Was wir gewinnen, wenn wir verzichten. Christian Firus
so vor Fragen und Wissensdurst. Er zählte dem Meister seine akademischen Titel auf und klagte ihm seine Verzweiflung über all die nicht beantworteten Fragen im Leben.
Der Meister schwieg. Dann sagte er: »Ich mache dir einen Tee.« Ungeduldig wartete der Professor, bis der Meister mit einer Tasse zurückkehrte. Tee trinken?, fragte sich der weit gereiste Gast insgeheim. Ich bin doch gekommen, um Antworten zu bekommen. Ob diese Reise wohl umsonst war? Gedanken schwirrten durch seinen Kopf und als er gerade aufstehen wollte, kehrte der Zen-Meister mit einer Kanne frisch aufgebrühten Tees und einer Tasse zurück. Eine Tasse Tee nach der langen Reise schadet ja nicht, bevor ich gehe, dachte sich der Professor und blieb.
Der alte Mann begann einzuschenken. Der dampfende Tee lief in die Tasse. Immer weiter und weiter. Auch als die Tasse längst voll war und sich das heiße Getränk über den Rand auf die Untertasse ergoss, hörte er nicht auf zu gießen. Erschrocken sprang der Professor von seinem Stuhl auf. »Halt! Genug!«, rief er. »Die Tasse ist doch voll! Sehen Sie das nicht?«
Da hielt der Meister inne und schaute seinem Gast zum ersten Mal ins Gesicht. Seine faltigen Augen umspielte ein Lächeln. Plötzlich sah der Mann gar nicht mehr so gebrechlich aus. Weisheit und Lebenserfahrung strahlte jede Faser seines Körpers aus.
»Genauso wie mit dieser Tasse, ist es auch mit dir«, sprach der Meister ruhig. »Du bist vollgefüllt. Mit Fragen, mit Wissen, mit Vorurteilen. Wie kann ich dir da noch Antworten geben, wenn kein Platz mehr ist? Erst wenn du deine Tasse leerst, hast du wieder Platz. Für Neues, für Einsichten, für Antworten.«6
Als ich Herrn W. das erste Mal bei der Visite kennenlernte, dachte ich sofort: Was für ein sympathischer Mensch, der mich gleich so anstrahlt, was wird dem wohl fehlen? Als ich ihn darauf ansprach, berichtete er mir, dass das genau sein Problem sei. Immer habe er anderen geholfen, sei es beim Hausbau, bei der Arbeit oder in der Familie, er habe das gerne gemacht und gar nicht bemerkt, wie er sich selbst dabei im Laufe der Zeit aus den Augen verloren habe. Als er dann eines Tages im Rahmen von Umstrukturierungen seiner Firma die Kündigung erhalten habe, sei für ihn die Welt zusammengebrochen. Wie vom Donner gerührt sei auf einmal sämtliche Energie aus ihm gewichen, er habe sich zu nichts mehr motivieren können, nicht einmal zu an sich freudvollen Dingen. Er habe sich zurückgezogen, auch weil er sich geschämt habe. Auch sei er von seinen Freunden und Bekannten enttäuscht gewesen, die sich so gar nicht um ihn, der sonst so hilfsbereit war, gekümmert hätten. Das Gefühl von völliger Erschöpfung und Niedergestimmtheit sei auch jetzt, zwölf Monate nach der Kündigung, noch nicht ganz gewichen.
Ich spreche ihn nochmals auf sein strahlendes Auftreten an und teile ihm mit, dass man all das bei ihm ja gar nicht vermuten würde. Nachdenklich fragt er nach, ob andere vielleicht dadurch seine Bedürfnisse gar nicht wahrnehmen würden und er auch deswegen keine Unterstützung erfahre. Diese Gedanken sind der Beginn einer intensiveren Auseinandersetzung mit seinem Auftreten, dem Wahrnehmen und auch Äußern der eigenen Bedürfnisse. Herr W. merkt dabei mehr und mehr, dass er durch sein permanentes Engagement für andere bis zum Rande, bis zur Erschöpfung, voll war. Und er äußerte den Wunsch, daran etwas zu verändern.
In den folgenden Gesprächen beschäftigen wir uns zunächst mit den guten Gründen für dieses Überengagement. Denn wir eignen uns kein Verhalten ohne Grund an. Herr W. erkennt rasch, dass er durch seine Art immer viel Anerkennung erhalten habe. Schon in seiner Kindheit und Jugend sei das so gewesen, das habe ihn gefreut und sein Verhalten bestärkt. Ich erkläre ihm, dass daran nichts verkehrt sei. Dass wir uns allerdings Gedanken darüber machen sollten, woher denn bei einer Verhaltensänderung in Zukunft Anerkennung und Wertschätzung kämen.
Schließlich stoßen wir auf die Frage von Selbstwert und Selbstmitgefühl. Herr W. bemerkt, dass er sich selbst gegenüber meist kritischer sei, als andere ihn beurteilen würden. Mit sich selbst sei er eigentlich nie oder nur kurz und vorübergehend zufrieden. Daraus ergibt sich eine Aufgabe, die ich ihm ans Herz lege: Schreiben Sie jeden Tag wenigstens eine Sache auf, die Sie an sich mögen, und finden Sie etwas, womit Sie bei sich selbst zufrieden sind. Als Fortgeschrittenenübung beginnen Sie in einem weiteren Schritt danach Ausschau zu halten, worauf Sie bei sich selbst stolz sind.
