Behemoth. Franz Neumann
die Reaktionsbildungen in der Industrie und im großen Heer der Heimatvertriebenen hinzu, so ergibt sich keine rosige Perspektive: „So ist es durchaus möglich, dass sich ein substantieller Teil der Bevölkerung tatsächlich einer neo-nazistischen Lösung zuwenden wird, obschon der Aufstieg eines zweiten Hitler innerhalb einer Generation unrealistisch scheint.“28 Und da das natürlich verhindert werden muss, lautet der kategorische Imperativ: strikte Ablehnung einer deutschen Wiederbewaffnung und weitere, ja verstärkte Kontrollen durch die amerikanische Besatzungsmacht, die vor allem den Schutz der Freiheitsrechte, die reaktionären Tendenzen in der Industrie und in den kleinen Rechtsparteien sowie die Einrichtung einer demokratischen Erziehung und eine gerechte Umverteilungspolitik im Auge behalten soll. Die westdeutsche Demokratie erscheint Neumann offenbar als ein schwaches, hauptsächlich von den Besatzungsmächten gestütztes Pflänzchen, das noch nicht autochthon eingewurzelt ist.
Dass damit jedoch kein abschließendes Urteil gefällt, der engagierte Beobachter vielmehr bereit war, seine skeptische Grundhaltung zu überprüfen und neue Tatsachen der Nachkriegsentwicklung zur Kenntnis zu nehmen, zeigt ein späterer, eher beiläufiger Aufsatz aus dem Jahr 1954. Unter dem Titel „Germany and World Politics“ nahm Neumann seine vorherige kategorische Ablehnung der deutschen Wiederaufrüstung zurück, allerdings nur unter der Bedingung, dass der deutsche Wehrbeitrag in eine europäische Verteidigungsgemeinschaft eingebaut werde. Auch der Regierungsstil Adenauers erschien ihm jetzt eher als ein Stabilitätsfaktor, während er in aller Nüchternheit darauf hinwies, dass der von Regierung wie SPD-Opposition je verschieden intonierte Wiedervereinigungswunsch nichts als Augenwischerei sei: Seine Unerfüllbarkeit sei der Preis, den man für die wirtschaftliche und militärische Westintegration zu zahlen habe. Dessen mögliche Kompensation durch die in Gang gesetzten Planungen für ein Vereintes Europa aber konnte er nicht mehr erleben.29
IV. Politikprofessor in New York und Berlin
Franz Neumanns Wirken an der New Yorker Columbia University erscheint aus der ideengeschichtlichen Distanz wie ein Blitzlicht: Kurz und grell leuchtet es auf, ebenso rasch ist es erloschen. Zum Political Science Department hatte er schon seit Anfang der 1940er Jahre Kontakt gehalten, 1948 wurde er dort zum Visiting Professor und 1950 zum Full Professor berufen. Zwar war Neumann damit im intellektuellen Establishment der amerikanischen Ostküste angekommen, doch entsprach er weder als Person dem „normalen“ Bild eines amerikanischen Professors, noch erschöpfte sich seine Tätigkeit in der Ausfüllung eines Lehrstuhls, dessen Denomination auf „Government“ lautete. Vielleicht kommt man der Realität am nächsten, wenn man annimmt, dass sich Neumann in den 1950er Jahren tatsächlich dem Idealtypus des „political scholar“ annäherte, sozusagen zu seinem Realtypus wurde, freilich nur, wenn man sofort hinzufügt, wie viel an Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen zu bewältigen war, sobald das Ideal der Wirklichkeit ausgesetzt wurde. Es sind das Changieren zwischen weit auseinanderliegenden Welten, das Überschreiten der geographischen wie der theoretischen Grenzen und nicht zuletzt die Erfahrung neuer Behinderungen und Bedrohungen, die Neumanns letzte Lebensphase auszeichnen.
In der Tat trat jetzt eine geradezu abenteuerliche Rastlosigkeit in den Vordergrund: Neumann pendelte periodisch zwischen New York und Berlin hin und her, er nutzte alte Kontakte zur amerikanischen Politik und stiftete neue nach Deutschland, er organisierte Fachkonferenzen mit Kollegen, hielt eine Vielzahl von Vorträgen und scheute sich nicht, sie auch gleich, in skizzenhafter oder thesenartiger Form, zu publizieren. Seine Aufsätze umfassten ein breites Spektrum an Themen und Fragestellungen, hielten sich dabei nicht an die akademischen Fächergrenzen, sondern reagierten auf aktuelle Anlässe oder bewegten sich souverän zwischen verschiedenen Methoden und Theorien. So rigoros der deutsche Emigrant im Gewande des amerikanischen Professors das Doppelpostulat von wissenschaftlicher Wahrheitssuche und politischem Engagement auch verstanden hat und so sehr er dafür von seinen amerikanischen Studenten und Kollegen bewundert wurde – das ändert nichts daran, dass diese Lebensgeschichte in persönlicher Hinsicht als ein Torso dasteht, ebenso wie fragmentarisch und vieldeutig geblieben ist, was man Neumanns wissenschaftliches Spätwerk nennen kann.
