Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick. Sabria David
sie sich wiederum auf die Gesellschaft und unseren öffentlichen Raum aus: Wird es demnächst noch Straßenschilder und Wegweiser geben, wenn sich die Menschen zunehmend mit Navigationssystemen orientieren? Gibt es dann noch einen Weg zurück, wenn das Navi ausfällt? Welche Auswirkungen hat es auf die Weltmärkte, wenn Hochfrequenzhandel nur noch automatisiert erfolgt? Verändert es die Gesellschaft, wenn nicht mehr Busfahrer, sondern künstliche Stimmen die Haltestellen ansagen?
Alle Digitalisierungsprozesse sollten auch auf mögliche gesellschaftliche Auswirkungen überprüft werden. Das hilft, Digitalisierung wirklich produktiv, sinnvoll und effektiv – zum Guten – zu nutzen, damit sie ihre Potenziale entfalten kann. Herauszufinden und zu definieren, was dieses »gut« für uns bedeutet, ist dabei eine wichtige gesellschaftliche Debatte, der wir nicht ausweichen sollten. Sie wird uns helfen, eine positive Vision zu entwickeln, die unserer Gesellschaft eine Richtung gibt.
Wenn es üblich wird, sich ausführlich im Einzelhandel zu beratungsintensiven Produkten beraten zu lassen und dann nach Hause zu gehen und sie sich online billiger zu bestellen, wird das Folgen haben. Es wird Folgen für die Geschäfte haben, die ihre Ladenmieten und die beratenden Mitarbeiter bezahlen müssen, ohne ihre Produkte verkaufen zu können. Werden diese Läden aufgegeben, wird sich das auf unsere Innenstädte auswirken, auf unseren öffentlichen Raum, auf uns alle. Man kann das so entscheiden. Aber an den Folgen ist nicht die Digitalisierung schuld, sondern eher ein gesellschaftliches Klima, in dem Solidarität kaum Wert hat und das isolierte Betrachten des Eigeninteresses legitimiert und begünstigt wird.
Alles hängt mit allem zusammen, ob wir wollen oder nicht. Gerade in Zeiten der Globalisierung. Die seltenen Erden in unseren Mobiltelefonen stammen aus afrikanischen Ländern, in denen Bürgerkrieg herrscht, vor dem Menschen nach Europa fliehen. Unsere preisgünstigen Möbel bestehen aus Sperrholz, für das in Rumänien Wälder abgeholzt werden. Unsere T-Shirts werden in asiatischen Textilfabriken hergestellt, in denen Kinder arbeiten, anstatt zur Schule zu gehen. Ein Virus kann sich über unsere Reiseroutinen blitzschnell um den Globus verbreiten. Und wenn die weltweite Zulieferung von Autoteilen, Desinfektions- und Arzneimitteln sich auf wenige Monopole einer Weltregion beschränkt, betrifft uns das alle. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Wenn wir also von Verantwortung sprechen, müssen wir von uns sprechen. Denn wir können zwar die Digitalisierung von den Folgen der Veränderungen freisprechen, aber nicht uns selbst. Wir tragen die Verantwortung dafür, wie wir mit einem so mächtigen Instrument wie digitaler Technik umgehen. Wir tragen die Verantwortung dafür, wo wir ihre Fähigkeiten nutzen und wo wir auf das Machbare verzichten, weil es uns in die falsche Richtung führt.
Was aber ist die falsche Richtung? Also: Was ist die richtige Richtung? Wo wollen wir hin? Wo wollen wir hin mit uns, mit unserer Gesellschaft? Wo soll uns unser Fortschritt hinführen?
Das genau ist unsere Verantwortung: Uns Gedanken darüber zu machen, welche digitale Gesellschaft wir überhaupt haben wollen; inmitten von ständiger Veränderung den Mut zu Visionen zu haben, und die Welt um uns herum so zu gestalten, wie wir es erstrebenswert finden.
Dafür müssen wir aber zuerst verstehen, was überhaupt mit uns passiert, mit diesem digitalen Wandel. Der digitale Wandel ist wie ein Resonanzkörper. Er macht gesellschaftliche Prozesse sichtbar, er eskaliert Herausforderungen, er spiegelt menschliche Bedürfnisse und gesellschaftliche Mankos wider. Wie durch eine Glaskugel können wir in das Innere unserer Gesellschaft sehen. Wir finden dort unsere große Welt im Kleinen. Deswegen müssen wir, wenn wir nach der Digitalisierung fragen, immer auch nach dem großen Ganzen der Gesellschaft fragen – wenn wir ehrlich zu uns sind.
