Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
nahe, ohne die Staaten je dazu zu verpflichten, deren Souveränität geachtet werden müsse. Wir haben uns für die Bewegungen zur Abschaffung der Todesstrafe7 interessiert, für ihre Logik und ihre Rhetorik, vor allem in den Vereinigten Staaten, deren jüngste, ja sehr aktuelle Geschichte zahlreiche Analysen erforderte – insbesondere seit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 1972, der die Anwendung der Todesstrafe für verfassungswidrig erklärte („cruel and unusual punishment“), bis hin zur spektakulären erweiterten Wiederaufnahme der Exekutionen von 1977 an, etc. Wir haben der Ausnahme der Vereinigten Staaten viel Aufmerksamkeit gewidmet.
In unserer Fragestellung waren durch die untersuchten Texte und Beispiele hindurch drei problematische Begriffe vorherrschend: die Souveränität, die Ausnahme und die Grausamkeit. Eine weitere Leitfrage lautete: Warum haben die Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe oder die Verdammung der Todesstrafe in ihrem Prinzip bisher (fast) nie einen im eigentlichen Sinne philosophischen Platz gefunden in der Architektonik eines großen philosophischen Diskurses als solchem? Wie ist diese höchst signifikante Tatsache zu deuten?8
Einige Monate zuvor hatte er für die University of California in Irvine auf Englisch folgende andere Beschreibung des Seminars verfasst, das er dem amerikanischen Publikum im Frühjahr geben sollte:
Death Penalty
In continuing the past years’ seminars (Pardon and Perjury), we will take up this year, under the heading of the unforgivable, the question of capital punishment.
We will start by studying its history, juridical and political dimensions, the present stakes of its abolishment (in the process of mondialisation, worldization, „globalization“, particularly in the United States). We would also analyse the „scene“, the history of its visibility and of its „public“ character generally, but also its representation in the arts of theatre, painting, photography, cinema and of course, literature.
Intertwined in this first approach will be two leading threads: the equivocal concepts of „cruelty“ and of „exception“, which play a determining role in juridical discourses (for and against death penalty).
On the horizon – the big question of sovereignty in general, of sovereignty of the State in particular.
Todesstrafe
In Fortsetzung der Seminare der vergangenen Jahre (Vergebung und Eidbruch) werden wir dieses Jahr, unter dem Titel des Nichtvergebbaren, die Frage der Todesstrafe aufgreifen.
Wir werden damit beginnen, ihre Geschichte und ihre juristischen und politischen Dimensionen zu untersuchen, sowie die aktuellen Bemühungen um ihre Abschaffung (im Prozess der mondialisation, der Globalisierung, der Weltweitwerdung, der „globalization“, insbesondere in den Vereinigten Staaten). Analysieren werden wir auch die „Szene“, die Geschichte ihrer Sichtbarkeit und ihres „öffentlichen“ Charakters ganz allgemein, aber auch ihre Darstellung in den Künsten, im Theater, in der Malerei, der Photographie, im Film und, natürlich, in der Literatur.
Diese erste Annäherung wird von zwei Leitfäden durchzogen sein: den zweideutigen Begriffen der „Grausamkeit“ und der „Ausnahme“, die in den juristischen Diskursen (für und gegen die Todesstrafe) eine bestimmende Rolle spielen.
Am Horizont zeichnet sich dabei ab – die große Frage der Souveränität im Allgemeinen, sowie der Souveränität des Staates im Besonderen.9
Die zwei Jahre dieses Seminars umfassen zweiundzwanzig Einzelsitzungen, darunter zwölf im ersten Studienjahr (1999-2000)10, und zehn im zweiten Studienjahr (2000-2001). Alle zusammen wurden von Jacques Derrida auf dem Computer verfasst. Von den zwölf Sitzungen dieses ersten Jahres ist die erste doppelt, nummeriert mit 1 und 1 (Fortsetzung)11, was erklärt, dass die letzte Sitzung hier als „elfte“ firmiert. Das gesamte Ensemble ist unveröffentlicht, mit Ausnahme dieser ersten doppelten Sitzung, die Gegenstand eines Vortrags in Sofia war, mit einer anschließenden Veröffentlichung unter dem Titel „Peine de mort et souveraineté (pour une déconstruction de l’onto-théologie politique)“12.
Um die vorliegende Edition zu erstellen, sind wir von diversen ausgedruckten Versionen ausgegangen, die mit dem Begriff „Typoskript“ bezeichnet sind, sowie von den verfügbaren digitalen Datenträgern. Die ausgedruckten Fassungen des Seminars 1999-2000, die im Institut Mémoires de l’édition contemporaine (IMEC, Caen) aufbewahrt werden, befinden sich in drei Mappen.