Ob es in den verstreuten Publikationen aus den 1950er Jahren dennoch so etwas gibt wie ein methodisches Programm, aus dem sich eine Theoriekonzeption oder gar eine geschlossene Gesellschaftstheorie hätte entwickeln können – darüber ist einiges gesagt und noch mehr spekuliert worden.30 Die hier vorgelegte Skizze fragt nicht primär nach der Solidität von Neumanns theoretischer Ausrichtung, sondern möchte die kontextbedingten Veränderungen freilegen, die sich im Verhältnis von Theorie und Praxis, von wissenschaftlicher Anstrengung und politischem Engagement ergeben haben. Wenn es einen verallgemeinerbaren Trend in der Wirkungsgeschichte von Franz Neumann gab, der in der letzten Phase deutlich kulminierte, dann lag er im eigentümlichen Vorgang einer Abstraktifizierung, d.h. in einer Entwicklung, die sowohl das politische Engagement als auch das wissenschaftliche Fragen auf ein allgemeineres, aber auch mehr selektives Niveau verwies. Interessant werden diese unvollendeten Orientierungsversuche, wenn man sie geschichtsphilosophisch ausdeutet, z.B. auf die Alternative zwischen einer eher optimistischen oder einer eher pessimistischen Zukunftsperspektive bezieht.
Blickt man zurück auf die Weimarer Republik und nimmt als Maßstab die Intensität der Beziehungen zu den Gewerkschaften, dann fällt sofort ins Auge, wie dünn sich Neumanns Verhältnis zur wiedererstandenen Arbeiterbewegung im Nachkriegsdeutschland gestaltet hat. Dokumentiert ist nur ein einziger Vortrag, den Neumann 1950 vor dem Sozialpolitischen Ausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Düsseldorf gehalten hat.31 Aber auch umgekehrt gab es offenbar kein ernstgemeintes Rückkehrangebot von welcher Gewerkschaft auch immer, ganz zu schweigen von der peinlichen Frage, warum die westdeutschen Gewerkschaftsführer, als es 1954 den Posten des Arbeitsgerichtspräsidenten zu vergeben galt, nicht einen „Ehemaligen“ aus den eigenen Reihen (wie eben Franz Neumann oder seinen Socius Ernst Fraenkel) ins Spiel brachten, sondern mit Hans Carl Nipperdey einen ehemaligen nationalsozialistischen Arbeitsrechtsprofessor unterstützt haben.32 Hier nur von gegenseitiger „Entfremdung“ zu sprechen wäre offensichtlich eine zu harmlose Formulierung.
Aber auch Neumann hielt mit handfesten Differenzen nicht hinterm Berg, sondern artikulierte gegenüber der sich formierenden Gewerkschaftsbewegung massive Kritikpunkte, und dies, obwohl er in den frühen Nachkriegsjahren noch von einem positiven Zusammenspiel zwischen Arbeiterbewegung und demokratischer Politik ausgegangen war und z.B. gegenüber der Militärregierung immer wieder darauf insistiert hatte, dass – neben den ausgewiesenen „Widerständlern“ und manchen Geistlichen – bei den Arbeiterfunktionären noch am ehesten Reste eines demokratischen Geistes zu erwarten seien, weswegen man ihnen gegenüber den weitgehend korrumpierten Beamten beim Wiederaufbau der deutschen Verwaltung den Vorzug geben solle. Dieser Betonung eines konstruktiven Zusammenspiels zwischen sozialer und politischer Demokratie lief jetzt eine andere Einschätzung zuwider, die besonders seit dem Regierungsantritt Adenauers und mit der schrittweisen Etablierung der sozialen Marktwirtschaft in den Vordergrund trat.33 Hinter ihr stand die Beobachtung von zwei längerfristigen historischen Tendenzen, die sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu einer grundsätzlichen Bedrohung für den Aktionsradius der Arbeiterbewegung zusammenzubrauen schienen:
Einmal stellt Neumann fest, dass die Macht der Arbeiterbewegung, bedingt durch die Verbreiterung der Mittelschichten zwischen Kapital und Arbeit, in ganz Europa im Schwinden begriffen ist34; zum andern bemängelt er an Gewerkschaften wie SPD eine gefährliche Neigung zur Verselbständigung der bürokratischen Führungskader gegenüber der Basis, wodurch sich fortsetze, was schon 1933 an der Kapitulation der Gewerkschaften vor Hitler mitgewirkt habe: Die Isolation der Mitglieder lähmt die Aktivität und die politische Kampfbereitschaft an der Basis, die dazugehörige legalistische Einstellung führt zur Identifikation der Funktionäre mit den gegebenen Verhältnissen und schwächt umgekehrt die Orientierung an weiterreichenden sozialpolitischen Zielen.35 Die wiedererstandene Arbeiterbewegung operiert auch nach 1945 wieder zwischen diesen beiden Scherenmessern und ist zusätzlich bedroht von der prokapitalistischen Besatzungspolitik der Westmächte sowie vom Neutralitätszwang, der aus dem Konzept der Einheitsgewerkschaft resultiert. Wie richtig diese Diagnose war, hatte sich schon an den liberalkapitalistischen Tendenzen des Grundgesetzes gezeigt und war durch den Sieg der konservativen Christdemokraten in der ersten Bundestagswahl 1949 bestätigt worden.
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