Einführung in die systemische Sexualtherapie. Karina Kehlet Lins
wird auch oft ein +-Zeichen am Ende gesetzt, weil andere Menschen, die sich z. B. als Gender-fluid betrachten, so auch mit einbezogen werden können.
1Einleitung
Wenn man fragt, was Paare von Freunden unterscheidet, denken die meisten an Sex. Auch wenn man streng genommen vieles mit einem Partner macht, was man nicht unbedingt mit Freunden machen möchte, und man mit jemandem Sex haben kann, den man sich nicht als Lebenspartner wünscht, bleibt es nichtsdestotrotz so, dass Sex eine sehr wichtige Rolle für die meisten Paare spielt und das Thema deswegen eine besondere Bedeutung für unsere Beziehungen hat.
In der gegenwärtigen Kultur, die von wachsender Individualisierung und Traditionsbrüchen geprägt ist, wird die Paarbeziehung zunehmend als Mittelpunkt von Hoffnungen und Bestrebungen betrachtet. Zentral ist dabei die Transformation der Bedeutung von Intimität, die nach einem neuen Gleichgewicht zwischen dem Wunsch nach individueller Freiheit und der Möglichkeit der Bindung sucht. Es besteht ein großes Interesse daran, individuelle Zufriedenheit und gegenseitiges Engagement in Einklang zu bringen (Weeks, Heaphy a. Donovan 2001).
Während sich in der Gegenwart viele Veränderungen in Bezug auf Sex und Liebe vollziehen, stagnierte die sexualtherapeutische Entwicklung seit Mitte der 1980er-Jahre hingegen: Keine nennenswerten Neuigkeiten wurden gemeldet und damit ging eine Remedikalisierung der Behandlung von sexuellen Störungen einher (Clement 2004). Heutzutage ist es vor allem die pharmakologische Industrie, die Interesse an der Sexualforschung hat: mit dem Ergebnis, dass jetzt hauptsächlich untersucht wird, was bei sexuellen Herausforderungen von Menschen biologisch und physiologisch nicht stimmt. Das bedeutet, dass die vorherrschende Sicht der Wissenschaft geprägt ist von einem linearen Denken, bei dem eine bestimmte Ätiologie durch spezifische physiologische Prozesse zu einer Symptomatik führt, im Sinne von Stimulus und Respons. Diese Denkweise ist zu reduktionistisch, um gängige sexuelle Herausforderungen zu verstehen. Beispielsweise gibt es im klinischen Alltag öfters Männer, die unter Erektionsschwierigkeiten leiden und Viagra verschrieben bekommen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass diese Männer es wieder absetzen und stattdessen mit Beschwerden über ein niedriges Lustempfinden erneut auftauchen (z. B. Hall 2004). Die Bedeutung eines Symptoms scheint wichtig zu sein, wird aber übersehen, wenn man nicht das ganze Bild betrachtet.
Die Systemtheorie bietet einen konstruktiveren Rahmen, in dem es eine Verschiebung von dem individuellen psychopathologischen Denken zu einem Ansatz gibt, der auf die Verhältnisse zwischen den Individuen fokussiert. Systemisch gesehen schaut man auf das große Ganze, das Gesamtsystem ist mehr als die Summe seiner Elemente. Der Akzent in der systemischen Sichtweise liegt nicht mehr auf einem einzelnen Teil, sondern verschiebt sich auf den Umgang der Teile miteinander. Die Beziehung zwischen Klienten wird sozusagen der eigentliche Klient. Interessant wäre es zu wissen, wie der Partner des gerade erwähnten Mannes mit ihm umgeht und ob es eventuell Beziehungskonflikte gibt, die das Symptom, die ausbleibende Lust, verständlicher machen. Es ist sinnvoll, sexuelle Symptome im größeren Kontext zu betrachten, und die systemische Sexualtherapie bietet einen guten Rahmen dafür.
Die Forschung konzentriert sich jedoch bisher auf die Frage, wie oft Paare durchschnittlich Sex haben – über alles andere weiß man nur wenig (von Sydow u. Seiferth 2015). Und Diskussionen darüber, was genau Sex ausmacht, illustrieren sehr gut, dass jeder seine eigenen Ideen, Gefühle und Normen hat. Keine zwei Menschen denken gleich darüber, weshalb es ein verzwicktes Thema sein kann. Inwieweit man die gegenseitigen Erwartungen erfüllen kann, hängt sehr viel von Kommunikation ab. Für einen Therapeuten sollte es klar sein, wer entscheidet und was richtig und wichtig ist: nämlich der Klient. Im Sinne von Anderson und Goolishian (1992) ist eine Haltung des »Nichtwissens« aufseiten des Therapeuten hilfreich, damit der Klient seine eigene Wahrheit finden kann. Es gibt schließlich nicht die »eine« Wahrheit. Dementsprechend muss der Therapeut neutral bleiben und nicht eine standardisierte Sichtweise verfolgen. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen einer nichtwissenden Haltung der Neugierde und einem Therapeuten, der einfach nicht über ausreichendes Wissen für diese Arbeit verfügt. Es ist bedauerlich, wenn z. B. LGBTQ-Klienten ihre Therapeuten erst über ihren »anderen« Lebensstil aufklären müssen, weil eine Fülle an Forschungsliteratur zeigt, dass gerade diese Klienten mit der Behandlung in den psychologischen und psychiatrischen Diensten unzufrieden sind, in denen sie immer noch auf Vorurteile, Diskriminierung und offene Homo- und Transphobie stoßen (Butler 2009). Es liegt also in der Verantwortung des Therapeuten, sich Hintergrundwissen anzueignen. Man muss dabei kein Experte für LGBTQ-Angelegenheiten werden, denn auch homosexuelle Klienten kommen heute selten mit spezifischen Fragen in Bezug auf ihre sexuelle Orientierung in die Therapie, sondern haben die gleichen Fragen und Anliegen, mit denen heterosexuelle Klienten konfrontiert sind. Beziehungsprobleme sind im ganzen sexuellen Spektrum ähnlich (Kleinplatz 2013).
