BOHÈME. Jonas Zauels
geht, ohne eine Antwort abzuwarten an mir vorbei durch die Tür.
„Okay, hör zu“, beginnt Laetitia, als wir aus der prächtigen Haustür heraustreten und ein Taxi schon auf uns wartet, „ich habe echt keine Lust, Kindermädchen zu spielen. Ich nehme dich mit, damit Mama zufrieden ist, aber halte dich zurück. Das hier ist meine Welt.“
Auch, wenn ich sie wohl nicht mögen sollte, bin ich ziemlich angetan von diesem Mädchen. Die perfekte Tochter. Und sobald die Eltern das Haus verlassen, plötzlich ein ganz anderer Mensch.
Ich blicke gedankenverloren durch das Fenster und die vorbeifliegende Stadt zieht mich unmittelbar in ihren Bann. Alte, hohe Gebäude aus graubraunem Stein mit abgerundeten Ecken und einem Balkon mit Stein- oder Metallbrüstung an jedem einzelnen Fenster. Im Erdgeschoss eine nicht enden wollende Reihe Geschäfte, eine Boutique nach der nächsten und dazwischen – immer mal wieder – eine kleine Bäckerei oder ein edles Restaurant. Männer im Anzug und Frauen in feinen Kleidern. Dazu der Lärm von Motoren und Hupen und das endlose französisch Gequassel aus dem Radio.
Wir stehen falsch herum in einer Einbahnstraße, als der Taxifahrer uns aussteigen lässt, weil ihm ein Auto entgegenkommt.
„Ist gleich da vorne“, sagt Laetitia mehr zum Taxifahrer als zu mir und zeigt auf eine kleine, vornehm gekleidete Menschentraube, die vor einem Hauseingang mit großen Schaufenstern steht.
Kaum sind wir bei dem Grüppchen angekommen, begrüßt Laetitia alle um sie herum, und mich befällt das Gefühl, skeptisch gemustert zu werden. So oder so fühle ich mich hier nicht sehr wohl. Alle sind fein gekleidet, dank der hohen Schuhe mindestens zwei Köpfe größer und auf den ersten Blick ziemlich hochnäsig. Ich habe den Eindruck, der Mode-Elite von Paris ausgeliefert zu sein und statt unauffällig und ungesehen am Rande zu stehen, wie es Felicia wohl ergangen wäre, stehe ich, Florence, mittendrin und werde betrachtet, wie ein Hummer im Restaurant-Aquarium.
„Laetitia, da bist du ja endlich!“, drängt sich ein junger Mann in meine Gedanken und drückt dem Mädchen einen Kuss auf jede Wange und ein Glas Sekt in die Hand. Er ist groß und schlank, hat braune ungezähmte Locken und einen ebenso ungezähmten Ausdruck in seinen Augen.
„Und Hallo! Wen haben wir denn hier? Deine Augen, Wahnsinn!“, wendet er sich in verunsichernder Direktheit an mich, schnippt sogleich einen Kellner mit einem Tablett zu sich herüber und reicht auch mir ein Glas, nicht, ohne sich mit zahlreichen Wangenküssen vorzustellen: „Ferdinand Cantalloube, Schauspieler, Künstler und ein guter Freund der Ausstellerin.“
„Florence, einfach nur Florence.“
„Wie kommst du zu so einem Schmuckstück“, wendet er sich wieder an Laetitia und vertieft sich mit ihr gleich in ein Gespräch über neueste Ereignisse, mit denen ich nichts anfangen kann.
„Ich war also bei der Audition, habe mir den Arsch aufgerissen, um diesen Bösewicht von Théo zu spielen. Verdammt, mir sind sogar fast die Tränen gekommen, weil ich so überzeugend war! Na jedenfalls taucht dann dieser Schnösel auf, Ricardo, und der –“
„Ricardo? Der Ricardo? Der Freund von Monique?“
Auf der Suche nach einem neuen Glas Sekt oder einer anderen Beschäftigung als neben zwei Fremden zu stehen und zusammenhangslosen Geschichten zu lauschen, mache ich mich auf den Weg in die kleine Galerie. Große Leinwände mit teils bunten, teils schwarz-weißen Motiven zieren die Wände. Abgebildet sind reale Gegenstände oder Personen, die aber meist bis zur Unkenntlichkeit verzerrt sind. Von einem kleinen Tisch nehme ich mir ein volles Glas und streife langsam an den Werken vorbei. Die Galerie ist fast leer, alle stehen draußen und scheinen eher für das Event als für die Kunst hier zu sein. Vor einem Clown am Kreuz bleibe ich verstört stehen. Ich blicke auf das kleine Schild, um mehr zu erfahren.
