Die Todesstrafe I. Jacques Derrida

Die Todesstrafe I - Jacques  Derrida


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der Inkriminierung, der Kriminalisierung, der Beschuldigung, der bzw. die vom Staat übernommen wurde, verweise ich Sie auf die Gesetze von Platon, der die Todesstrafe im Falle von Gottlosigkeit (asebeia), hartnäckiger Gottlosigkeit, wiederholten Rückfalls in die Gottlosigkeit rechtfertigt. Lesen Sie diese langen und spannenden Seiten in den Gesetzen (10. Buch, 907d-909d) bitte selber ausführlich nach. Das Gemeinwesen, die polis, muss allen verkünden, dass die Gottlosen Sühne leisten und sich zu einem frommen Leben bekehren müssen, und dass, falls sie dies nicht tun, wenn sie in Worten und Taten Gottlosigkeit (asebeia) bekunden, der erstbeste Zeuge sie beim Magistrat anzeigen muss, der sie vor das zuständige Gericht zitieren wird. Es folgen die Beschreibung der verschiedenen Arten der Gottlosigkeit (darunter, wie ich im Hinblick auf das Thema unseres Seminars anmerken möchte12, die Respektlosigkeit gegenüber Eiden (orkous)) sowie schließlich die Taxonomie der drei Typen von Gefängnis oder Besserungsanstalt; lesen Sie all das also bitte alleine. Ich werde aus dieser langen und reichhaltigen Passage nur zwei oder drei Hinweise festhalten.

