BOHÈME. Jonas Zauels
kreierte Persönlichkeit. Nicht gefesselt und gehemmt durch stetige Selbstzweifel, Unzulänglichkeiten und ewige Ängste. Ich werde ein neuer Mensch sein. Ich werde genau das sein, was ich mir vorstelle und genau das, was ich sein möchte.
Während dunkelweiße Nebelschwaden die Tragflächen des Flugzeuges scharf durchschneiden, erhebe ich mich, wie in Trance. Auf jede Höflichkeit verzichtend, dränge ich mich mit großem Kraftaufwand in die kaum eine Hand messende Lücke, zwischen dem fetten Mann und dem Vordersitz. Der Mann, kaum größer als ein Meter siebzig, doch ebenso breit, mit ungleichmäßig gestutztem Bart, unreiner Haut und amüsant geformtem Doppel- und Dreifachkinn, ist schon kurz nach dem Start in einen tiefen und laut schnaubenden Schlaf gefallen. Durch zwei Beine wie Ozeane schwimme ich endlich in den engen Gang, taste mich zwischen all den blöd aufguckenden Fluggästen, den schmalen Pfad entlang zur Toilette und schließe mich, tief durchatmend, in der Ein-Quadratmeter-Zelle ein.
Das kalte, standardgerechte Neonlicht verleiht eine unwirkliche Atmosphäre. Mit einer Nagelschere, die ziemlich mutwillig im Handgepäck gelandet ist, trete ich meinem Spiegelbild entgegen. Ein mageres Gesicht, umhüllt von langem, schwarzem, unkontrollierbar gewelltem Haar und hellen blauen Augen, erwidert entschlossen meinen musternden Blick.
Genauso verlasse ich die kleine Kabine wieder. Nur ohne meine Haare. Die sind ungleichmäßig kurzgeschoren und fliegen in diesem Moment durch die Wolken, weit verstreut über den Ozean. So stelle ich es mir zumindest vor. Was leicht klingt, hat gefühlte Stunden gedauert, und ich habe es bereits nach dem ersten Schnitt bereut. Da ist es schon zu spät gewesen.
Vor der Tür wartet eine alte Frau, grimmig dreinblickend. Ich dränge mich mit gesenktem Kopf an ihr vorbei.
Der Mann schläft noch immer. Laut schnaubend, als würde er schlecht Luft bekommen. Die Schönheit zu meiner Linken blickt mich kurz entgeistert an, wendet sich jedoch gleich wieder ihren eigenen Problemen und dem kleinen Fenster mit der wunderschönen Aussicht auf den Horizont des Wolkenmeeres zu.
„Fliegst du nach Paris?“
„Alle hier fliegen nach Paris“, gibt sie nach einem nicht zu überhörenden Seufzer zurück und würdigt mich keines weiteren Blickes.
Blöde Frage, ich gebs ja zu. Das Fliegen nervt mich schon jetzt. Ich habe keinen Platz, keine gute Sicht. Meine Sitznachbarn sind genervt oder komatös. Ständig kommen Stewardessen vorbei, um Getränke oder Zeitschriften zu verteilen. Beim fünften Mal nehme ich eine Cola. Nicht, weil ich Durst habe. Ich mag Cola nicht einmal. Die ganze Zeit etwas anzubieten, ohne dass jemand darauf reagiert – und dann auch noch in dem Outfit – muss schrecklich sein. Die junge Frau beugt sich mit dem Getränk, ich mich mit dem Geld so weit als möglich über den schlafenden Mann. Wir treffen uns in der Mitte, beide sehr darum bemüht zu lächeln. Unsere Arme sind bei dem Koloss keinen Zentimeter zu kurz.
Ich stelle die Cola vor meinen unbeirrt schnaubenden Nachbarn und mache die Augen zu. Schlafen kann ich nicht, doch erlaubt es mir die Illusion, alleine zu sein.
In meinem Kopf gehe ich den Plan durch, den mein Vater mir zurechtgelegt hat. Einen Monat habe ich in einer Gastfamilie Zeit, um mich einzugewöhnen, eine Wohnung zu finden, einen Job. Dann soll ich studieren. Dort hätte ich bessere Chancen. Keine Ahnung, ob ich das überhaupt will. Ich weiß ja generell nicht, was ich will. Etwas anderes natürlich – das ist klar.
Ich stelle mir eine junge, schöne Frau mit kurzgeschorenen Haaren vor, interessiert an Kunst, Literatur und Musik. Modernes Zeug, das, was die Klassik verstören würde. Formen, Farben, Gebilde. Stets ein passendes Zitat auf den Lippen. Keine Zitate! Die kann ich mir nie merken. Ein leichter Hang zum Alkohol, für die Inspiration. Nur Sekt, besser: Schnaps für die Figur. Modisch gekleidet. Nicht im klassischen Sinne, versteht sich. Experimentell und unheimlich individuell. Sport ist wichtig, wird aber nicht thematisiert. Proleten mag niemand. Kunststudium oder so. Viele oberflächliche Beziehungen zu allerlei Menschen, doch nur wenige ausgewählte Freunde.
