Einführung in die systemische Sexualtherapie. Karina Kehlet Lins
analysieren und zu verändern suchen und ressourcenorientiert arbeiten (von Sydow u. Seiferth 2015).
Auf theoretischem Niveau ist es eine Selbstverständlichkeit, das Thema Sex zu behandeln. Eine andere Sache ist es, sich in einer Sitzung aktiv damit zu befassen. Das fühlt sich für viele Therapeuten heikel an, vielleicht ist es sogar ein Thema, das manche überfordert. Wichtig ist zu wissen, dass sexuelle Krisen nicht unbedingt bedeuten, dass eine Beziehung auseinanderfällt – sie können sogar ein entscheidender Impuls für einen Wachstumsprozess des Paares sein. Als Therapeuten fühlen viele sich allerdings schlecht auf das Thema vorbereitet, nicht nur, weil es in den meisten Ausbildungen nicht thematisiert wird, sondern auch, weil zahlreiche Menschen sich immer wieder Gedanken oder Sorgen über die eigene Sexualität machen und die vielen Unsicherheiten, die damit verbunden sein können: ein wichtiger Punkt, sich mit der eigenen Sexualität zu beschäftigen, um als Therapeut gut mit dem Thema arbeiten zu können. Nur so wird einem bewusst, welche Themen einem eher liegen als andere, nur so versteht man die eigenen Werte und Vorstellungen von Sex besser und nur durch Selbstreflexion und den Austausch mit Kollegen sowie dem eigenen Therapeuten bzw. Supervisor kann man empathischer auf Klienten eingehen, denen es schwerfällt, in einer Sitzung offen über das Thema zu sprechen.
Die Sexualtherapie ist bei sexuellen Problemen auch von daher besonders effektiv, da andere Therapieformen diese nur als Symptome tieferer emotionaler Probleme betrachten. Bis zum Aufkommen der Sexualtherapie konnten Menschen Jahre auf der sprichwörtlichen Couch verbringen, ohne jemals ihre sexuellen Probleme direkt zu thematisieren (Hall 2004). Allerdings besteht ein großes Defizit an Ausbildungsmöglichkeiten in der Sexualtherapie und es ist äußerst selten, dass sie interdisziplinär angeboten wird (Kleinplatz 2012a). Dies kann mit der Vorstellung zu tun haben, dass, wenn man die Beziehungsdynamik verbessert, der Sex von alleine wieder funktioniert. Das kann durchaus passieren, wenn Paarkonflikte mit im Spiel sind. Allerdings geschieht es auch oft, dass sich zwar die Beziehungsdynamik verändert hat, der Sex aber trotzdem nicht besser wird. Veränderungen im Leben oder in der Beziehung vorzunehmen, um das zu korrigieren, was aus dem Gleichgewicht gekommen ist, führt nicht automatisch zu einem Wiederaufleben der sexuellen Lust. Außerdem kann man in Verhaltensmustern stecken und steckenbleiben, die das sexuelle Erleben auf einem sehr niedrigen Lustniveau aufrechterhalten.
Die Sexualwissenschaft würde den Menschen besser dienen, wenn sie sich mehr auf das sexuelle Vergnügen anstatt nur auf »genug Sex« konzentrieren würde. Erotik passt nicht gut zur Medikalisierung der Sexualität und der Betonung von Tumeszenz, Lubrikation, Orgasmus und »sexueller Gesundheit«. Die erotische Landschaft ist wesentlich größer, reicher und komplizierter als die Physiologie des Geschlechts oder ein Repertoire an Sexualtechniken. Paare in langjährigen Beziehungen, die einen erotischen Funken beibehalten haben, wissen, wie man auf lange Sicht ein Gefühl von Lebendigkeit, Lebensfreude und Vitalität pflegt. Sie verstehen, dass ein zentraler Akteur der Erotik die Fantasie ist. Nicht unbedingt Fantasien, die sich auf die Vielfalt neuer sexueller Positionen konzentrieren, sondern solche, die dazu beitragen, dass wir uns und unseren Partner weiterhin mit einer faszinierenden Neugierde betrachten und interessant und attraktiv für uns selbst bleiben (Perel 2010).
Die Forschung und klinische Untersuchungen können einen großen Beitrag zur Förderung der Inklusivität und zur Berücksichtigung der Vielfalt des gesamten Spektrums sexuellen Verlangens leisten (Meana 2010). Das menschliche Begehren gedeiht nicht, indem erklärt wird, was eine »richtige« oder eine »gute« Sexualität ist – Sexualität ist vielfältig. Und das Begehren will nicht in Kategorien eingeengt werden. Dafür ist Erotik zu anarchistisch.