Um etwas zu verändern, muss ich zunächst bemerken, dass das Glas voll ist beziehungsweise die Teetasse wie in unserer Zen-Geschichte überläuft. Der eigene Körper kann uns dabei helfen, er gibt meist ein recht gutes Feedback. Schlafstörungen, Unwohlsein, unerklärbare Schmerzen an unterschiedlichsten Stellen des Körpers, grundloses Schwitzen, Herzrasen, Appetitverlust oder unkontrolliertes Essen können Hinweise dafür sein, dass etwas nicht stimmt. Auch Gedanken von Überforderung, Fluchttendenzen aus Beziehungen oder innere Kündigung bei der Arbeit sind Warnzeichen. Und natürlich auch zunehmende Erschöpfung verbunden mit mangelnder Erholungsfähigkeit. Herr W. bestätigte mir im Laufe unserer Gespräche eine Menge der genannten Symptome. Er hatte sie nur nicht ernst genommen.
Männer tun sich damit leider immer noch viel schwerer als Frauen. Sie meinen, um jeden Preis durchhalten zu müssen und verbuchen es als Schwäche, sich Hilfe zu holen. Das Gegenteil ist der Fall: Unterstützung annehmen können, zeugt von Kompetenz und Stärke.
Wir sind den beschriebenen »Völlegefühlen« keineswegs hilflos ausgeliefert. Welche Möglichkeiten der Gegenregulation es gibt, zeigen die folgenden Kapitel.
Damit ich etwas Neues aufnehmen kann, braucht es Platz. Das gilt für Körper, Geist und Seele. Was für den Körper am Beispiel der Ernährung zutrifft, ist auch auf Seele und Geist übertragbar. Die letzte Mahlzeit muss erst verdaut sein, damit die nächste vom Körper aufgenommen werden kann. Neue Impulse und Anregungen brauchen genauso Zeit, um sich zu setzen, und Multitasking verschlechtert erwiesenermaßen unsere Gehirnleistung. Und jeder Leistungssportler weiß, dass er nach einem intensiven Trainingsreiz regenerieren muss, um sich nicht in eine Leistungsverschlechterung hinein zu trainieren. Ein- und Ausatmen sind von jeher die natürlichen Taktgeber des Lebens. Nur einzuatmen, funktioniert nicht nur nicht, es ist auch mit dem Leben nicht vereinbar. Der Körper braucht nicht nur Sauerstoff, er muss auch das Kohlendioxid loswerden. Ohne die körperlichen Ausscheidungsprozesse kommen die Organfunktionen rasch zum Erliegen.
In die gleiche Richtung weisen aktuelle Erkenntnisse der Ernährungs- und Fastenforschung. Während über die gesamte Entwicklungsgeschichte der Menschheit seit zwei- bis dreihunderttausend Jahren mehr oder weniger lange Essenspausen unfreiwillig die natürliche Regel waren, nehmen wir heute sieben bis neun und manchmal noch mehr Mahlzeiten inklusive aller Snacks und Knabbereien pro Tag zu uns. Die Konsequenzen sind schon heute sichtbar: eine enorme Zunahme der sogenannten Zivilisationskrankheiten.
Wenn wir unseren Körper bei der Ernährung nicht mehr in Ruhe lassen, gerät er nicht nur aus dem Takt, sondern reagiert mit einer Stressantwort, die sich in einer messbaren Erhöhung von Entzündungsparametern abbildet. Das Gegenteil geschieht in Fastenintervallen, die vermutlich zwischen 14 bis 16 Stunden liegen müssen: Körperzellen bauen schadhafte Zellbestandteile ab und recyceln sie wieder. Dieser geniale Mechanismus heißt Autophagie. Für seine Entdeckung erhielt der Japaner Yoshinori Ohsumi im Jahr 2016 den Medizin-Nobelpreis.7
Es gehört zu unserem evolutionsbiologischen Erbe zwischen den Mahlzeiten nichts zu essen. Intuitiv wussten das auch noch unsere Eltern. Erst in den letzten 30 bis 40 Jahren hat sich daran etwas grundlegend geändert. Vergleicht man die Gesamtzeit der Menschheitsgeschichte, dann entspricht dies ungefähr der letzten Sekunde von 24 Stunden. Unser Genom (die genetische Grundausstattung) und vor allem unser Mikrobiom (die mit uns in engster Wechselwirkung lebenden Darmbewohner – Bakterien, Viren, Pilze und Einzeller) werden sich so schnell nicht auf diese Veränderungen einstellen, mit Sicherheit nicht zu unseren Lebzeiten.
Das müssen wir schon selbst tun, wenn wir aktiv zu mehr Gesundheit beitragen wollen, und zwar in umgekehrte Richtung, sozusagen zurück zu unseren (evolutionsbiologischen) Wurzeln.
Es braucht also Raum und Zeit, damit Bestehendes verdaut und integriert werden kann und damit Neues seinen Platz findet und sich entwickeln kann. Wir existieren überhaupt nur, weil es Raum gibt – in mir und um mich herum. Körper, Seele und Geist brauchen diesen Raum, sonst droht Krankheit. In der gegenwärtigen Welt, in der alles jederzeit verfügbar ist, müssen wir aktiv für diesen Raum sorgen. Von selbst entsteht er nicht. Körperlich