Durch die Digitalisierung stehen wir unausweichlich vor Veränderungen, die uns zwingen, unsere Grundannahmen zu überprüfen und unsere Prozesse anzupassen. Die Digitalisierung ist eine große Infragestellung aller unserer gewachsenen Routinen – und das ist gut so! Die guten und wichtigen Traditionen können wir so erkennen und wiederbeleben. Von Routinen und Annahmen, die uns schaden oder bremsen, können wir uns trennen und Raum für geeignetere Lösungen schaffen. Was Digitalisierung angeht, müssen wir unsere Gesellschaft ohnehin neu ausrichten. Das ist eine Chance. Hier haben wir Gestaltungsraum. Lassen Sie uns herausfinden, was für uns eine resiliente digitale Gesellschaft bedeutet, und die Rahmenbedingungen dafür aufbauen. Lassen Sie uns die Welt im Kleinen nutzen, um unsere Welt im Großen zu gestalten. Dann kommen wir auch der guten Gesellschaft ein Stück näher.
Auftakt:
Verstehen, was passiert
Nach der Jahrtausendwende haben digitale Technologien und soziale Medien ihren Siegeszug angetreten und schon binnen dieser kurzen Zeit unser Leben radikal verändert. Die Digitalisierung ist die große gesellschaftliche Herausforderung, sie erfasst die unterschiedlichsten Bereiche unseres Lebens.
Bei diesem tiefgreifenden Wandel stellen sich Fragen: Was bedeutet der digitale Wandel für unser ganz persönliches Leben, für den Umgang mit anderen, für die Gesellschaft, für Unternehmen? Jenseits des Alarmismus wollen wir fragen: Was macht dieser Wandel mit uns, wie können wir diese Entwicklung positiv und proaktiv steuern? Und schließlich: Wie gelingt es uns, als Menschen in einer digitalisierten und globalisierten Welt souverän und – ja sogar – glücklich zu sein? Wie kann eine gute resiliente digitale Gesellschaft gelingen?
Voraussetzung dafür ist, überhaupt zu verstehen, was den digitalen Wandel ausmacht und welche gesellschaftlichen und menschlichen Bedürfnisse er bedient.
Die Debatte um Digitalisierung steht stellvertretend für unser Unbehagen in Bezug auf den technologischen Fortschritt. Technologiekritik ist natürlich kein neues Phänomen1. Neue Technologien – und sei es die Straßenlaterne – haben Menschen immer schon irritiert, in ihren Gewohnheiten gestört, aufgescheucht und zu Veränderungen genötigt, die sie mit Unwillen quittierten. Aber es lohnt sich, unser Unbehagen in punkto Digitalisierung näher anzusehen, zu verstehen, was passiert, damit wir handeln können.
Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan hat 1967 in seinem experimentellen Collagen-Werk »The Medium is the Massage«2 auf die Parallele zwischen den Veränderungen der Medienwelt und dem Strudel aus Edgar Allan Poes Kurzgeschichte »A Descent into the Maelström« hingewiesen. Ein Blick in die Originalquelle3 gibt ihm recht. In dieser Geschichte treiben zwei Brüder in einem Boot unaufhaltsam auf einen allesverschlingenden Meeresstrudel zu. Lähmendes Entsetzen erfasst sie, als sie feststellen, dass sie die Kontrolle über die Situation verloren haben. Nachdem der Erzähler zuerst vor Entsetzen die Augen schließt, erlangt er schließlich doch seine Handlungsfähigkeit wieder. Die Wende kommt damit, dass er die Augen wieder öffnet und trotz seines Entsetzens einen Blick in den Abgrund wagt: Er beobachtet, mit welchen Mechanismen der Strom funktioniert und nach welchen Gesetzen welche Gegenstände sich wie im Strudel verhalten. Er sieht, dass kleine zylindrische Gegenstände länger oben treiben, während große schnell herabgezogen werden. Daraus schließt er, dass er das Boot verlassen muss und überleben könnte, wenn er sich statt am vertrauten Boot an einem kleinen, mobilen Fass festhielte. Sein Bruder indessen verharrt in seiner Lähmung und mag sich ihm nicht anschließen. Er klammert sich an das Boot – wir können sagen: an das Vertraute, ihm Bekannte, das ihm bisher Schutz gegeben hat. Der Erzähler – entschlossen, die Konsequenzen aus seinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen zu ziehen – handelt und wechselt ins Ungewisse. Auf einem kleinen Fass überlebt er als Einziger den Abgrund, während das Schiff mitsamt seinem festgeketteten Bruder untergeht.
Die Verben, die Edgar Allan Poe im Lauf der Erzählung seinem Erzähler nach dieser Wende zur Selbstkontrolle in den Mund legt, geben auch eine gute Anleitung für den konstruktiven Umgang mit unserem heutigen digitalen Wandel: beobachten, wahrnehmen, reflektieren, neugierig sein, erforschen wollen, den Schrecken loswerden, der einen überwältigt, eine freie Sicht erhalten, mit Interesse beobachten und die Augen öffnen für das Wunder dessen, was passiert.4
Der Moment, in dem der Erzähler das Heft in die Hand nimmt, ist das, was ich – auf den digitalen Wandel übertragen – Mediensouveränität nenne: der Wechsel von einem reflexhaften zu einem reflektierten Umgang mit der Technologie. Dieser Mediensouveränität liegt zugrunde, dass wir selbst die Verantwortung für uns und unser