Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
thou shallt set before them“; auf Deutsch ist die Bezugnahme auf das Recht, auf die Strafjustiz noch expliziter: „Dies sind die Rechtsordnungen die du ihnen vorlegen sollst“*27, dann gibt es unter diesen Urteilssprüchen/Rechtsordnungen, unter dem, was buchstäblich ein Strafgesetzbuch ist, eine Reihe von Prinzipien oder Regeln, um Gerichtsentscheide [arrêts de justice] festzulegen, nun, dann gibt es darunter just eine ganze Reihe an Todesurteilen [arrêts de mort], an Verurteilungen zum Tode. Gott schreibt buchstäblich vor, all diejenigen zum Tode zu verurteilen beziehungsweise der Todesstrafe zu unterziehen, die bestimmte der durch die Zehn Gebote aufgestellten Verbote übertreten, insbesondere das „Du sollst nicht töten“. Ich zitiere zunächst die französische Übersetzung von Dhorme und schiebe die von Chouraqui etwas auf [je diffère], die uns gleich helfen wird, in all dem etwas klarer zu sehen.28 Unter den Urteilssprüchen/Rechtsordnungen, bezüglich derer Gott anordnet, dass sie den Söhnen Israels zur Kenntnis gebracht werden, gibt es also folgende, die ich auswähle, weil sie Todesstrafen beinhalten:
Wer einen Menschen (so) schlägt, daß er stirbt, muß getötet werden. Hat er ihm aber nicht nachgestellt, sondern Gott hat es seiner Hand widerfahren lassen, dann werde ich dir einen Ort bestimmen, wohin er fliehen soll. Doch wenn jemand an seinem Nächsten vermessen handelt, indem er ihn hinterlistig umbringt – von meinem Altar sollst du ihn wegnehmen, damit er stirbt. Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, muß getötet werden.
Wer einen Menschen raubt, sei es, daß er ihn verkauft, sei es, daß er in seiner Gewalt gefunden wird, (der) muß getötet werden.
Wer seinem Vater oder seiner Mutter flucht, muß getötet werden.29
Auf Englisch, immer noch in der King James Version, lautet das Äquivalent für „(der) muß getötet werden [il sera mis à mort]“: „he shall be surely put to death“, oder für jenes Motiv eines Para-Opfers, „Wenn jemand an seinem Nächsten vermessen handelt, indem er ihn hinterlistig umbringt – von meinem Altar sollst du ihn wegnehmen, damit er stirbt“: „thou shalt take him from my altar, that he may die.“ Auf Deutsch lautet die revidierte und modernisierte Luther-Übersetzung jedes Mal: Wer dies oder jenes getan hat, „der soll des Todes sterben“*, oder, in der Szene des Para-Opfers: „so sollst du ihn von meinem Altar wegreißen, daß man ihn töte“*.
Wie aber kann Gott dem Moses sagen, er solle den Söhnen Israels befehlen „Du sollst nicht töten“, und einen Augenblick später, auf unmittelbar konsekutive und scheinbar inkonsequente Art und Weise, „Du sollst den, der dieses oder jenes Gebot übertritt, dem Tod überliefern“30? Wie kann er ein Strafgesetzbuch, ein Recht erlassen, das einem flagranten Vergehen gegen die Ethik der Zehn Gebote ähnelt? Ich beschränke mich für den Augenblick natürlich nur auf dieses erste, sehr anfängliche Beispiel aus dem Buch Exodus, denn wenn wir uns daranmachen würden, die Todesstrafe in der Bibel zu untersuchen, bräuchten wir ein unendliches Seminar. Nun, der Grund dafür ist, Sie ahnen es, und Sie haben es vermutlich bereits verstanden, dass die Todesstrafe, die „Rechtsordnung“*, der Urteilsspruch, das Verdikt, das den Tod festlegt [arrête la mort], sich nicht auf denselben Tod bezieht, < auf > dieselbe Tötung wie die, von der im „Du sollst nicht töten“ die Rede ist. Man muss darauf insistieren, auf dieser Differenz zwischen zwei Toden, zum einen deshalb, um die Spezifität der Todesstrafe zu erkennen, die, de jure, etwas anderes sein sollte als ein einfacher Mord, zum anderen gleichzeitig aber auch, weil in der Moderne der für die Abschaffung der Todesstrafe kämpfenden Bewegungen31, die wir untersuchen werden, häufig auf ein Recht auf Leben als Menschenrecht Bezug genommen wird, das, sich implizit scheinbar auf das biblische „Du sollst nicht töten“ beziehend, alles übersteigt oder ignoriert, was in diesem biblischen Text mitnichten das absolute Recht auf Leben oder auch nur einen einfachen Gegensatz zwischen Leben und Tod betrifft, sondern zunächst eine Unterscheidung zwischen zwei Weisen, den Tod zu geben, wobei die eine durch das „Du sollst nicht töten“ verboten wird, und die andere durch das Strafgesetzbuch, das Gott seinem