Es ist die Aufgabe des Therapeuten, die sich wiederholenden Muster, die Klienten in ungewollten sexuellen Dynamiken gefangen halten, zu unterbrechen und im Sinne der narrativen Systemtherapie die Klienten einzuladen, neue Geschichten zu erzählen, indem ihnen neue Fragen gestellt werden (Ogden 2012). Ein geringes sexuelles Verlangen kann ein gutes Urteilsvermögen widerspiegeln: Gesunde Menschen wollen keinen Sex, wenn es sich nicht lohnt, ihn zu wollen, oder wenn sie unter Druck stehen, ihn wollen zu müssen.
Allerdings ist Sex ein komplexes Phänomen. Es wird von biologischen, kulturellen, psychologischen und soziologischen Faktoren beeinflusst, für manche zählen auch noch religiöse Überzeugungen dazu. Der sexuelle Lebensverlauf kann sich wie eine spannende Entdeckungsreise anfühlen, kann aber auch eine Folge unerwarteter Enttäuschungen und Erlebnisse sein. Wie der sexuelle Entwicklungsprozess sich gestaltet, hängt u. a. davon ab, wie mit Sex zu Hause, in der Schule, im Austausch mit Freunden und in den Medien umgegangen wird – unser Umfeld prägt und beeinflusst uns sehr. In der Sexualforschung spricht man deswegen öfters von einem biopsychosozialen Modell.
Hinzukommt, dass niemals jemand die gleiche Sexualität hat wie ein anderer; keine zwei Menschen verfügen über die gleiche sexuelle Lebensbiografie, empfinden zur gleichen Zeit Lust oder werden durch genau die sexuellen Aktivitäten, die den Partner am meisten antörnen, erregt. Diese Verschiedenartigkeit kann man als bedrohlich ansehen und versuchen zu vermeiden, was bei vielen Paaren eine vorhersagbare – und vielleicht langweilige – Sexualität erzeugt. Wer sich nicht damit zufriedengeben möchte, findet gute Möglichkeiten, durch die systemische Sexualtherapie den Blick zu weiten.
1.1Die heteronormative Erzählung
Die Gründer der Sexualwissenschaft haben ein Modell der Sexualität konstruiert, dem wir nur schwer entkommen. Sie haben ein Modell angeboten, das insofern normativ war, als es heterosexuell, zeugungsfordernd und vor allem männlich orientiert war. Die weibliche Sexualität wurde stets als zweitrangig und responsiv gegenüber der männlichen Sexualität gesehen. Die Annahme war, dass es zwei deutlich voneinander abgegrenzte Kategorien gibt, nämlich Männer und Frauen, eine Dichotomie von Interessen, und diese »Wahrheit« wird in der heterosexuellen Struktur von Gesellschaft aufrechterhalten, wo alles andere als Abweichung von der Norm verstanden wird (Weeks 2017).
Obwohl Sex ein ständig präsentes öffentliches Thema ist, gibt es bei vielen Menschen weiterhin massive Wissenslücken (von Sydow u. Seiferth 2015). Viele Menschen messen Eigenschaften immer noch einem bestimmten Geschlecht zu. So wird beispielsweise Fürsorglichkeit als ein »weibliches« Verhalten bezeichnet. Wenn es als Persönlichkeitsmerkmal von Geburt an vorhanden ist, wird es durch den aktuellen Zeitgeist bei Jungen ignoriert oder ruft sogar negative Assoziationen vorher, während es bei Mädchen bestätigt und belohnt wird. Wenn dann das Sexualverhalten später außerhalb der Geschlechterrollenstereotypen verläuft, stellen Menschen oft ihre eigene Identität und Sexualität infrage. Theorien, Überzeugungen und Mythen über die Unterschiede zwischen Frauen und Männern ergeben fast eine Karikatur von »männlicher« und »weiblicher« Sexualität, in der sich Männer allein für Sex interessieren und Frauen nur durch liebevolle Intimität sexuell erregt werden können. Als ob Männer nicht auch Zärtlichkeit bräuchten und Frauen keinen Sex haben könnten, ohne dass er beziehungsorientiert