Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick. Sabria David
und Sehnen:
Was uns ins Netz zieht
Bindung macht glücklich
Neben allen Meilensteinen, die die Entwicklung des Internets markiert haben, ist es vor allem der Erfolg sozialer Medien, der unseren digitalen privaten und öffentlichen Raum am meisten geprägt und verändert hat. Was ist es, was die Menschen in Scharen dort hineinzieht? Was suchen sie? Welche Frage ist es, auf die soziale Medien die Antwort sind?
Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Urmensch. Mit allen anderen hüten Sie das Feuer, Sie sammeln Früchte, schnitzen Pfeile und gehen jagen. Eines Morgens werden Sie wach und schauen sich um: Sie sind alleine auf der Waldlichtung. Ihre Gemeinschaft ist zwei Stunden zuvor aufgebrochen und weitergezogen und hat Sie zurückgelassen. Nun sind Sie alleine, den Tieren, dem Wetter und der Natur ausgeliefert – ohne Unterstützung, ohne Schutz. Und das alles nur, weil Sie die entscheidende WhatsApp-Nachricht zum Aufbruch verpasst haben.
Auch wenn es sonderbar klingt, aber genau dieses Gefühl, die Angst, vergessen und ausgegrenzt zu werden, steht hinter dem Drang, seine Nachrichten möglichst in Echtzeit zu verfolgen. Positiv formuliert: Wir wollen bei den anderen sein. Zwar wissen wir heute, dass wir den Säbelzahntiger nicht mehr fürchten müssen und dass wir in der modernen Welt auch ganz gut alleine klarkommen. Wir wissen, dass es nicht ums Überleben geht. Aber wir sind soziale Wesen. Das Programm, das uns so handeln lässt, ist uralt und tief in uns eingeschrieben. Es funktioniert nach wie vor und beeinflusst unser Handeln auch heute.
Die Tatsache, dass WhatsApp, Twitter, Facebook, Instagram, Snapchat und YouTube eine derartige Verbreitung in fast allen Alters- und Bevölkerungsschichten gefunden haben, sagt etwas aus. Jede Erfindung wird nur zum Erfolg, wenn auch der Bedarf danach da ist und es einen gesellschaftlichen Nährboden gibt, der diese Erfindung willkommen heißt. Plattformunternehmen wie Facebook und Google konnten nur gespeist aus ständig anwachsenden Nutzermengen zu solchen Monopolen werden. Das bedeutet etwas, es spricht seine Sprache. Es weist auf ein gesellschaftliches Bedürfnis hin, das bisher offenbar zu kurz gekommen war.
Die sozialen Medien sind die Antwort auf ein unerfülltes Kontaktbedürfnis. Sie sind – wenn man so will – der Spiegel einer bindungslosen, entfremdeten Gesellschaft.
Spiegel einer bindungslosen, entfremdeten Gesellschaft
Wir sind menschliche Wesen, und der Erfolg der sozialen Medien besteht gerade darin, dass sie der Sehnsucht nach Verbindung Ausdruck verleihen, dass sie Kontaktaufnahme ermöglichen und helfen, Distanzen zwischen Menschen zu überwinden. Das Internet beantwortet das menschliche Bedürfnis nach Bindung, Bezug und Kontaktaufnahme. Es wird uns zu einer Art Mutterleib, in den wir uns flüchten und von dem wir uns ständige Verbundenheit ersehnen. Die Mobilgeräte, die uns diese Verbindung herstellen, werden zu einem Teil unseres Selbst, zu einem Körperteil von uns, mit dem wir Kontakt aufnehmen. »Extensions of Man« hat Marshall McLuhan das für andere Medien genannt. Wie Brillen zu einer Ausweitung unserer Augen, die Kleidung eine Ausweitung unserer Haut geworden ist. Und das Handy, das er noch nicht kennen konnte, ist jetzt ebenfalls eine Ausweitung des Menschen. Das erklärt auch die Reaktion Jugendlicher und Kinder, wenn man ihnen ihr Handy abnimmt. Es ist eine Reaktion wie auf eine Art Amputation. Es fühlt sich für sie an, als würde ihnen ein Teil von ihnen selbst abgenommen.
Bindungstheorie im Licht der Digitalisierung
Mit ihrer Bindungstheorie haben John Bowlby und Mary Ainsworth Aufschluss darüber gegeben, was uns Menschen bei der Bindungssuche antreibt. Ihr Verdienst war die Erkenntnis, dass das Verhalten von Gänsen und Rhesusaffen in gewissen Punkten auch aufschlussreich für das menschliche Verhalten ist. Als Psychoanalytiker eigentlich aus einem anderen Fachgebiet kommend, hat sich John Bowlby von den evolutionsbiologischen Studien Konrad Lorenz’ und Harry Harlows inspirieren lassen. Das »Gänsekind Martina« folgte seinem Ersatzvater Lorenz unbeirrt nach, die fragenden Bindungsrufe (»wiwiwiwi?«) von sich gebend, wenn er sich aus dem Blickfeld entfernte. Das Gänseküken war nach seinem Schlüpfen aus dem Ei auf den Forscher und nicht auf seine biologische Gänsemutter geprägt.
