Kakanien oder ka Kakanien?. Группа авторов

Kakanien oder ka Kakanien? - Группа авторов


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Sich-aus-dem-Weg-Gehen gleichwohl – oder gerade weil es der sozialromantischen Illusion des Miteinanderlebens unterschiedlicher Gruppen entsagt – als erfolgreich apostrophiert werden kann, gibt nicht nur, aber auch dann zu denken, wenn man es als Modell auf die gegenwärtige Situation in Europa zu übertragen sich anschickt.

      Just dies hat in einem im Rahmen der von Altbundespräsident Heinz Fischer koordinierten Gedenkfeierlichkeiten Österreich100: 1918–2018 entstandenen kurzen Dokumentationsfilm niemand Geringerer als die nachmals als Organisatorin des Opernballs breitenwirksam tätig gewordene Schauspielerin Lotte Tobisch-Labotýn (1926–2013) angeregt, selbst durch ihre familiäre Herkunft eine gleichsam exemplarisch heutige Repräsentantin dieser Welt von Gestern, als sie zu Protokoll gab, man müsse die Anderen ja nicht lieben und auch nicht gemeinsam mit ihnen leben, solange man sie aber einfach in Ruh’ lasse. Gerade angesichts der salbungsvollen Reden zum 100. Jahrestag der Republiksgründung, die sich – mit wohltuender Ausnahme der Kärntner slowenischen Schriftstellerin und Festrednerin Maja Haderlap – allesamt darin gefielen, diese Chimäre des Gemeinsamen zu beschwören, ohne auch nur im mindesten anzugeben, worin es denn nun eigentlich bestehe noch wie es sich jenseits der rhetorischen Anrufung politisch konkret herstellen oder stärken ließe, mutet der von Tobisch im dezidierten Rückblick auf das lange Zeit gültige Erfolgsgeheimnis sowohl zunächst der Habsburger-Monarchie als auch später der jungen Zweiten Republik anempfohlene pragmatisch-nüchterne Zugang vergleichsweise rationaler und jedenfalls realistischer an.

      Mit diesen ausgewählten Schlaglichtern und Hinweisen sei einleitend lediglich der für die Konzeption des Bandes – neben dem äußerlichen Zufall der 8er-Jubiläen, die sich 2018 mehrten: 1918, 1938, 1968 (man könnte ihnen auch 1848 oder 1948 zurechnen) – initialzündende Befund des Literaturwissenschaftlers Josef Strutz unterstrichen, dass Kakanien „als eine Metapher für den Zustand der Zeit ungleicher Bewegungsabläufe, inhomogener gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen sehr produktiv sein“ könne (Strutz 1987, 14 f.). Dieser gut 30 Jahre alte Befund scheint auch in den Jahren 2018 ff., 100 und mehr Jahre nach der Republikwerdung Österreichs 1918 und unabhängig von jeder expliziten Bezugnahme auf Musils in den 1920er Jahren konzipierte Beschreibung des Begriffs in seinem 1930 erschienenen Magnum opus Der Mann ohne Eigenschaften, nichts an Triftigkeit eingebüßt zu haben. Von der ungebrochenen Attraktivität der Bezeichnung im Kontext nicht nur literaturwissenschaftlicher, sondern auch (zeit)geschichts- und gesellschafts-wie politikwissenschaftlicher Untersuchungen zeugt eine Vielzahl von einschlägigen Veröffentlichungen, die sie dem Namen oder der Sache nach im Titel führen, der Ausdruck ist als Schlagwort weit über den Literaturbetrieb im engeren Sinne und auch über den akademischen Diskurs hinaus in den wenn nicht umgangs-, so doch alltagssprachlichen Gebrauch diffundiert.

      – Wieviel Kakanien steckt im heutigen Österreich? Wieviel in den Nachfolgestaaten der Habsburger-Monarchie?

      – Welche kakanischen Anteile weisen Herr und Frau Österreicher immer noch (oder wieder oder immer) auf, welche die Nachbarinnen und Nachbarn?

      – Auf welchen Ebenen tradiert sich, was mit und seit Musil mit der Metapher „Kakanien“ bezeichnet wird, bis in die österreichische und europäische Gegenwart, wo liegen Kakaniens Grenzen in einem „vereinten“ Europa, dessen Fragilität sich kaum leugnen lässt?

      – Was lehrt uns der Blick auf Kakanien in Geschichte und Gegenwart?

      – Wie lernen wir einen zugleich selbstbewussten und kritischen Umgang mit unserer kakanischen (Nicht-)Identität?

      – Und wie lehren wir andere einen solchen Umgang, sowohl im Sinne einer bewussten Reflexion und lückenlosen Aufarbeitung der (eigenen) Geschichte als auch einer mündigen Auseinandersetzung mit der politischen Gegenwart?

