Die Todesstrafe I. Jacques Derrida

Die Todesstrafe I - Jacques  Derrida


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Sitzungen hinzuzufügen, die bisweilen der Interpretation eines Textes oder der Diskussion dienten.) Nunmehr frei in der Wahl seines Gegenstands, hat Derrida mehrjährige Forschungsprojekte angelegt, die explizit und in kohärenter, schlüssiger Weise aufeinanderfolgen. Die wichtige Frage nach „Nationalität und Nationalismus in der Philosophie“ (1984-1988) führt zur Frage nach den „Politiken der Freundschaft“ (1988-1991), die wiederum zu einem großangelegten Themenblock unter dem Titel „Fragen der Verantwortung“ (1991-2003) führt, unter dem nacheinander folgende Themen angesprochen werden: das Geheimnis (1991-1992), das Zeugnis (1992-1995), Feindschaft und Gastfreundschaft (1995-1997), Eidbruch und Vergebung (1997-1999), die Todesstrafe (1999-2001); das Ganze mündet schließlich in die letzten beiden Studienjahre, die sich unter dem Titel „La bête et le souverain“ (2001-2003) den Fragen der Souveränität und der Animalität widmeten.

      Jacques Derrida hatte die Angewohnheit, für die zahlreichen Vorträge, die er jedes Jahr in aller Welt hielt, aus dem reichen Material dieser Seminare zu schöpfen, und so wurden auf diesem Wege bestimmte Ausschnitte von Seminaren umgearbeitet und publiziert. Darüber hinaus haben einige seiner Bücher ihren Ausgangspunkt in der Arbeit im Seminar: So ist zum Beispiel ein Großteil von De la grammatologie (1967) eine Weiterentwicklung von Sitzungen eines Seminars über „Natur, Kultur, Schrift“ in den Jahren 1965-1966; das Seminar über „Hegels Familie“ (1971-1972) fand Eingang in Glas (1974); Politiques de l’amitié (1994) präsentiert sich explizit als Weiterentwicklung der ersten Sitzung des Seminars von 1988-1989, wobei sich letztendlich auch Spuren weiterer Sitzungen finden.3 Trotz all dieser Neuzuschnitte und partiellen Überschneidungen ist der weitaus größte Teil der Woche für Woche für das Seminar verfassten Seiten unveröffentlicht geblieben; sie werden eine unschätzbare Ergänzung zum bereits veröffentlichten Werk bieten. Jedes Mal wenn eine Sitzung – in modifizierter oder in unveränderter Form – Gegenstand einer späteren Veröffentlichung von Jacques Derrida wurde, wird letztere angezeigt und mit bibliografischen Angaben nachgewiesen werden. Wir sind der Ansicht, dass es nicht Sache einer Edition der Seminare im eigentlichen Sinne, das heißt als Originalmaterialien, ist, eine vergleichende Lektüre dieser Versionen vorzulegen.

      Wie bereits angedeutet, gestaltete sich die editorische Arbeit überaus unterschiedlich, je nachdem, auf welche Weise der Text entstanden ist. Für jene Zeitspanne, in der die Schreibmaschine verwendet wurde, verlangen zahlreiche Streichungen und handschriftliche Anmerkungen nicht zu unterschätzende Anstrengungen bei ihrer Entzifferung. Das gilt umso mehr für jene Seminare, die vollständig per Hand, also mit Jacques Derridas schöner, aber schwierig zu lesender Handschrift redigiert wurden und daher eine äußerst gewissenhafte Transkription erfordern. In einer ersten Phase werden wir also die Seminare der letzten zwanzig Jahre veröffentlichen, wobei das allerletzte Seminar den Anfang macht, während die übrigen zur Publikation vorbereitet werden. Unser oberstes Ziel war es jedenfalls, den Text des Seminars zu präsentieren, wie er von Jacques Derrida niedergeschrieben wurde, im Hinblick auf den mündlichen Vortrag, also mit bestimmten vorweg notierten Mündlichkeitsmarkern und gewissen familiären Wendungen. Es ist nicht sicher, ob Jacques Derrida diese Seminare veröffentlicht hätte, wenngleich er bisweilen eine derartige Absicht äußerte4; sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass er diese Texte, falls er sie für eine Publikation wiederaufgegriffen hätte, im Sinne des geschriebenen Textes überarbeitet hätte, wie er es immer tat. Wir haben es natürlich nicht auf uns genommen, diese Arbeit an seiner Stelle zu erledigen. Wie bereits erwähnt, wird der Leser die Originalversion, die wir hier vorlegen, mit jenen wenigen Sitzungen vergleichen können, die Jacques Derrida selbst eigenständig publiziert hat.