Der systemische Grundgedanke, dass die sexuelle Funktion eines Partners immer einen Einfluss hat auf den anderen Partner, ist offensichtlich wichtig. Die systemische Sichtweise ist auch dann hilfreich, wenn man mit Menschen arbeitet, die Beziehungen außerhalb des traditionellen Verständnisses von Monogamie führen. Eine mittlerweile substanzielle Anzahl an Menschen lässt Ausnahmen davon zu. Manche Paare haben Verabredungen, dass man auf Geschäftsreisen mit anderen schlafen darf, andere haben die Regel, nur einmal mit dem gleichen und nur außerhalb des Freundeskreises Sex haben zu dürfen. Wieder andere haben eine feste Beziehung mit einem Dritten, der auf viele Weise in den Alltag mit einbezogen werden kann. Noch andere führen offene Beziehungen mit einem primären Partner und weiteren Liebespartnern. Und schließlich gibt es diejenigen, die polyamorös leben, wenn mehrere Partner gleichgestellt sind. Anders-gesagt: es gibt eine Vielzahl an Möglichkeiten, wie Beziehungen geführt werden, und es ist gut, sich zu vergegenwärtigen, dass Monogamie eher an eine Kultur gebunden ist, als dass sie einen universellen natürlichen Zustand darstellen würde (Weeks, Gambescia a. Hertlein 2016).
1.3Die vorherrschende Tendenz
Begriffe wie »gesund« und »normal« werden in der Sexualwissenschaft ständig benutzt und kommunizieren auf diese Art einen verengten Blick auf eine Sexualwissenschaft, in der die nicht biologischen Aspekte fast komplett ausgegrenzt werden (Meana 2010). Eine ähnliche Tendenz, die man sowohl bei Laien als auch Forschern beobachten kann, ist, dass sehr viele davon ausgehen, dass Menschen Sex haben möchten. Das heißt, wenn jemand mit nur geringer Lust in eine Sexualtherapiesitzung kommt, ist das Ziel für viele Therapeuten, die Lust zu erhöhen. Wer würde schließlich keinen Sex mögen? Also wird die Sitzung bestimmt von dem Ziel, herauszufinden, was die geringe Lust verursacht. Keiner fragt, warum der andere Partner mit dem höheren Lustlevel Sex haben will. Es wird einfach davon ausgegangen, dass Lust auf Sex angeboren und gesund ist (Hall 2004). Aber die Sichtweise, dass eine Störung des sexuellen Verlangens bei dem Individuum bestehen muss, das ein geringeres Bedürfnis zeigt, ist zu eingeschränkt. Es ist hilfreicher, das Symptom als Hinweis auf eine Diskrepanz zwischen dem sexuellen Verlangen beider Partner zu verstehen. Dieses alternative Verständnis lenkt den Therapeuten auf eine zwischenmenschliche Betrachtung des sexuellen Begehrens und weg von einer linearen Sichtweise, dass etwas innerhalb des Individuums »defekt« sei (Sanders 2003).
Mittendrin in Beziehungsproblemen haben nur wenige den Mut anzunehmen, dass die Überzeugungen, die wir mit vielen Paaren teilen, die Quelle unserer Probleme sind. Beispiele solcher Auffassungen sind, dass Lust spontan entstehen soll oder dass Sex immer Spaß macht. Wir denken, dass Probleme mit der Sexualität dadurch verursacht werden, dass wir fehlerhaft oder unnormal sind. Aber Probleme können gerade normale Reaktionen auf unrealistische Überzeugungen sein, die unsere Gesellschaft durchdringen. Letztendlich weichen wir alle ab von der Norm, aber nur in Bezug auf stark verzerrte Vorstellungen von Normalität (de Botton 2012).
Das Auftreten von Beziehungsschwierigkeiten generell ist allerdings kein Problem, das »gelöst« werden kann. Probleme sind ein fester Bestandteil einer Beziehung, die alle Paare irgendwann erleben, wenn sie lange genug zusammen sind. Es sind die unrealistischen Überzeugungen und Bilder von glücklichen Paaren, die uns nicht darauf vorbereiten, effektiv mit diesen Herausforderungen umzugehen. Die »Lösung« sexueller Schwierigkeiten kann eine persönliche Entwicklung erfordern, wie erotisches Wachstum und Reife, anstatt neue Techniken und Fähigkeiten zu erlernen (Schnarch 1997).
In diesem Sinne denken nicht viele daran, dass zum Beispiel ein Mann, der in Panik gerät, wenn er keine Erektion bekommt und so seine »Aufgabe« nicht erfüllen kann, bereits unter den Anforderungen von »normalem« Sex leidet, d. h. unter dem Paradigma, Leistung zeigen zu müssen (Apfelbaum 2012). Damit ist natürlich gemeint, dass sein Glied steif sein muss und zu funktionieren hat, wodurch Ängste entstehen können. Sowohl junge als auch ältere Menschen stellen heutzutage eine Abnahme ihrer Lust fest und suchen deswegen Hilfe. Männer mit niedrigem Lustniveau haben oft sekundäre Erektionsstörungen und glauben deswegen, keinen Sex »liefern« zu können (Leiblum 2010).
Eine schwache oder ausbleibende Lust ist eine der häufigsten Herausforderungen in der heutigen Sexualtherapie. Aus klinischer Sicht sehen wir viele Menschen, die ihren verminderten Wunsch bedauern und ihre sexuelle Leidenschaft wiederherstellen oder wieder entfachen wollen. Mehr und mehr Klienten beschreiben ihre sexuellen Probleme weniger entlang der Erzählstruktur »Es klappt nicht«, sondern eher als »Ich habe keine Lust mehr«. Damit ist die Bedeutung des Funktionierens in den Hintergrund gerückt, möglicherweise auch für diejenigen, die objektive