      Geprüft wird in den hier versammelten Beiträgen daher – im Gefolge des erwähnten äußeren Anlasses (100-Jahr-Feier der Republik 2018) ebenso wie einer gleichzeitig registrierten sachlichen Notwendigkeit (angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in Österreich insbesondere, aber auch in Europa allgemein) folgend – die von Musil beanspruchte exemplarische Geltung des von ihm entworfenen und mit der Bezeichnung „Kakanien“ versehenen Chronotopos (vgl. Wolf 2011, 604), und zwar im Blick auf die zeitlich wie geographisch verstreuten Spiegelungen, die derselbe in den (keineswegs einsprachigen noch sonst einheitlichen) Literaturen des ehemaligen Habsburgerreiches erfahren hat und erfährt. Von Interesse sind dabei nicht so sehr die wissens- (vgl. ebd.) denn vielmehr die diskursgeschichtlichen Möglichkeitsbedingungen dessen, wofür die Metapher steht. Diese sind es nämlich, die eine (nicht nur im engeren Sinn diskurs-, sondern beispielsweise auch psycho- und sozio-)analytische Betrachtung der Themen- und Text-Konstellation „Kakanien“ in ihrer gesamten Tragweite erlauben, was die Frage nach deren Kontinuität oder Diskontinuität zwischen 1918 und heute betrifft.

      Der Fokus des Bandes liegt aus diesem Grund weniger auf (ob von ihrer Entstehung her älteren oder jüngeren) ,literarischen Streifzügen durch eine versunkene Welt‘ (vgl. Lipiński 2000) als vielmehr auf den ,kakanischen (Kon-)Texten‘ (vgl. Becher 2014) einer in manchen Aspekten alles andere als vergangenen Epoche – einer Epoche, die vielleicht unter unser aller Augen fröhliche Urständ’ zu feiern sich anschickt. Damit folgt der Band im Wesentlichen der gleich betitelten 58. Literaturtagung des Instituts für Österreichkunde, die unter der wissenschaftlichen Leitung des Herausgebers von 15. bis 17. November 2018 im Hippolyt-Haus St. Pölten gemeinsam mit der Abteilung für Fachdidaktik des Instituts für GermanistikAECC an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und in Kooperation mit dem Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv ebenda abgehalten wurde.

      Diesen einleitenden Bemerkungen folgen zwei literarische Beiträge der beiden Autoren, die im Zuge der Tagung aus ihren thematisch einschlägig gelagerten Werken gelesen haben: Für die Genehmigung zum Abdruck eines Kapitels aus ihrem Essay-band Kaiser, Krieger, Heldinnen. Exkursionen in die Gegenwart der Vergangenheit (Innsbruck, Wien: Haymon 2018) gilt der Wiener Schriftstellerin Bettina Balàka nicht minder herzlichster Dank wie dem in Bratislava tätigen slowakischen Schriftsteller Pavol Rankov und seiner Übersetzerin ins Deutsche, Frau Ines Sebesta, für die Erlaubnis zum Vorabdruck eines Auszugs aus dem im Original 2011 erschienenen Roman Matky (Banská Bystrica: Edition Ryba). Den ersten Teil der wissenschaftlichen Beiträge unter der Rubrik Kakanien im Wandel – Annäherungen eröffnet Ernst Bruckmüllers Aufsatz Musils Kakanien – die Frage nach dem Realitätsgehalt eines literarischen Topos, worin der Referent das nämliche Kapitel in Musils Mann ohne Eigenschaften – sonst gern als reale Beschreibung jener versunkenen Welt interpretiert – zum Anlass intensiver Reflexion nimmt. Unter anderem erinnert er daran, dass auch die vorgeblich so neutrale Beschreibung jenes eigenartigen Staatswesens immer durch die Musil’sche Ironie gebrochen ist, bevor er als Belege dafür die Beschreibung der vielen Charaktere einer Person sowie das Nicht-Zusammenpassen von Österreich und Ungarn als Gewand-Gleichnis diskutiert. Im zweiten Beitrag befasst sich Peter Becher unter dem Titel Kakanische Nachdenklichkeiten oder die allmähliche Verwandlung eines historischen Phänomens mit dem Wandel der Bilder von der frühen staatslegitimierenden Bezugnahme auf die Donaumonarchie über das Wechselspiel von nostalgischer Identifikation und nationaler Distanzierung bis zur Etablierung einer hybriden Bildrealität, die unauflösbar fiktionale und rekonstruierbare Elemente mischt. Während die quellenkritisch legitimierte Diskussion der Wissenschaft (Rauchensteiner, Suppan, Clark, Judson) unvermindert anhalte und ein komplexes Bild der Donaumonarchie vermittle, so Becher, finde zugleich in der Öffentlichkeit ein fröhlich beschwingter Substanzverlust statt. Dabei würden die wissenschaftlich erarbeiteten Bilder durch die Dynamik der medialen Entwicklung


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