Behemoth. Franz Neumann

Behemoth - Franz Neumann


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nach Aufhebung der Leibeigenschaft.

      Nach Luther gibt es zwei Arten von Gerechtigkeit, eine innere und eine äußere. Wahre innere Gerechtigkeit erfüllt sich nur in innerer Freiheit, äußere Gerechtigkeit aber dadurch, daß man seine Pflichten an seinem gegebenen Platz erfüllt. Ein Angriff auf einen Herrscher ist ein Angriff auf sein Amt. »Uffs erst ist der unterschied fur zu nemen, das ein ander ding ist ampt und person odder werck und thetter. Denn es kan wol ein ampt odder werck gut und recht sein an yhm selber, das doch boese und unrecht ist, wenn die person odder thetter nicht gut odder recht ist odder treibts nicht recht.«13 Das Amt als solches hat absolute Autorität. Es ist vom Amtsträger getrennt, was den abstrakten Charakter menschlicher Beziehungen andeutet.14 Die Beziehungen zwischen Herr und Knecht, König und Untertan werden abstrakt und anonym. Die Institution der Leibeigenschaft ist ewig und unwandelbar. Selbst wenn er heidnischen Türken in die Hände fiele, dürfe ein Christ seinem neuen Herrn nicht davonlaufen: »Denn du raubst und stiehlst damit deinem Herrn deinen Leib, welchen er gekauft hat oder sonst zu sich gebracht, daß er hinfort nicht dein, sondern sein Gut ist, wie ein Vieh oder andere seine Habe.«15 Alle Macht über Menschen und Dinge stiftenden Verhältnisse, ob private oder öffentliche, sind damit geheiligt. »Darumb auch ungehorsam grosser sund ist dan totschlag, unkeuscheit, Stelen, betriegen ...« »Widderumb geburt der gehorsam den unterthenigen, das sie alle yhren fleysz und auffsehen dahyn keren, zuthun und lassen, was yhr uber hern von yhm begeren, sich davon nit lassen reyssen noch treyben, es thu ein ander was er thu.«16

      Die äußere Welt braucht nicht nur keine Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Liebe; sie muß nicht einmal harmonisch sein. Die Obrigkeiten verlangen nicht Liebe, sondern Gehorsam, und sie messen nicht Barmherzigkeit, sondern unerbittliche Strafen zu. »Der esel will schlege haben, und der pofel will mit gewalt regirt seyn, das wuste Gott wol, darumb gab er der oberkeyt nicht eynen fuchsschwantz sondern eyn schwerd ynn die hand.«17 »Drumb sol hie zuschmeyssen, wurgen und stechen heymlich odder offentlich, wer da kan, und gedencken, das nicht gifftigers, schedlichers, teuffelischers seyn kan, denn eyn auffrurischer mensch, gleich als wenn man eynen tollen hund todschlahen mus.«18

      Luthers politische Theorie, soweit er eine besaß, enthielt sehr wenig, aber dieses Wenige könnte als charismatische Rechtfertigung der Macht bezeichnet werden. Trotz der Unbarmherzigkeit ihres Leitsatzes entwikkelte die Luthersche Lehre, da sie innere Freiheit einräumte, eine harmonische innere Welt, die der Schlechtigkeit und Verderbtheit der äußeren Welt entgegengesetzt werden konnte. Insofern enthielt sie die revolutionäre Saat, die in den Lehren der Taboriten und Anabaptisten aufging. Zudem begründete und stützte Luther mit der Trennung von Amt und Amtsinhaber sowie durch die Entpersönlichung der menschlichen Beziehungen die Lehren von einer rationalen Bürokratie.

      Zur vollen Entfaltung gelangte die charismatische Lehre durch Calvin.19 Seine Schriften bilden die politische Theorie der Bourgeoisie seiner Zeit, der es hauptsächlich um die Errichtung eines starken staatlichen Zwangsapparates ging. Die Calvinische Lehre vollzieht einen eindeutigen Bruch mit dem mittelalterlichen Denken in allen seinen Formen, theologischen, philosophischen, politischen und sozialen. Während Luther der Schlechtigkeit der Welt wenigstens die Gerechtigkeit der evangelischen Ordnung gegenüberstellte, wobei letztere den Keim potentieller Auflehnung und Revolution in sich barg, brachte Calvin das weltliche Reich mit dem geistlichen in Übereinstimmung, indem er dem Staat sein neues Glaubensbekenntnis aufzwang. Dieses neue Credo war nicht das der Bergpredigt, sondern das der Zehn Gebote, und die Theologie war nicht scholastisch, sondern positivistisch. Nach Calvin ist der Mensch nicht ein rationales, mit dem Licht der Vernunft begabtes Wesen; er ist unfähig, sein Leben nach rationalen Maximen zu begreifen und zu führen. Seine Vernunft ist verderbt, »von zahllosen Irrtümern eingewickelt und geblendet«.20 Seine »Intelligenz und Vernunft sind verderbt durch den Fall«, und die »Integrität seines Verstehens«21 ist zerstört worden, so daß es ihm unmöglich ist, die Wahrheit zu erkennen. Er vermag sie nur in einem sehr begrenzten Bereich zu finden. Dieser »begrenzte Bereich« stiftet einen inneren Zusammenhang zwischen dem Calvinismus und der empirizistischen, experimentellen Haltung der darauffolgenden Periode. Calvin räumt eine gewisse Fähigkeit, »irdische Dinge« zu erkennen, ein: »Unter ›irdischen‹ Dingen verstehe ich dabei das, was mit Gott, seinem Reiche, der wahren Gerechtigkeit und der Seligkeit des kommenden Lebens nichts zu tun hat, sondern … zum gegenwärtigen Leben gehört.«22 Wahrheit kann niemals durch ein rationales Vorgehen gewonnen werden. Der Mensch muß sich auf »das weltliche Regiment, die Haushaltskunst, alles Handwerk und die freien Künste«23 beschränken. Philosophie und politische Lehren können niemals die letzte Wahrheit erreichen; in unserer Zeit würde man sagen, daß sie sich einzig und allein damit befassen, die richtigen Mittel für geoffenbarte Zwecke zu finden. Calvins Positivismus tritt noch deutlicher durch die Tatsache zutage, daß er als gültige methodologische Prinzipien lediglich Induktion und Generalisierung von Alltagserfahrungen anerkennt.24 Aus solchen wissenschaftlichen Verfahren folgen niemals Gewißheit und Allgemeingültigkeit.

