Haushaltsnahe Dienstleistungen für Familien. Mareike Bröcheler
integrierenden und koordinierenden Arbeiten befähigen (vgl. Thiele-Wittig 1993, 1996).24 Folglich sind die Aufgaben Neuer Hausarbeit auch zur Erfassung des jeweiligen Haushaltsstils von privaten Haushalten, in all seinen Dimensionen und unter Betrachtung aller Umfeldebenen, von essenzieller Bedeutung.
Der Umgang mit den zahlreichen Akteuren des Versorgungsverbundes, etwa Behörden und Ämtern, Institutionen des Gesundheitssystems, Finanzdienstleistern oder Betreuungseinrichtungen, erfordert von privaten Haushalten die aktive Teilnahme – sie werden zu Ko-Produzenten der Dienstleistungen (siehe Kapitel 5.2). Diese Schnittstellen zu Akteuren außerhalb des Haushaltssystems nahmen und nehmen tendenziell zu, und somit auch die Anforderung, diese zu koordinieren. Thiele-Wittig diagnostiziert dabei eine besondere Herausforderung für private Haushalte im Umgang mit einer ,,hochgradigen Asymmetrie“ (Thiele-Wittig 1987: 124) zwischen ihnen und den Akteuren des Versorgungsverbundes, die sich in mehrerlei Hinsicht zeigt: Bedeutsam ist u. a. ein Gefälle zwischen ihnen in Macht und Einfluss sowie ein Fachleute-Laien-Gefälle, der Einfluss technischer Neuerungen auf Dienstleistungen und Dienstleistungsnutzung, die Notwendigkeit der Information und Bewertung eines pluralisierten Angebotes sowie die Notwendigkeit der Koordination und Synchronisationen verschiedener Institutionen bzw. Arbeits- und Lebensbereiche (etwa die Abstimmung von Erwerbsarbeitszeiten mit Arztterminen, Schul- oder Kitazeiten). In der öffentlichen Wahrnehmung und Kommunikation werden zahlreiche Entwicklungen und Neuerungen zudem als Entlastungen für private Haushalte gewertet, die – bei allen Vorteilen, die moderne Dienstleistungen mit sich bringen können – letztlich jedoch (mehr) Neue Hausarbeit hervorbringen (vgl. Thiele-Wittig 1987, 1993; Küster 2000).
Aufgrund ihrer Andersartigkeit im Vergleich zur klassischen Hausarbeit werden in der Neuen Hausarbeit andere Kompetenzstrukturen als Voraussetzung dafür gesehen, die vorwiegend intellektuelle Arbeit bewältigen zu können. So ist mit der Beschreibung der Neuen Hausarbeit oft die Forderung nach einer Bildung von Alltags- und Daseinskompetenzen verbunden (vgl. Thiele-Wittig 1987, 2000, 2003). Daseinskompetenzen werden im Fünften Familienbericht bereits mit einer essenziellen Bedeutung für das private und soziale Leben sowie das Bestehen in Erwerbsarbeit und Haushaltsführung belegt (vgl. BMFSFJ 1995). Inzwischen gibt es Vorschläge zu Inhalten und Curricula für die Lehre von Alltagskompetenzen in allgemeinbildenden Schulen, die unterschiedliche Definitionen und Spektren des Begriffes aufzeigen. Aus einer haushaltswissenschaftlichen Perspektive sind hierfür folgende Bereiche relevant (vgl. Bröcheler 2012):
• Lebensplanung (u. a. Lebensverlaufsplanung, Konsequenzen von Lebensentscheidungen, Beziehungskompetenz);
• Management (u. a. Finanz- und Zeitmanagement, Entscheidungsfindung im Haushalt);
• Versorgung (u. a. Reinigung, Wäschepflege, Wohnraumgestaltung, Ressourcenschonung);
• Gesundheit (u. a. Gesunderhaltung, Bewegung, Wohlbefinden und Entspannung, Sorgeaufgaben);
• Ernährung (u. a. bedarfsgerechte und gesundheitsförderliche Ernährungsweisen, Ernährungsverhalten, Ernährungsökologie);
• Konsum (u. a. Konsumverhalten, Verbrauchspolitik, Nachhaltigkeit, Online-Handel).
Die Anforderungen an ein erweitertes Kompetenzprofil verdeutlichen zudem das gesellschaftliche und politische Verständnis von einer Verantwortungsübernahme für die genannten Aufgabenbereiche der Neuen Hausarbeit durch die privaten Haushalte, die in den unterschiedlichen Alltagswelten – dem Leitbild des „mündigen Verbrauchers“ entsprechend – in zunehmendem Maße „Informations- und Entscheidungsarbeit“ (Küster 2000: 16) leisten müssen.