Eine naturfarbene Mappe enthält die Sitzungen 2, 3, 4, 5, 6 und 7. Auf der ersten Seite mehrerer dieser Sitzungen hat Derrida das Wort „Doppel“ vermerkt. In dieser Fassung gibt es keine handschriftlichen Anmerkungen.
Eine gelbe Mappe enthält die Sitzungen 1 und 1 (Fortsetzung), 8, 9, 10 und 11. Dort hat Derrida auf der ersten Seite der ersten Sitzung „doppelt“ vermerkt. In der neunten Sitzung hat Derrida handschriftlich einige Tippfehler korrigiert und angezeigt, dass er einen Teil dieser Sitzung an der New York University vortragen wird. Im Ausdruck der zehnten Sitzung sind ebenfalls einige Tippfehler korrigiert. Auf der Rückseite der letzten beiden Seiten der neunten Sitzung (bei denen es sich um photokopierte Seiten eines amerikanischen Presseartikels handelt) skizziert Derrida einen kurzen Plan zur Beziehung zwischen der Bio-Macht nach Michel Foucault und der Frage des Interesses an der Todesstrafe. Wir haben ihn hier nicht transkribiert, zum einen, weil wir das mündliche Referat, das ein Student über das Kapitel „Recht über den Tod und Macht zum Leben“ aus Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen 13, hier nicht aufgenommen haben, zum anderen, weil die Entzifferung dieser Skizze zahlreiche Stellen offen ließ.
Eine blaue Mappe schließlich enthält eine komplette Fassung des Seminars, mit handschriftlichen Anmerkungen von Jacques Derrida, vor allem im Hinblick auf die Vorbereitung dieser Vorlesung auf Englisch, für Irvine und New York, sowie die Wiederaufnahme bestimmter Teile in einem Vortrag (wie dem, den er in Sofia gehalten hat). In dieser Mappe sind die Photokopien der im Seminar zitierten Texte klar erkennbar integriert und annotiert, um jeweils die genaue Stelle auffinden zu können, die gelesen und kommentiert werden sollte. Es ist also vor allem diese letztgenannte Mappe, von der wir bei unserer Arbeit ausgegangen sind.
Unsere Eingriffe als Herausgeber im Typoskript von Jacques Derrida haben wir auf das Mindestmaß begrenzt. Wie immer ist das Seminar vollständig redigiert, und Derrida gibt in seinem Typoskript sorgfältig die Quellen der Zitate an, die er seinen Zuhörern zur Prüfung vorlegt und minutiös kommentiert. Wenn er den zitierten Text nicht reproduziert, gibt er sehr genau an, wo die untersuchten Zitate beginnen und enden, und zwar mit einem System von Referenzen zwischen seinem Typoskript und den Büchern oder Photokopien, denen er die Zitate entnahm. Falls diese bibliographischen Angaben einmal präzisiert oder vervollständigt werden mussten, so haben wir das auf der Grundlage von Derridas eigenen Photokopien oder den in seiner persönlichen Bibliothek konsultierten Ausgaben getan, was jedes Mal durch das Kürzel (A.d.H.) angezeigt wird. Falls die von ihm verwendete Ausgabe nicht auffindbar war, haben wir jene herangezogen, die uns am sichersten schienen.
Signifikante handschriftliche Ergänzungen, die Jacques Derrida am Rand des Typoskripts vermerkte, haben wir in Anmerkungen wiedergegeben. Falls uns eine grammatikalische Korrektur im Text unerlässlich zu sein schien, haben wir die Hinzufügung oder die Korrektur durch spitze Klammern angezeigt (< … >)14 oder in einer Anmerkung erläutert. Den spezifischen Charakter des Textes haben wir so genau wie möglich respektiert; er ist geprägt von seiner Bestimmung zum mündlichen Vortrag und folglich durch Charakteristiken im Rhythmus und in der Zeitstruktur, deren stilistische Modalitäten sich in der Syntax der Sätze und der Bewegung der Absätze niederschlagen. Eine minimale Überarbeitung auf der Ebene der Zeichensetzung wurde gleichwohl für unerlässlich erachtet. Um den mündlichen Charakter zu bewahren, geben wir auch alle Didaskalien beziehungsweise „Regieanweisungen“ wieder, die im Manuskript enthalten sind, wie zum Beispiel all die Hinweise „Lesen und Kommentieren“, die ein Zitat ankündigen