Was wir gewinnen, wenn wir verzichten. Christian Firus
Kollegen oder in sozialen Berufen gegenüber den Hilfesuchenden entwickeln. Emotional geht der Schwung für die Aufgaben des Alltags verloren, schließlich auch für die Dinge, die man eigentlich gerne tut.
Man könnte die leidvolle Burn-out-Symptomatik als eine Krankheit des »Zuviel« beschreiben. Ein Ausweg liegt im Weniger. Die Analogie zu einem leer gefahrenen Tank beim Auto kann verdeutlichen, um was es geht: Man wundert sich zunächst, dass man schon wieder tanken muss und stellt dann bei genauerer Betrachtung fest, dass das erhöhte Tempo, das Vollgasfahren, den Tank logischerweise schneller zur Neige brachte. Jeder Autofahrer weiß, dass ein langsameres, umsichtiges, vorausschauendes Fahren spritsparender ist und damit die Reichweite erhöht.
Bei uns selbst verhält es sich durchaus ähnlich: Vollgasfahren erschöpft schneller! Nur sehen wir das in der Regel nicht so rasch und anschaulich wie durch die Tankanzeige beim Auto. Und doch: Die oben erwähnten Frühwarnzeichen könnten bei besserer Kenntnis helfen, rechtzeitig gegenzusteuern. Beim Auto leuchtet das unmittelbar ein, bei uns selbst anscheinend nicht. Ich behaupte, dass die meisten Menschen mit ihrem Auto pfleglicher umgehen als mit sich selbst. Und das, obwohl ein Auto viel leichter zu ersetzen ist.
Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass Leistung in unserer Gesellschaft einen extrem hohen Stellenwert hat. Schon im Kindergarten beginnt für nicht wenige Eltern die Vorbereitung auf die spätere Karriere. Der Druck setzt sich in der Schule und dem Studium fort – mit spürbaren Folgen: einer Zunahme von Burn-out und anderen seelischen Erkrankungen in dieser frühen Lebensspanne. Das ist in doppelter Weise bedeutsam. Es beeinträchtigt die Entwicklung in jungen Jahren leidvoll und erhöht die Wahrscheinlichkeit für wiederholte seelische Krisen und Erkrankungen im weiteren Leben.
Der frühe Leistungsdruck spiegelt sich allerdings auch in einer einseitigen Priorisierung von sogenannten Kernkompetenzen wider, die immer weniger Zeit für die vermeintlich unbedeutenden musisch-künstlerischen und sportlichen Fächer lässt. Das gilt für die Schule und die Freizeit. Diese Schwerpunktsetzung ist fatal, weil sie einerseits durch das Wegfallen von Sport- und Bewegungsangeboten den Zivilisationskrankheiten schon früh die Türe öffnet, andererseits die Entwicklungs- und Reifungsmöglichkeiten unseres Gehirns durch Einseitigkeit beschneidet. Denn es ist heute wissenschaftlich gut belegt, dass Bewegung und künstlerisch-musische Betätigung unserem Gehirn beim Reifen und Regenerieren helfen und somit das Lernen erleichtern.2 Und so kommt es zu dem verrückten Paradoxon, dass die einseitige Verlagerung der Unterrichtsinhalte auf Wissensvermittlung in den vermeintlichen Kernkompetenzen genau diesen Wissenszuwachs behindert.
Das »Lassen« durch ein bewusstes Weniger auf unterschiedlichen Ebenen wird zu einem wichtigen Ausweg aus der Krise. Zu ihm gehört auch das Nein-Sagen, ohne das ein Lassen nicht geht. Dass dies meist ein Ja zu mir selbst bedeutet, wird oft erst im Laufe eines inneren Prozesses deutlich, der nicht nur einfach ist. Dieses Ja zu mir selbst bedeutet einen Abschied von Perfektion und Selbstoptimierungszwang, unter dem viele Menschen zunehmend leiden. Im Vergleich mit anderen scheint immer etwas unzureichend und verbesserungswürdig. Hier liegt eine Triebfeder für die beschriebene Dynamik von schneller, höher, weiter, besser, erfolgreicher.
Die gegenwärtig an Fahrt gewinnende Klimadebatte sowie der extreme Ressourcenverbrauch der Menschheit machen auch global deutlich, dass wir, unsere Nachkommen, die Menschheit als Ganzes nur eine Chance haben werden zu überleben, wenn uns ein Weniger gelingt. Dass dies nicht mit einer miesepetrigen Stimmung einhergehen muss, sondern durchaus von Freude und Dankbarkeit geprägt sein kann, davon möchte ich in diesem Buch berichten.
Darf’s auch ein bisschen weniger sein? Vielleicht werden Sie am Ende der Lektüre dieses Buches darauf mit Ja antworten, aus freien Stücken und mit einem guten Gefühl. Das wünsche ich Ihnen und uns als menschliche Gemeinschaft! Übrigens sind Sie längst nicht mehr alleine mit diesem Thema. Vielmehr entwickelt sich spätestens seit der weltweiten Bewegung von Fridays for Future eine neue Sichtweise auf ein eigentlich uraltes Erfahrungswissen. Aus der Angst, etwas zu verpassen und abgehängt zu werden und deswegen zu konsumieren und hinterherzujagen (FOMO = Fear of missing out), entwickelt sich mehr und mehr die Lust am Lassen (JOMO = Joy of missing out)! Lassen Sie uns dabei sein und gemeinsam neue Erfahrungen machen mit diesem lebendigen und lebensverlängernden Elixier!
