Behemoth. Franz Neumann

Behemoth - Franz Neumann


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der sozialwissenschaftlichen Emigration nach 1933 insgesamt20: Wie Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer in den Geheimdienst überwechselten, wie sich eine ganze Truppe weiterer Emigranten zu ihnen gesellte, in welche Richtung die hochkompetenten Deutschlandexperten die Direktiven ihrer Auftraggeber zu lenken verstanden und wie weit sie mit der Verfolgung eigener politischer Ziele kamen – mit dergleichen Fragen lässt sich die gigantische Masse an Stoffsammlungen, Strategiepapieren und politischen Expertisen aufschlüsseln, die einerseits als wissenschaftliche „Feindanalysen“ gedacht waren und andererseits Handlungsanweisungen dafür geben sollten, was zunächst militärisch und dann politisch gegen Hitler-Deutschland zu tun sei. Hier können nur zwei der brisantesten Themenkreise erwähnt werden, die im Laufe des Krieges und besonders gegen sein Ende im Frühjahr 1945 ins Zentrum der Aufmerksamkeit getreten sind:

      Während die Neumann-Gruppe anfangs davon ausgegangen war, dass die innere Opposition gegen Hitler noch über einen gewissen Handlungsraum verfügte und die deutsche Bevölkerung durch die Kriegsverluste vielleicht auf Distanz zum Regime gehen könnte, verflüchtigte sich diese Hoffnung rasch. Ein markanter Anhaltspunkt ist der 100-seitige Anhang, den Neumann 1944 der zweiten Auflage des „Behemoth“ hinzufügte, auch weil hier die neuesten Lageberichte des OSS bereits Eingang gefunden hatten, die ein weit negativeres Bild ergaben: Im Zuge der Kriegswirtschaft und besonders der Expansion nach Osten sah Neumann eine progressive Verschmelzung der vier Herrschaftseliten am Werke, wobei der Einfluss von Parteiführung und Wirtschaftsmonopolisten auf Kosten der Staatsbürokratie gesteigert erschien und der direkte Befehl und die Ausweitung des Terrors zu unwiderstehlichen Herrschaftsinstrumenten geworden waren. Die Schlusspointe lautete jetzt, dass die anarchische Struktur des „Behemoth“ zur Vollendung gebracht, die perverse Pluralität der Herrschaftseliten im kollektiven Verbrechen zusammengeschweißt war, und zwar mittels eines hochsignifikanten Vorgangs, den Neumann mit der „Speerspitzentheorie des Antisemitismus“ zu verstehen versuchte.21

      Schon ab 1943 war, in Naherwartung der deutschen Niederlage, die Planung der Nachkriegsordnung ins Zentrum der Forschungsarbeit getreten, ein Riesenkomplex, für dessen Kennzeichnung sich die Kurzformel von den „four D’s“ eingebürgert hat22: Dem Primat der Kriegsführung entsprechend, stand zunächst das Ziel der „Demilitarization“ im Vordergrund, und zwar in der radikalen Form der „unconditional surrender“. Zweifelsfrei konsentiert von den militärischen und den zivilen Behörden, zwischen denen der Geheimdienst positioniert war, war auch die „Denazification“, d.h. die Entmachtung der Nazi-Partei und aller ihr angeschlossenen Organisationen, was angesichts der fast vollständigen Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft einer Herkulesaufgabe gleichkam. Differenzen zu den amerikanischen Zielen hingegen taten sich, zumindest bei Franz Neumann und den ehemaligen Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung, darin auf, dass sie die Grundstruktur des Nationalsozialismus als „totalitären Monopolkapitalismus“ verstanden. Daher musste die „Decartelization“, d.h. die Zerschlagung der Monopole für sie einen hohen Stellenwert einnehmen, ebenso wie sie sich den Wiederaufbau der Verwaltung und die zukünftige Gestaltung der demokratischen Ordnung („Democratization“) nur unter bevorzugter Beteiligung von Kräften der einheimischen Arbeiterbewegung vorstellen konnten.

      Hatte diese spezifische Ausrichtung von Deutschlands Zukunft schon vor 1945 wenig Rückhalt bei den amerikanischen Entscheidungsträgern gefunden, so spielte sie bekanntlich in der späteren Ausgestaltung der Militärregierung keine Rolle mehr, sondern fiel der internationalen Neuausrichtung auf die Fronten des Kalten Krieges zum Opfer. Einen Zwischenschritt dahin kann man in den sog. Nürnberger Prozessen erblicken, für deren Organisation die USA die Hauptrolle spielten: Man weiß heute, dass Franz Neumann an der juristischen Vorbereitung dieses Prozesses beteiligt und bei der maßgeblichen Londoner Konferenz auch anwesend war.23 Und in der berühmten Anklagerede von Robert Jackson wurden nicht nur einzelne Formulierungen aus den Papieren des OSS übernommen wie z.B. die erwähnte „Speerspitzentheorie des Antisemitismus“, sondern auch der prinzipielle Aufbau der Anklage, in der die Kriegsverbrechen der Nazis als Ausfluss eines verschwörerischen „Masterplans“ und der Angriffskrieg im Osten sowie die Drangsalierung der eigenen Bevölkerung einschließlich des Massenmords an den Juden als „organisiertes Verbrechen“ bezeichnet wurden, wodurch der Schuldbegriff nicht auf Einzelpersonen beschränkt, sondern auf Institutionen und Organisationen ausgedehnt war. Diese soziologische Ausweitung der Anklage war durch die Leitkategorie des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ nicht gedeckt und hat sich bekanntlich bei der Urteilsverkündung auch nicht durchgesetzt.