Ich schlage die Augen auf, unterdrücke einen leichten Würgereiz. Ob er von der Vorstellung kommt oder von dem Luftloch, in das das Flugzeug hereingeflogen ist, kann ich nicht beurteilen. Die Cola steht wieder vor mir. Leer. Der dicke Mann schläft noch immer – oder wieder –, und auch die grimmige Schönheit hat ihre rosarote Schlafmaske aufgesetzt.
„Ist mir recht“, sage ich zu mir selbst und viel zu laut. Die ältere Dame von vorhin sitzt auf der anderen Flurseite und guckt mich blöd an. Ich gucke blöd zurück, dann wieder gegen den grauen Stuhlrücken vor mir, wo der allgemeinen Beruhigung wegen der Notfallplan hängt. Ich streiche mir über die Stoppeln auf meinem Kopf. Ein ungewohntes Gefühl. Am liebsten würde ich mir meine Kleidung gleich mit vom Körper reißen. Das muss noch etwas warten. Ich will alles, was ich bin, hinter mir lassen. Was hätte es auch sonst für einen Sinn, dorthin zu gehen, wo einen niemand kennt?
Das Dröhnen und Rauschen der Sprechanlage reißt mich unsanft aus dem Schlaf. Mein Kopf liegt angelehnt auf den weichen Schultern des dicken Mannes, der wohl schon länger wach ist.
„Tschuldigung“, nuschle ich in mich hinein und wische mir angetrocknete Spucke von der Wange. Der Mann blickt mich halb entgeistert, halb bemitleidend an; ich schenke ihm ein gequältes Lächeln.
„Bitte hinsetzen und die Gurte anlegen, wir befinden uns im Landeanflug“, schallt es fast unverständlich durch den Lautsprecher. Dann noch einmal auf Englisch und noch ein weiteres Mal auf Französisch. Ein scheinbar taubstummer Mann mittleren Alters mit langen Koteletten steht nach wie vor im Gang und wird überfreundlich zweisprachig von einer Stewardess zum Hinsetzen aufgefordert.
Jetzt ist es gleich soweit. Ich stelle mir meine clichéhaft französische Gastfamilie vor, wie sie mit fünf Kindern, Luftballons und einem großen Schild mit Felicia am Ausgang steht und auf mich wartet.
Ich freue mich so hier zu sein, ich habe ja schon so viel Schönes über Paris gehört, lege ich mir meinen ersten Satz zurecht.
„Flugangst?“, fragt mich der Dicke, der merkt, wie ich unruhig auf dem Stuhl hin und her rutsche.
Eher Angst vor dem, was nach dem Flug auf mich zukommt, denke ich und antworte: „Ja, ein bisschen.“
Er drückt mir eine kleine Plastikflasche Wodka in die Hand, so eine, die es in den Hotel-Minibars immer gibt und versucht seinen Bauch einzuziehen, um den Gurt zu schließen. Der Schnaps schmeckt fürchterlich; ihn nicht zu trinken wäre unhöflich. Ich merke, wie ich mich nach ein paar Minuten beruhige. Ob das am Alkohol liegt oder dem wachsenden Bewusstsein, dass ich mich mit meinem Schicksal schon abgefunden habe, als ich in dieses Flugzeug eingestiegen bin, kann ich nicht sagen.
Die Landung ist holprig. Das ganze Flugzeug klappert, und der Mann nimmt irgendwann meine Hand, um mich oder sich selbst zu besänftigen. Ich lasse es über mich ergehen, bis wir mit einem harten Ruck und quietschenden Reifen aufsetzen. Ein paar Passagiere klatschen, während ich mich schon luftanhaltend an dem Dicken vorbei in den Gang quetsche.
Endlich am Ausgang angelangt, halte ich zuerst nach Luftballons Ausschau, dann nach einem Schild mit meinem Namen und dann nach einer Familie mit fünf Kindern. Niemand wartet auf mich. Provokant stelle ich mich in die Mitte, sodass mich jeder sehen kann. Die weiße Schönheit wird von einem noch schöneren, braungebrannten Latino mit süßem Akzent und einem kleinen Strauß Lilien empfangen. Der Dicke wird von einer, im Gegensatz zu ihm geradezu schmächtig wirkenden Frau und einem kleinen Mädchen – vielleicht fünf oder sechs Jahre alt – begrüßt und herzlich in die Arme geschlossen. Selbst ein bärtiger Wilder – oder vielleicht doch ein Obdachloser – schreitet elegant, auf jeden Fall entschlossen, auf sein Ziel zu.
Nach und nach strömen alle bekannten und unbekannten Gesichter aus unerschöpflich landenden Flugzeugen an mir vorbei in die offenen Arme von Verwandten und Bekannten.
Es ist mitten in der Nacht. Ich bin genervt. Ich setze mich auf einen dieser unbequemen Flughafenstühle mit den harten Lehnen und blicke mich suchend um.
Es vergeht über eine Stunde, in der ich auf den verschiedensten Sprachen nach den verschiedensten Sachen gefragt werde, doch nicht einer ist dabei, der mich mitnehmen will. Wie ein ungeliebter Hund im Tierheim