Ist Hans ein Loser oder ein Held?
Was wir von Hans im Glück lernen können
Ich glaube, es kommt nicht so sehr darauf an,
was wir sehen können, sondern vielmehr darauf,
wofür wir unseren Blick öffnen.
Ralf Isau, Der silberne Sinn
Hans hatte sieben Jahre bei seinen Herren gedient. Vermutlich handelte es sich um die vereinbarte Zeit, vielleicht die seiner Ausbildung, darüber jedenfalls spricht das Märchen nicht. Sein Meister dankt ihm und entlässt ihn mit einem Stück Gold als Lohn, ein Zeichen dafür, dass Hans rechtschaffen und schwer gearbeitet hatte. Glücklich packt Hans den Goldklumpen in ein Tuch und macht sich auf den Heimweg zu seiner Mutter. Da dieser Goldklumpen offensichtlich ordentlich groß ist, beginnt er ihn schon bald zu drücken, was offensichtlich ein herannahender Reiter bemerkt. Für diesen scheint es ein Leichtes zu sein, Hans von einem Tausch »Gold gegen Pferd« zu überzeugen. Hans willigt überglücklich und dankbar in diesen Tausch ein und schwingt sich auf das Pferd, um seine Reise fortzusetzen.
Zunächst fühlt Hans sich vom Glück begünstigt und so lässt er das Pferd bald schneller reiten. Da er jedoch des Reitens unvertraut ist, fällt er rasch vom Pferd und landet unwirsch in einem Graben. Dies sieht zufällig ein herannahender Bauer, der eine Kuh vor sich hertreibt. Da Hans nach dieser Erfahrung keinesfalls wieder das Pferd besteigen möchte, willigt er in einen erneuten Tausch »Pferd gegen Kuh« unverzüglich und freudestrahlend ein. Hans hatte diesen Tausch auch unter der Vorstellung vollzogen, dass er seine Kuh jederzeit melken könne, um damit seinen Durst zu stillen. Als er dies jedoch im ersten Anlauf nicht zustande bringt, sondern vielmehr noch einen Tritt kassiert, ist er wiederum heilfroh, dass ein weiterer Bauer bereit ist, die Kuh gegen ein Schwein zu tauschen.
Wenig später begegnet Hans einem jungen Mann mit einer gemästeten Gans. Sie kommen ins Gespräch und Hans erzählt freimütig von seinen glücklichen Tauschgeschäften. Listig erfindet der junge Mann die Geschichte eines entlaufenen Schweins im Nachbardorf und bietet großzügig seine Hilfe an, die darin besteht, das Schwein gegen seine Gans zu tauschen. Hans, wie könnte es anders sein, willigt erneut dankbar und freudestrahlend ein und setzt seine Wanderschaft nun mit der Gans fort. Er gelangt in ein Dorf und trifft auf einen munteren Schleifer, der ihn schon bald davon überzeugt hat, dass das Handwerk des Scherenschleifens eines der auskömmlichsten ist. Es kommt wie es kommen muss, Hans und der Schleifer tauschen Gans gegen Wetzstein. Auch dieser Stein ist nicht leicht und so ruht sich Hans schließlich bei nächster Gelegenheit an einem Brunnen aus. Als er den Wetzstein am Brunnenrand ablegt, um sich zum Trinken herabzubeugen, fällt ihm der Stein in die Tiefe des Brunnens. Als Hans dies bemerkt, springt er vor Freude auf, kniet sich nieder und dankt seinem Gott unter Tränen, dass er ihm diese Gnade erwiesen hat, ihn von einem schweren Stein zu befreien. Laut ruft er aus: »So glücklich wie ich gibt es keinen Menschen unter der Sonne, ich muss in einer Glückshaut geboren sein.« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last setzt er den Weg zu seiner Mutter nach Hause fort.
Was für ein Märchen! Es bricht mit allem, was man üblicherweise von Märchen erwartet. Kein verwunschener Prinz wird wachgeküsst, kein Dornröschen befreit aus hundertjährigem Schlaf, kein Wolf getötet und in den Brunnen geworfen. Vielmehr scheint es die Geschichte eines Tölpels und Antihelden zu sein, eines Versagers auf der ganzen Linie. Wie soll man sich an solch einem Typen ein Beispiel nehmen?
Und doch hatten die Gebrüder Grimm offensichtlich gute Gründe, auch dieses Märchen in den Kanon ihrer berühmten Sammlung aufzunehmen und es auch noch Hans im Glück zu nennen. Ich vermute, dass die Frage, was denn das für ein Glück sein soll, nicht nur aus der heutigen Perspektive, sondern schon zu Zeiten der Gebrüder Grimm eine war, die zum Nachdenken Anlass gab. Wenn es etwas gibt, was Hans kann und offensichtlich als Glück empfindet, dann ist es das Lassen, das Verzichten. Ganz offensichtlich spürt er einen Zugewinn an Freiheit, je mehr