      Das Office of Strategic Services wurde im Sommer 1945 aufgelöst und die Forschungsabteilung ins State Departement transferiert, wo ihre Mitarbeiter zunehmend ins politische Abseits gerieten. Frustriert von der Wirkungslosigkeit ihrer Analysen in der amerikanischen Politik und gleichzeitig tief ernüchtert von den deutschen Entwicklungen unter der Militärregierung, verließ Franz Neumann 1947 den amerikanischen Staatsdienst und etablierte sich, als Erster aus dem Kreis der engagierten Emigranten, an der Columbia University in New York. Aber auch in diesem neuen Kontext beschränkte er sich nicht auf die akademische Tätigkeit, sondern nutzte jetzt die Chance, seine politische Stimme in aller Öffentlichkeit zu erheben. Der Satz, mit dem seine erste Publikation nach dem Krieg anhebt, ist gleichzeitig ein Aufruf und eine Warnung: „Erziehen ist schwierig; Umerziehen ist noch schwieriger; eine andere Nation umzuerziehen, ist nahezu unmöglich. Zu versuchen, die Deutschen mittels einer Militärregierung umzuerziehen, heißt, das Unmögliche zu versuchen.“24

      Mit dieser Mischung aus Skepsis und engagierter Analyse ist der Grundtenor angeschlagen, der Neumanns Interventionen zur Nachkriegsentwicklung charakterisiert, jetzt hat der „political scholar“ die für ihn typische Stimmlage gefunden und kündigt gleichzeitig eine gewisse Transformation des Zielpunktes für sein Engagement an. Es ging ihm jetzt nicht mehr primär um die Brechung der kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen, sondern um die Chancen für den demokratischen Wiederaufbau, aber natürlich ebenso sehr um die fortdauernden Hindernisse dafür. Geschickt positionierte er sich dabei zwischen der amerikanischen Deutschlandpolitik einerseits und den sich allmählich herausbildenden Akteuren der westdeutschen Gesellschaft andererseits. Während er sich in Kommentaren und kritischen Analysen in erster Linie an die amerikanische Öffentlichkeit wandte, scheute er sich nicht, den Finger in die Wunden der Kontinuitäten aus der Nazi-Gesellschaft zu legen, die durch die Versäumnisse der amerikanischen Besatzungspolitik mitbedingt seien. Dies galt für die Frage der immer weiter verwässerten Entnazifizierungsmaßnahmen ebenso wie für den mangelnden Umbau des überkommenen Bildungssystems, insgesamt sah er Nachkriegsdeutschland von einem Klima der politischen Apathie überzogen, die ihm als die schlimmste Hinterlassenschaft der totalitären „Kultur“ erschien.

      Viele dieser Kritikpunkte finden sich in einer Broschüre zusammengestellt, die Neumann 1950 unter dem lapidaren Titel „German Democracy“ publiziert hat und die hier als Anschauungsbeispiel für sein Bild von der noch ganz jungen Bundesrepublik referiert wird25: Fünf Jahre sind seit der Niederlage des Nationalsozialismus vergangen, seit einem Jahr tagt im provinziellen Bonn ein frei gewähltes Parlament. Aber was sich als das neue demokratische System herauskristallisiert, betrachtet Neumann mit großer Skepsis. Dahinter steht die bohrende Frage, wie, sozusagen über Nacht, aus einer erkennbar pro-nazistischen Mehrheit ein genuin pro-demokratisches Volk hervorgegangen sein soll. Waren es nicht eher die außenpolitisch determinierten, von den Besatzungsmächten diktierten Prämissen, die den Deutschen die demokratischen Institutionen mehr oder weniger verordnet haben? Konsequenterweise sieht er im Grundgesetz und besonders in seinem exzessiven Grundrechtsteil so etwas wie einen „Verfassungsfetischismus“26 am Werke, eine Haltung, die juristische Garantien mit einer lebendigen Demokratiekultur zu verwechseln droht, ebenso wie er in der starken Stellung des Kanzlers und in der aus der NS-Zeit übernommenen Ministerialbürokratie eine strukturelle Beeinträchtigung des parlamentarischen „Souveräns“ vermutet. Auch den aus den Parteien entspringenden Willensbekundungen begegnet er mit Misstrauen, nicht nur, weil die SPD sich weitgehend nach dem Weimarer Modell reorganisiert hat, sondern mehr noch, weil die CDU/CSU sich als diffuses Mitte-Rechts-Bündnis darstellt, dessen Profil hauptsächlich von einer autoritären Großvater-Figur geprägt ist. Über Konrad Adenauer heißt es: „Er ist ein äußerst intelligenter und geschickter Politiker, ganz sicher antinazistisch, aber mit ausgeprägten autoritären Charakterzügen.“27


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