Zur Neuen Hausarbeit und damit der Koordinierung und Organisation unterschiedlichster Bestandteile des Versorgungsverbundes gehören schließlich auch Haushaltshilfen. Durch das Delegieren eines Teils der (vorrangig) praktisch-hauswirtschaftlichen Tätigkeiten entsteht damit ebenfalls ein neuer Aufgabenbereich der Neuen Hausarbeit, durch die Rolle der Haushalte als Kunden eines Dienstleistungsunternehmens oder Arbeitgeber einer im Haushalt beschäftigten Person (siehe Kapitel 6). Gleichzeitig wird an diesem Beispiel deutlich, dass es gerade Aufgaben der Neuen Hausarbeit sind, die sich schlecht oder gar nicht delegieren lassen, wenn sich ein Haushalt Entlastung verschaffen will. Außer in Fällen, in denen die komplette Haushaltsführung ausgelagert wird, ist die Verteilung Neuer Hausarbeit (von der Koordination und Absprache bis zur Wahrnehmung von Terminen bei Ärzten, Behörden, Beratungsstellen etc.) lediglich unter den Haushaltsmitgliedern möglich. Selbst Aufgaben, die mit einem hohen emotionalen Anteil verbunden sind, etwa die Betreuung von Kindern oder die Ernährungsversorgung nach den eigenen Vorstellungen, lassen sich – wenn auch unter Inkaufnahme von Abweichungen vom eigenen Zielsystem – besser an Dritte delegieren als Neue Hausarbeit (vgl. Thiele-Wittig 1991).
Die Komplexität alltäglicher Lebenswelten von Privathaushalten verdeutlicht schließlich die Notwendigkeit eines wahren Alltagsmanagements, im Sinne des Planens, Organisierens, Ausführens und Kontrollierens aller Aufgaben der alltäglichen Daseinsvorsorge. Auch wenn einzelne Faktoren mit Wirkung auf das alltägliche und haushälterische Handeln durch die vorgestellten haushaltswissenschaftlichen Theorien abgebildet werden können, treten deren Wirkungsweise oder Aspekte der gelebten Praxis von Haushaltsführung samt Zuständigkeiten in diesem Modell nicht explizit hervor.
2.2.2 Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzepte
Die Arbeit des Alltags findet sich auch in sozialwissenschaftlichen Theorien und Konzepten wieder, die im Folgenden als Ergänzung zur haushaltswissenschaftlichen Perspektive dienen, um einen möglichst umfassenden analytischen Rahmen für den Gegenstandsbereich des Alltags in Familienhaushalten zu spannen. Die Grundlagen eines Alltagsmanagements werden in umfassender Weise zunächst mit dem Konzept der alltäglichen Lebensführung25 erfasst und beschrieben. Ein Mix aus theoretisch-konzeptionellen Überlegungen (Voß 1991) sowie empirischen Erhebungen und Analysen (Jurczyk, Rerrich 1993a; Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ 1995) schafft zu Beginn der 1990er Jahre, als Reaktion auf gegenwärtige gesellschaftliche Wandlungstendenzen (insbesondere die zunehmende Flexibilisierung der Erwerbsarbeitssphäre sowie die Veränderung der Lebensentwürfe und -verläufe von Frauen im Spiegel modernisierter Geschlechterrollen), eine neue Perspektive auf den Alltag und das Alltagsmanagement von Individuen. Aus einer subjektorientierten Perspektive erfasst die alltägliche Lebensführung die Art und Weise, wie Individuen tagtäglich in den unterschiedlichsten Settings und Beziehungen ihr Leben führen und ihren Alltag gestalten. Im Gegensatz zum Begriff des Lebensstils, der sich als Forschungsdisziplin parallel entwickelt und ausdifferenziert hat, geht es in diesem Konzept nicht um objektiv sichtbare und der Distinktion dienenden äußere Ausdrucksformen (deutlich etwa durch Konsum, Mode, Musik) oder typische Sinn- und Deutungsmuster, sondern um praktische Gestaltungsweisen, durch die Individuen den jeweiligen Umwelten entsprechend ihre Lebensweise gestalten und dabei diverse Settings des Alltags strukturell und emotional „unter einen Hut bekommen“ müssen. Diese Leistung entspricht der Arbeit des Alltags und ist als eine stetig wachsende Herausforderung anzusehen (vgl. Jurczyk, Rerrich 1993b; Voß 1995; Jurczyk, Voß, Weihrich 2016; Müller 2016).
Das theoretische Konzept der alltäglichen Lebensführung26 lässt sich nach Voß anhand von sieben Eckpunkten umreißen und wird damit in seiner Relevanz für das Alltagsmanagement besser greifbar (vgl. Voß 1995; Jurczyk, Voß, Weihrich 2016):
1) Alltägliche Lebensführung als Tätigkeitszusammenhang: Es geht um die Gesamtheit aller Tätigkeiten, die den Alltag von Personen ausmachen, um eine „alltägliche Synchronie des Lebens“ (Voß 1995: 30). Dies bewirkt eine phasenweise stabile Form des gelebten Alltags, der sich bspw. durch Routinen und Regelmäßigkeiten auszeichnet. Dem zugrunde liegen stets auch Sinnstrukturen, die jedoch nicht im Fokus des Konzeptes stehen – diesen bildet die gelebte Praxis.
2) Alltägliche Lebensführung als Zusammenhang und Form der Alltagstätigkeiten: Die integrative Perspektive ist dabei nicht an der Fülle aller Tätigkeiten interessiert, sondern an den einzelnen Lebensbereichen, die zur Betrachtung