Volk durch seinen Mittelsmann Moses diktiert, vorgeschrieben wird. Und die Worte sind nicht dieselben, Gott wählt seine Worte wohl, wenn ich so sagen kann, und das ist der Grund dafür, warum uns hier die Übersetzung von Chouraqui interessiert. Chouraqui übersetzt das sechste Gebot nicht mit „tu ne tueras pas [Du wirst nicht töten]“, sondern mit „tu n’assassineras pas [Du wirst nicht morden]“32, so als ob man hier daran erinnern müsse, dass das Entscheidende nicht der Unterschied zwischen dem Leben und dem Tod ist, zwischen der Tatsache, leben zu lassen oder das Leben zu nehmen, sondern die Modalität, die nicht zu rechtfertigende Qualität der Aggression oder der Gewalt, die Kriminalität dessen, was das Leben antastet, nicht aber die Tatsache, das Leben zu nehmen. Und was die jugements, die Rechtsordnungen* betrifft, so übersetzt Chouraqui sie, so nahe wie möglich am Buchstaben und an der Wiederholung im Hebräischen, durch „wird/soll sterben, er wird/ soll sterben“: „Frappeur d’homme qui meurt, mourra, il mourra [Wer jemanden schlägt, daß er stirbt, / sterben muß er, sterben]“; „Qu’un homme prémédite contre son compagnon de le tuer par ruse, de mon autel, tu le prendras pour qu’il meure [Wenn aber jemand sich vermißt gegen seinen Genossen, ihn mit Hinterlist umzubringen, von meiner Schlachtstatt hinweg hole ihn, daß er sterbe]“; „Frappeur de son père, de sa mère, mourra, il mourra [Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, / sterben muß er, sterben]“; „Voleur d’homme et qui le vend, trouvé en sa main, mourra, il mourra [Wer jemanden stiehlt, / er habe ihn verkauft oder er werde in seiner Hand befunden, / sterben muß er, sterben]“; „Maudisseur de son père, de sa mère, mourra, il mourra [Wer seinen Vater oder seine Mutter verwünscht, / sterben muß er, sterben]“.33 +
Die beiden Tode, die beiden Tötungen stünden in keinerlei Zusammenhang, oder in einem so geringen Zusammenhang, sie wären derart heterogen, dass keinerlei Widerspruch bestünde, den einen zu verbieten [proscrire], während man den anderen vorschreibt [préscrit], zu sagen „Du sollst nicht töten“ im Sinne von „Du wirst/sollst nicht morden“, sowie anschließend zu sagen, anzuordnen, dass, wer mordet, mit dem Tode bestraft werde. In dieser Logik besteht keinerlei Affinitätsbeziehung zwischen dem Mord und der Todesstrafe, zwischen dem außergesetzlichen Mord und der legalen Todesstrafe. Der entscheidende Unterschied besteht hier nicht zwischen dem Leben und dem Tod, sondern zwischen zwei Weisen, den Tod zu geben. Der eine Tod, der der Todesstrafe, stellt das Gesetz oder das Gebot wieder her, das der andere Tod (der Mord) verletzt hat. Ebendiese göttliche Logik wird übrigens bisweilen buchstäblich die kanonischsten philosophischen Texte zugunsten der Todesstrafe inspirieren, die wir, wie ich hoffe, später noch genauer untersuchen werden. Alle großen Denker der Renaissance und der Reformationszeit haben sich im Übrigen auf die Bibel bezogen. Grotius tat es explizit. Hobbes und Locke rechtfertigten die Todesstrafe für Mörder, wie es auch Kant später tun wird, wir werden noch dazu kommen. Locke, Second Treatise of Government:
Unter politischer Gewalt verstehe ich dann ein Recht, für die Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze mit Todesstrafe und folglich auch allen geringeren Strafen zu schaffen, wie auch das Recht, die Gewalt der Gemeinschaft zu gebrauchen, um diese Gesetze zu vollstrecken und den Staat gegen fremdes Unrecht zu schützen, jedoch nur zugunsten des Gemeinwohls.34 +
Auch Rousseau rechtfertigt im Gesellschaftsvertrag die Todesstrafe gemäß einer mindestens analogen (vielleicht auch bloß analogen) Logik, in einem sehr schönen, ziemlich komplexen Kapitel, das ich später mit Ihnen genauer zu lesen hoffe; es handelt sich dabei um das 5. Kapitel des Zweiten Teils des Gesellschaftsvertrags, das den Titel „Vom Recht über Leben und Tod“ trägt, ein Kapitel, das nicht zufällig auf die Kapitel über die Souveränität folgt. Im Laufe einer verwickelten, nuancierten, beunruhigten, ja sogar besorgten Argumentation, aus der ich für den Augenblick nur folgenden Vorschlag herausgreife, billigt Rousseau auf diese Weise die Todesstrafe:
Die Todesstrafe, die über Verbrecher verhängt wird, kann man etwa unter demselben Gesichtspunkt betrachten [unter dem,