      2. Zweiter Hinweis. Der Rat, der syllogos, empfängt Besucher, Berater, Beobachter, Experten, die aus der Fremde zurückkehren, wo sie die Sitten und die Gesetze anderer Länder studiert haben. Nun, wenn einer von ihnen verzogen oder verdorben zurückkehrt, wenn er dann fortfährt, seine falsche Weisheit zu verbreiten und sich unüberlegt auf fremde Vorbilder zu beziehen, und wenn er dem Magistrat nicht gehorcht, „so soll ihn die Todesstrafe treffen (tethnatō) für den Fall, daß er vor dem Gerichtshof der sträflichen Einmengung in Erziehungs- und Gesetzgebungsfragen (peri ten paideian kai tous nomous) überführt wird“17. Sobald der Gerichtshof bewiesen hat, dass er zu Unrecht, im Namen des Fremden in die Bildung der Jugend und die Entstehung der Gesetze eingreift, wird er mit dem Tode bestraft. Soviel zur Definition und zur theatralischen Szene dieses Nächtlichen Rats, der über Leben und Tod entscheiden und der allein die Gefangenen besuchen kann. Wenn wir jetzt vom 12. Buch der Gesetze, wo der Status, die Zusammensetzung und die Kompetenzen dieses Rats in der Morgendämmerung auf diese Weise definiert werden, zum 10. Buch zurückkehren, von dem ich ausgegangen war, finden wir dort die Legitimation der Todesstrafe in der Aufzählung sämtlicher Strafen, sämtlicher Arten und Orte der Einkerkerung. Wenn jemand freizügige Reden zum Beispiel in Bezug auf die Götter, die Opfer oder die Eide gehalten hat, oder wenn er zum Glauben an bestechliche Götter ermutigt und sich so des Verbrechens der Gottlosigkeit, der Irreligiosität schuldig gemacht hat, wird er ins Zuchthaus gesperrt, in ein sōphronisterion, wörtlich einen Ort zum Klugwerden [assagissement]. Zuchthaus oder Besserungsanstalt an einem Ort des Klugwerdens, einem Ort, an dem man die sōphrosyne wiedererlangen soll, die Klugheit, die Klugheit im präzisieren Sinne von Besonnenheit, Mäßigung, Selbstkontrolle, Gesundheit des Geistes und des Herzens. Es geht darum, überwacht zu werden, um wieder „klug/besonnen [sage]“ zu werden, die Klugheit/Besonnenheit (sōphrosyne) in jenem Sinne wiederzuerlangen, den man im Französischen dem Wort sage beilegt, dem enfant sage als bravem, ruhigem, diszipliniertem Kind. Das Sophronisterion ist eine Disziplinaranstalt. Man wird dort für mindestens fünf Jahre eingesperrt. Während dieser Zeit darf kein Bürger den Schuldigen dort besuchen, mit Ausnahme eben der Mitglieder des Nächtlichen Rats (tou nykterinou syllogou), die zu ihm kommen, um ihn zu ermahnen und – das ist der wichtigste Punkt – seine Seele zu retten, um des Heils seiner Seele willen (tes psychès soteria omilountes). Diese soteriologische Funktion ist wesentlich: Zunächst gilt es, die Seele des Verurteilen zu bessern, zu retten, zu rehabilitieren, und diese soteriologische Mission, dieses Heils- oder Erlösungswerk wird statutarisch dem Nächtlichen Rat anvertraut, zugewiesen, denjenigen, die allein das Besuchsrecht haben im Sophronisterion, in der Besserungsanstalt, in der dem Besonnen-werden geweihten Institution. Wenn der Verurteilte nun (und wir finden hier bereits unser Thema der Vergebung und der Reue wieder), wenn also nach diesem soteriologischen Versuch der Verurteilte sich selbst rettet, wenn er bereut, wenn er zur Reue gelangt und wieder besonnen wird, wenn er sich rehabilitiert, dann wird er das Recht haben, unter den Tugendhaften zu leben; wenn nicht, wenn er sich ein zweites Mal dieselbe Verurteilung einhandelt, wenn er rückfällig wird und nicht bereut, wird er mit dem Tode bestraft werden (thanatō zemioustho). Wenn er nicht bereut und sich nicht bessert, dann kann ihm nicht vergeben werden, und die Sanktion für das Nichtvergebbare [impardonnable], das Unsühnbare, das ist die Todesstrafe. Ich lege aber Wert darauf, bereits hier zu unterstreichen – denn das wird ein organisierendes Thema unserer Überlegungen werden –, dass sich die Todesstrafe, die legale und legitime Verurteilung, vom Mord [meurtre] oder von der außergesetzlichen Tötung, von der vorsätzlichen und hinterhältigen Ermordung [assassinat]18 gewissermaßen, eben darin unterscheidet, dass sie den Verurteilten als Rechtssubjekt, als Subjekt/Untertan [sujet] des Gesetzes, als Menschen behandelt, mit jener Würde, die das immer noch voraussetzt. Hier, in einer Logik, die wir bei Kant und vielen anderen wiederfinden werden, bei Kant jedoch in ganz herausragender Weise, hier also ist der Zugang zur Todesstrafe ein Zugang zur Würde der menschlichen Vernunft, sowie zur Würde eines Menschen, der, im Unterschied zu den Tieren [bêtes], ein Subjekt/Untertan des Gesetzes ist, das sich über das natürliche Leben erhebt. Daher markiert in dieser Logik, im logos dieses syllogos die Todesstrafe den Zugang zum Eigenen des Menschen und zur Würde der Vernunft beziehungsweise des logos und des menschlichen nomos. All dies, der Tod eingeschlossen, würde von der Vernünftigkeit der Gesetze (logos und nomos) zeugen und nicht von natürlicher oder bestialischer Wildheit, so sehr, dass der zum Tode Verurteilte, wenn er auch des Lebens oder des Rechts auf Leben beraubt wird, ein Recht auf das Recht und also, in gewisser Weise, auf Ehre und ein Begräbnis/Grabmal19 hat. Denn es gibt Schlimmeres als die Verurteilung zum Tode in dieser Logik, in dieser düsteren Syllogistik, im Syllogismus dieses nächtlichen Rats oder Syllogos. Das ist bei jenen Schuldigen der Fall, die wie Tiere [bêtes] sind, die keine Menschen mehr sind und die nicht einmal mehr ein Recht auf die Verurteilung zum Tode haben, die kein Recht auf ein Grab und auf Besuche des Nächtlichen Rats mehr haben. Es wird am besten sein, wenn ich mich diesbezüglich damit begnüge, eine außergewöhnliche Passage aus den Gesetzen vorzulesen (10. Buch, 909b-d). Das folgt unmittelbar, nachdem auf die Todesstrafe Bezug genommen


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