In seinen ethisch zweifelhaften, aber für die Bindungstheorie bedeutsamen Studien trennte der Verhaltensforscher Harry Harlow Rhesusaffen-Babys nach der Geburt von ihren Müttern und ersetzte sie durch Puppen aus Draht. Eine davon war mit Fell überzogen, die andere konnte Milch spenden. In Schreckmomenten suchte der kleine Rhesusaffe nicht wie erwartet bei dem nahrungsspendenden Drahtgestell Zuflucht, sondern bei der Ersatzmutter, die mit kuscheligem Fell bezogen war und außer Weichheit nichts zu bieten hatte. Damit war belegt, dass das Bedürfnis nach Trost und Körperkontakt biologisch mindestens ebenso verankert ist wie das nach Nahrung.
Auch bei den Menschen war man bis dahin davon ausgegangen, dass das Bindungsverhalten der Kinder gegenüber ihren Müttern ihren biologischen Grund in der Nahrungsspende hat, dass kleine Kinder also die Nähe zu ihrer Mutter suchen, weil sie ihnen Milch gibt. Seit den Studien zur Bindungstheorie ist klar: Das Bedürfnis nach Bindung und Nähe ist ein eigenes, von der Nahrung unabhängiges, primäres Grundbedürfnis. Die Nähe und emotionale Verbindung zu schutzgebenden Bezugspersonen ist im biologischen Sinn überlebenswichtig für den Menschen. Wir sind in den ersten Lebensjahren für unser Überleben auf den Schutz und die Sicherheit schutzgebender Erwachsener angewiesen. Nach den Studien der Bindungsforschung um Bowlby und Ainsworth gestaltet sich das Bindungsverhalten als ein zielorientiertes, sich selbst auf sein Ziel ausrichtendes Verhaltenssetting. Es sind also keine vorher festgelegten Verhaltensweisen, die uns eingeprägt sind, sondern die Verhaltensmuster passen sich den jeweiligen Kontexten und Verhältnissen an, immer mit striktem Fokus auf das Herstellen und Aufrechterhalten von Bindung. Kinder müssen auf Leben und Tod die Verhaltensweisen adaptieren und entwickeln, mit denen sie in ihrem jeweiligen Beziehungskontext die größtmögliche Chance auf Schutz und Versorgung haben. Das kann dazu führen, dass in frühen Bindungserfahrungen Verhaltensweisen entwickelt werden, die zwar das Überleben in einer toxischen Familie ermöglichen, im späteren Leben, in normalen und gesunden emotionalen Beziehungen aber eher hinderlich sind. Das Bindungsverhalten ist also ein uns biologisch mitgegebenes selbstlernendes System, das sich den jeweiligen Bedingungen anpasst.
Mit ihren Methoden der empirischen Forschung hat Mary Ainsworth diese Hypothesen Bowlbys belegen und spezifizieren können. Das Studienkonzept der »fremden Situation« machte Bowlbys Hypothesen überprüfbar. Im klassischen Studienaufbau wird ein kleines Kind für kurze Zeit von seiner Mutter verlassen, indem sie aus dem Raum geht. Die verschiedenen Bindungsstile lassen sich anhand der Reaktion des Kindes bei der Rückkehr der Mutter ablesen: Verfügt das Kind über eine sichere Bindung, drückt es zwar seinen Schmerz über die Abwesenheit der Mutter frei aus, lässt sich aber von einer anderen Person trösten und freut sich, wenn seine Mutter schließlich wieder den Raum betritt. Bei einer unsicheren Bindung reagiert das Kind mit einer Überbetonung entweder des einen (Verbindung) oder des anderen Aspektes (Distanz): Bei unsicherer Bindung kann das Kind die Bezugsperson nicht ohne größten Schmerz gehen lassen, klammert sich an sie und bleibt auch bei ihrer Rückkehr untröstlich. Bei unsicher-vermeidender Bindung versucht das Kind erst gar keine Verbindung einzugehen und reagiert desinteressiert bei Weggehen und Wiederkommen der Bezugsperson. Aber nur vermeintlich, denn die Studien zeigen wie bei den sicher gebundenen Kindern auch bei diesen eine hohe Ausschüttung an Stresshormonen. Im Gegensatz zu den trostsuchenden und getrösteten Kindern werden bei ihnen die Stresshormone aber nicht wieder abgebaut.
In Jahrzehnten weiterer Arbeit von Forschern wurde die Bindungstheorie seither verfeinert, präzisiert und weiterentwickelt.
Die Zuversicht, dass eine geliebte Bezugsperson nach einer schmerzlichen Abwesenheit zurückkehrt – dass also die Mitmenschen und damit auch die Welt im Prinzip vertrauenswürdig und zuverlässig sind –, entwickelt sich dabei gerade in einer tiefen emotionalen Nähe und im »feinfühligen« Beantworten der kindlichen Bedürfnisse. Genauer: Die Kinder dürfen und können ihre eigenen Gefühle wie Freude und Schmerz empfinden und ihre Nähe- und Schutzbedürfnisse ausdrücken. Diese werden dann von der Bezugsperson verstanden, richtig gedeutet und adäquat beantwortet und erfüllt. So entsteht Urvertrauen. Dieses wiederum gibt genug Kraft und Zuversicht, um Getrenntsein und Abwesenheiten zu ertragen.