       Geoffrey Bennington

       Marc Crépon

       Marguerite Derrida

       Thomas Dutoit

       Peggy Kamuf

       Michel Lisse

       Marie-Louise Mallet

       Ginette Michaud

      Vorbemerkung der Herausgeber

      Mit dem vorliegenden Band wird das erste der beiden Studienjahre des Seminars von Jacques Derrida veröffentlicht, die er 1999-2000 und 2000-2001 dem Thema der Todesstrafe widmete. Dieses Seminar wurde im Rahmen des Programms „Philosophie und Epistemologie“ an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris gehalten, diente aber auch als Grundlage für Lehrveranstaltungen in den Vereinigten Staaten: für die Dauer von fünf Wochen im Frühjahr 2000 und 2001 an der University of California in Irvine sowie für die Dauer von drei Wochen im Herbst 2000 und 2001 an der New York University.

      Dieses Seminar geht dem bereits veröffentlichten über „Das Tier und der Souverän“1 unmittelbar voraus. Es gehört zu einem größeren Ensemble, das unter dem Titel „Le parjure et le pardon [Eidbruch und Vergebung]“ 1997-1998 begonnen und 1998-1999 fortgesetzt wurde, und das seinerseits Teil eines langjährigen Zyklus unter dem Titel „Questions de responsabilité [Fragen der Verantwortung]“ ist, der 1989 begonnen wurde und 2003 seinen Abschluss fand, dem letzten Jahr, in dem Jacques Derrida Lehrveranstaltungen abhielt.2

      Das erste Studienjahr des vorliegenden Seminars war nicht eigens betitelt3; erst im Jahrbuch der EHESS 2000-2001, für das zweite Studienjahr also, wurde der Titel wie folgt festgelegt: „Questions de responsabilité (VIII. La peine de mort) [Fragen der Verantwortung (VIII. Die Todesstrafe)]“.4

      Der aufmerksame Leser der Gesamtheit dieser sich über zwei Jahre erstreckenden Ausführungen über „die Todesstrafe“ wird leicht feststellen, in welcher Weise jedes einzelne Jahr strukturiert und die Gesamtheit der zweiundzwanzig Sitzungen komponiert ist. Es obliegt nicht uns, eine Interpretation zu liefern oder Bemerkungen zu Besonderheiten in der Struktur dieses Ganzen zu machen. Gleichwohl sollte der Leser von Anfang an vor Augen haben, dass die Darlegungen, ja sogar die Gebiete oder die „Themen“ des ersten Bandes sich deutlich von denen unterscheiden, die das zweite Studienjahr des Seminars bilden. Wenn eine Gesamtlektüre auch gewisse Leitfäden zutage fördern kann, so darf sie gleichwohl nicht verdecken, auf welche Weise Derrida die beiden Jahre entsprechend der unterschiedlichen sie jeweils strukturierenden Reihen oder Unterreihen trennt, ganz zu schweigen vom (Text-)Korpus und den einzelnen Fachgebieten, die von einem Jahr zum anderen variieren. Derrida selbst liefert gewisse Klärungen zu Beginn des zweiten Seminarjahres sowie in den Zusammenfassungen, die er für die beiden Studienjahre jeweils verfasste. Wir laden den Leser dieses ersten Bandes daher ein, sich noch keine feste „Vorstellung“ von der Todesstrafe (beziehungsweise den Todesstrafen) gemäß Jacques Derrida zu bilden, solange der zweite Band, der sich vom ersten in vielerlei Hinsicht unterscheidet, noch nicht erschienen ist5.

      Hier nun das Resümee, das Jacques Derrida vom Seminar des Jahres 1999-2000 gab, um das es uns hier geht:

      Die Problematik, die wir in den letzten beiden Jahren unter diesem Titel < „Le parjure et le pardon [Eidbruch und Vergebung]“ > in Angriff genommen haben, hat uns dahin geführt, dieses Mal die große Frage der Todesstrafe in den Vordergrund zu stellen. Das war zumindest insofern notwendig, als die sogenannte Kapitalstrafe6 im unmittelbaren Bevorstehen einer irreversiblen Sanktion, zusammen mit dem, was als das Nichtvergebbare zu gelten scheint, auch die Begriffe der Souveränität (des Staates oder des Staatsoberhaupts – Recht über Leben und Tod gegenüber dem Staatsbürger), des Begnadigungsrechts usw. ins Spiel bringt.

      Untersucht, zumindest auf präliminarische Weise, haben wir die Todesstrafe ausgehend sowohl von großen paradigmatischen Beispielen (Sokrates, Jesus, Al-Halladsch, Jeanne d’Arc) als auch von kanonischen Texten, von der Bibel über Beccaria, Locke, Kant und Victor Hugo – dem wir einige Sitzungen widmeten – bis hin zu Camus, Badinter und Genet usw., insbesondere auch juridischen Texten aus der Zeit nach


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