaube zu neuem Leben erweckt und zeitigte unter Charles II. einen erstaunlichen Berg an apologetischer Literatur.48 In Frankreich verschwand der Glaube kurz nach der Revolution.
Der bezeichnende Tatbestand in der Geschichte der wundertätigen Praktiken des Abendlandes ist, daß magische Kräfte immer dann beschworen werden, wenn der Herrscher seine Unabhängigkeit von der Religion und von gesellschaftlichen Kräften zu erlangen suchte. Alexander brauchte die Vergötterung für seine imperialistischen Eroberungen. Da er über Menschen mit vielerlei Religionen herrschte, hätte seine Identifikation mit einer davon die Gefahr mit sich gebracht, alle anderen verwerfen zu müssen. Indem er seine eigene Person zum Gott erhob, überragte er alle bestehenden Religionen. Andere Formen der Rechtfertigung, wie die rationale Lehre des Aristoteles oder die von den Sophisten vertretene demokratische Lehre, kamen nicht in Frage. Auch Augustus empfand die Notwendigkeit der Vergötterung aus ähnlichen Gründen49, und die Karolinger griffen darauf zurück, weil sie die neue Monarchie mit verfassungswidrigen Mitteln errichtet hatten. Friedrich Barbarossa und Friedrich II. beschworen das Charisma als Hilfsmittel zur Verteidigung der weltlichen Macht gegen Übergriffe der Kirche. In Frankreich und England, wo die Macht des Königs, Wunder zu bewirken, von den verschiedensten Apologeten verteidigt wurde, diente die Verherrlichung des Monarchen auch zum vorbeugenden Schutz gegen den Widerstand des Volkes. Die Bourbonen, die Plantagenets und die frühen Tudors behaupteten alle, kleine Götter zu sein, um ihre Person mit der nötigen Macht ausstatten zu können, widerspenstigen Untertanen Ehrfurcht einzuflößen.
4. Die Psychologie des Charisma
Anthropologische Theorien über den charismatischen Anspruch sind nicht unser Thema, doch bedarf es einiger Worte der Erklärung, warum er zu neuem Leben erweckt worden ist. Zweifellos ist die angeblich übernatürliche Begabung des Herrschers eine verfälschte Form des messianischen Gedankens, dessen Vorläufer bis zu dem »urzeitlichen Ungeheuer, das die Inkarnation des Bösen und der Feind Gottes und der Menschen war«, zurückzuverfolgen sind. Jedoch erklären solche Vorläufer nicht die Psychologie des Charisma, die wesentlich wichtiger als seine historische Analyse ist. Was den charismatischen Anspruch selbst angeht, so reicht es nicht aus, ihn als eine »Folge der angeborenen menschlichen Eigenschaft, von einer höheren Macht abhängig zu sein«, als eine natürliche Suche »nach einem, der angesichts momentaner Not hilft«, zu beschreiben.50 Solche Aussagen erklären nicht, warum die charismatische Lehre in bestimmten Perioden der Geschichte aufkommt, oder warum bestimmte soziale Schichten ihr mehr vertrauen als rationalen Überlegungen.
Das Problem erfordert eine Analyse der psychologischen Vorgänge, die zu dem Glauben an die wundertätige Kraft eines Menschen führen, einem Glauben, der gewisse vorreligiöse Neigungen des menschlichen Geistes kennzeichnet.51 Die Analyse kann auch zu einem Verständnis des psychologischen Vorgangs führen, der der Anbetung des Menschen durch den Menschen zugrundeliegt. Wie Rudolf Otto gezeigt hat, sind Geistesverfassung und angesprochene Emotionen die eines Individuums, das sich von seiner eigenen Unfähigkeit überwältigt fühlt und daher dazu neigt, an die Existenz eines Mysterium Tremendum, eines unerklärlichen Geheimnisses, zu glauben. Das Unerklärliche erzeugt Ehrfurcht, Angst und Schrecken. Der Mensch erschaudert vor dem Dämon oder vor Gottes Zorn. Aber seine Einstellung ist ambivalent – er fürchtet sich und ist fasziniert zugleich. Er erlebt Augenblicke der äußersten Verzückung, in denen er sich mit dem Göttlichen identifiziert.
Dieser vollkommen irrationale Glaube tritt in Situationen auf, die der Durchschnittsmensch nicht verstehen und rational erfassen kann. Nicht die Angst allein treibt die Menschen in die Arme des Aberglaubens, sondern das Unvermögen, die Ursachen ihrer Hilflosigkeit, ihres Elends und ihrer Erniedrigung zu erkennen. In Zeiten des Bürgerzwistes, des religiösen Aufruhrs und tiefgreifender sozialer und ökonomischer Umwälzungen, die Not und Elend erzeugen, sind die Menschen oft außerstande, oder werden vorsätzlich unfähig gehalten, die Entwicklungsgesetze zu erkennen, die ihre Lage herbeigeführt haben. Die am wenigsten von der Vernunft geleiteten Gesellschaftsschichten wenden sich Führern zu. Wie die Primitiven halten sie nach einem Erretter, der ihre Not abwenden und sie aus ihrem Elend befreien soll, Ausschau. Dabei gibt es immer – und häufig auf beiden Seiten – einen Faktor der Berechnung. Der Führer macht sich das Gefühl der Ehrfurcht zunutze und fördert es; die Gefolgsleute strömen ihm zu, um ihre Ziele zu erreichen.
Gehorsam ist in doppelter Hinsicht ein notwendiges Element der charismatischen Führung – sowohl subjektiv, als eine beschwerliche Last, wie auch objektiv, als Zwangsmittel zur Pflichterfüllung. Folglich kann es unter den Gefolgsleuten keine Gleichheit geben, denn sie beziehen die Macht vom Führer. Dieser muß Macht in ungleichen Dosen verteilen, damit er eine Elite besitzt, auf die er sich verlassen kann, die an seinem eigenen Charisma teilhat und ihm mit diesem Charisma zur Beherrschung der Massen verhilft. Eine charismatische Organisation beruht immer auf striktem Gehorsam innerhalb einer hierarchischen Struktur.52 Aber wenn das genuin religiöse Phänomen des Charisma in den Bereich des Irrationalen gehört, ist seine parallele politische Erscheinung nichts als ein Trick zur Erlangung, Bewahrung oder Vergrößerung der Macht. Es wäre ein fataler Fehler, sich darauf zu verlassen, daß es jeder rationalen Rechtfertigung der Staatssouveränität widerspricht. Der charismatische Anspruch der modernen Führer fungiert als bewußtes Mittel, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit im Volke zu nähren, Gleichheit zu beseitigen und stattdessen eine hierarchische Ordnung einzuführen, in der der Führer und seine Gruppe den Ruhm und den Nutzen des numen teilen. Dieses neue Charisma ist sogar noch wirksamer als das des primitiven Königtums: die Führer werden nicht entthront oder getötet, wenn es ihnen nicht gelingt, ihr Volk vom Übel zu befreien. Das do ut des gilt nicht mehr. Das Charisma ist absolut geworden; es verlangt Gehorsam gegenüber dem Führer nicht, weil dieser nützliche Funktionen versieht, sondern weil er angeblich übermenschliche Gaben besitzt.
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