      Und doch hat jeder Mensch den Keim der Vernunft in sich; das unterscheidet ihn von den Tieren. Nach dem Fall wäre die Menschheit verloren gewesen, hätte nicht Gott uns einen geringen Rest von Vernunft belassen, den wir als »Gottes allgemeine Gnade« bezeichnen können.25 Wie kann nun diese reifen und wachsen? Nicht durch die menschliche Verstandestätigkeit – so viel ist gewiß – sondern einzig und allein durch die besondere Gnadenwahl Gottes. Die allgemeine Gnade, welche potentiell alle Menschen gleich umfaßt, wird nur dadurch gegenwärtig, daß Gott Menschen für besondere Positionen erwählt. Calvin führt uns hier zu unserer Geburt zurück, um uns zu zeigen, daß die Vernunft, die wir besitzen, ein Geschenk Gottes und nicht ein natürlicher Besitz sei. »Wenn der Säugling den Schoß seiner Mutter verläßt, welchen Verstand hat er dann? … Ein Kind ist geringer als das ärmste Tier … Wie kommt es, daß wir den Geist des Verstandes besitzen, wenn wir mündig werden? Es muß so sein, daß Gott ihn uns gibt.«26 Die Gnadenwahl ist nicht eine Belohnung für ein frommes Leben oder für gute Werke; sie kann sogar einem Heiden zuteil werden.27 Wenn auch Gottes Wege unerforschlich sind, folgen sie doch nicht einem zufälligem Kurs – alles ist unergründlich vorherbestimmt, von Gott gewollt.

      Woran aber können die Menschen erkennen, ob ihre Mitmenschen mit Gottes Gnade begabt sind? Die Antwort heißt: an ihrem Erfolg. Der Herrscher, der Magistrat, der erfolgreiche Geschäftsmann, politische Führer, Rechtsgelehrte, Arzt, Vorarbeiter, Sklavenhalter – sie alle verdanken ihre Stellung der göttlichen Gnade. Deshalb schuldet man ihnen Gehorsam. Das Charisma fließt allen jenen zu, die Macht haben, in jedem Bereich des Lebens, jedem Beruf und Stand.

      Die politische und gesellschaftliche Theorie folgt logisch aus den theologischen Prämissen, wobei das Ganze die radikalste Abkehr von der scholastischen Auffassung darstellt. Es kann keine Maxime, kein Naturrecht geben, das irgendjemanden bindet. Wenn das Gewissen der Menschen verderbt ist, dann ist es auch das Naturrecht, und Gottes Gerechtigkeit kann nicht in ihm erkannt werden. »Wäre er (der Mensch) im Zustand der natürlichen Unversehrtheit geblieben, so wie Gott ihn schuf … dann würde jeder das Gesetz in seinem Herzen tragen, so daß es keinen Zwang gäbe … Jeder würde seine Regeln kennen und … dem Guten und Rechten folgen.«28 Aber Gewissen und Naturrecht können uns nicht lehren, wie wir uns zu verhalten haben. Das Naturrecht ist nicht das gestaltende Prinzip des Staates, der weder eine natürliche Einrichtung noch das Produkt menschlicher Bedürfnisse ist. Der Staat ist eine Zwangsinstitution, die zur Natur des Menschen in Widerspruch steht.29 Er ist von Gott geschaffen und Teil seines Planes, uns von unserer Verderbtheit zu erretten. »Da die natürliche Ordnung verderbt ist, ist es nötig, daß Gott … uns zeigt ..., daß wir zur Freiheit nicht fähig sind, daß wir in einem Zustand der Unterwerfung gehalten werden müssen.«30 So bricht Calvin mit der Aristotelischen und Thomistischen Tradition und wirft sich in die Arme des politischen Augustinianismus, indem er »das göttliche Recht der bestehenden Ordnung«31 errichtet.

      Die Heiligkeit erstreckt sich nicht nur auf den Staat als solchen (wie Luther behauptete), sondern auf alle Personen in der Hierarchie des Staates, die an der Ausübung seiner Macht teilhaben. Zwischen dem Träger der Souveränität und seinen ausführenden Organen wird keine Unterscheidung getroffen. Wir schulden unseren Oberen unbedingten


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