Audrey Chevalier, ‚Clown am Kreuz‘ – 9500,-
Sehr hilfreich. Der Clown blutet Konfetti und trägt sein falsches Grinsen breit im Gesicht, während eine kleine, von der Schminke bunte Träne über sein Gesicht rollt. Auf dem Kopf trägt er statt einer Dornenkrone ein Luftballongebilde mit ähnlicher Form.
„Gefällt es dir?“ Eine junge Frau ist neben mich getreten. Sie lächelt mir freundlich zu, als ich sie kurz anblicke und dann gleich wieder den Clown, um ihn nicht aus den Augen zu lassen.
„Es ist, ähm, speziell. Ehrlich gesagt, mag ich keine Clowns.“
„Ja, es hat schon etwas Skurriles. Aber auch eine mächtige Anziehung, findest du nicht?“
„Wenn man die Verkörperung von Gott in einem toten Clown anziehend findet, dann sicherlich, ja. Es ist schön gemalt, keine Frage, die klar abgetrennten Konturen, die subtile und doch so reale Farbgebung, der sichere Pinselstrich, wirklich nicht von schlechter Hand. Doch thematisch irgendwie leicht verstörend. Ein Jesus-Clown, jetzt mal im Ernst, wer kommt auf so was?“
„Du weißt nicht, wer ich bin, oder?“ Ihre Stimme klingt gar nicht mehr freundlich. Eher gekränkt. Ich wende mich ihr langsam zu. Sie trägt mit Abstand das schönste und auffälligste Kleid und die aufwendigste Frisur, auf jeden Fall. Ihr hochgestecktes Haar wird durch unzählige Nadeln mit kleinen Perlen zusammengehalten.
„Du, ähm, ich meine, Sie sind die Künstlerin, nehme ich an?“ Verwundert bin ich nicht darüber, dass gerade ich in das erstbeste Fettnäpfchen gestapft bin.
„Audrey Chevalier“, stellt sie sich vor und zwinkert mir zu. „Immerhin mal eine ehrliche Meinung. Die oberflächlichen Kritiken von den üblichen“, sie zeigt mit dem Kopf auf die Straße in Richtung Laetitia, „kann man ja auch nur begrenzt ernst nehmen. Zu viel Angst um den eigenen Stand, dass man sich lieber der Meinung der Masse anpasst und stattdessen hinter vorgehaltener Hand lästert. Spätestens im Club gibt es die ehrlichen Kritiken. Aber die richten sich natürlich nie direkt an mich.“
Sie ist diese Art von Frau, der auf der Straße wohl jeder hinterherblicken würde. Ein Juwel an Eleganz und Schönheit, gepaart mit souveränem, selbstbewusstem Auftreten, das jeden in ihrer Umgebung klein erscheinen lässt. So geht es zumindest mir.
„Florence. Eine Freundin von Laetitia“, stelle ich mich vor.
„Oh, Laetitia, sie ist da sicher eine Ausnahme.“
„Sicher nicht“, zwinkere ich jetzt ihr zu und fühle mich im selben Moment wie ein naives Kind. Als hätte sie mir den Ball extra so zugespielt, dass ich mich nicht schlecht fühlen muss. Umso kleiner fühle ich mich jetzt, und umso überlegener wirkt nun sie.
„Du verstehst also was von Kunst?“ Wie kann nur eine freundliche Frage so verlegen machen?
„Ich, ähm, ich male selbst ein wenig.“
„Tatsächlich, dann musst du mir mal etwas von dir zeigen.“
Ich nicke schüchtern. Abgesehen davon, dass ich nicht einmal ein Bild hier in Paris habe.
„Also Florence, willst du später mit in den Club?“, greift Audrey die kurze Stille gleich wieder auf.
„Ich weiß nicht genau, was der Plan ist. Aber ja klar, warum nicht.“
„Nimm deine Freundin ruhig mit.“
Sie macht es einem schwer, ihr irgendetwas abzuschlagen.
Audrey hat noch andere interessierte Gäste, also gehe ich mit zwei neuen Gläsern Sekt wieder zu den anderen auf die Straße. Alle rauchen. Ich glaube, das ist hier eine Mode-Erscheinung, die jeder bereitwillig mitmacht.
„Sekt?“, biete ich dem schönen Ferdinand das Glas an, der es überrascht, aber dankend annimmt.
„Santé! Die fantastische Audrey hast du schon kennengelernt, wie ich gesehen habe?“
„Ja, sie ist wirklich beeindruckend.“
„Nicht wahr? Genau wie ihre Kunst. So neoavantgardistisch.“ Ich nicke beiläufig und nippe an meinem Glas. Eigentlich vertrage ich nicht viel, doch der Sekt schmeckt zu gut.
„Geht ihr denn gleich in den Club?“,