BOHÈME. Jonas Zauels
ein, nachdem Laetitia ihr überschwänglich unsere Verwandtschaft unterbreitet hat.
Sie zeigt uns einige Werke von sich, die sehr schön anzusehen sind und hauptsächlich naturalistische Motive abbilden.
„Du malst doch auch, Schwesterchen, stimmt doch, oder?“, wendet sich Laetitia wie ein aufgedrehtes Kind an mich. „Ferdinand hat es mir verraten.“
„Ja, ein wenig“, gebe ich schüchtern zurück. Zuhause war Kunst nie ein besonderes Thema. Ich habe gemalt; und keiner hat danach gefragt. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was mir lieber ist.
„Hast du Lust?“ Caroline hält mir einen langen, feinen Pinsel hin.
„Jetzt? Hier?“
„Klar, warum denn nicht? Ich habe alles da. Leinwände in allen Größen, sämtliche Farben …“ Sie beginnt in der Wohnung herumzulaufen und alles zusammenzuraufen. „Lass es einfach geschehen. Lass dich vom Pinsel leiten, und füge dich der Kunst. Gibt es was Schöneres?“
Warum sind hier alle so exzentrisch, frage ich mich und nehme eine Palette Farben entgegen.
„Das ist jetzt dein Reich. Wir gehen runter und quatschen was. Laetitia? Ein bisschen Jazz, einen Martini?“
Ich nicke. Laetitia nickt. Caroline nickt. Die beiden strahlen fröhlich und lassen mich alleine.
Als Caroline nach zehn Minuten mit einem Drink und ruhigem Jazz, der von der Treppe hinaufklingt, zu mir herüberweht, weiß ich endlich, was ich malen soll und rühre ein kräftiges Rot-Orange an.
Caroline wird etwa in unserem Alter sein, doch sieht sie auf seltsam verbrauchte Weise sehr viel jünger aus. Ich ziehe die Umrisse ihres mageren Gesichtes großzügig auf eine sechzig mal vierzig Zentimeter Leinwand. Ihr feines Kinn, die eingefallenen Wangen, die halb verdeckten Ohren. In der Mitte die kleine, feine Nase, die freundlich bescheiden emporragt, die ausgeprägte Mulde hin zu den vollen Lippen, hinter denen leicht die Zähne hervorblitzen, die blauen, runden Augen mit den dünnen, nahezu durchsichtigen Wimpern, die hellen Augenbrauen, nicht zuletzt die Haare, die goldrote Mähne.
Aus dem Wohnzimmer höre ich Laetitia, wie sie ihrer Freundin die magische Geschichte ihrer lange verschollenen Zwillingsschwester noch einmal in Ruhe, lauwarm und mit jeder Menge Details ausgeschmückt serviert, die ich selbst zum ersten Mal höre. Der Abend bei Audrey Chevaliers Ausstellung ist beispielsweise unser erster gemeinsamer Zwillingsausflug gewesen, worüber die Gastgeberin so begeistert war, dass sie uns bereitwillig in den Club eingeladen hat.
Haare, Augenbrauen und Sommersprossen bekommen dieselbe Grundierung, wobei das Haar in verschiedenen Nuancen von Hell nach Dunkel im einfallenden Licht strahlt. Die Sommersprossen sind über das gesamte Gesicht verteilt, jedoch besonders dicht auf der linken Nasenhälfte, der linken Wange oben, gleich unter dem Auge und der rechten Wange etwas weiter unten. Die Lippen sind hell beige-rot, die makellose, feine Haut fast weiß. Caroline scheint ganz begeistert von der Geschichte und hält sich mit ihren Glückwünschen nicht zurück. Nach einiger Zeit habe ich das Gefühl, dass die beiden mich komplett vergessen haben und langsam aber sicher betrunken werden. Sie albern herum, sind unheimlich laut und wechseln bald vom Jazz zum Beat, während ich mir mit aller Mühe Carolines blaue, durchdringende Augen ins Gedächtnis rufe, um sie auf die Leinwand zu bringen.
Es dauert ungefähr zwei Stunden, bis mich das wunderschöne Gesicht von Caroline in Überlebensgröße ansieht und wohl ebenso lange, bis die beiden Mädchen im Erdgeschoss endgültig betrunken sind. Ich gehe zögernd die breite Holztreppe hinunter und räuspere mich, um sie nicht zu erschrecken. Sie blicken, wie aus einer Trance erwachend, mit fahlen Augen aus ihrem innigen Gespräch auf und es dauert einige Zeit, bis sich ihre Gesichter aufhellen, lebendig werden, sie laut strahlend meinen Namen rufen. Meinen gestohlenen Namen.
„Scheiße, man, Florence, ich hab dich ganz vergessen!“, lallt Laetitia amüsiert.
„Zeig her, zeig schon her, ich will wissen, was du gemacht hast!“ Caroline springt überschwänglich auf und blickt mich erwartungsvoll an.
„Es ist oben“, antworte ich schüchtern. Caroline und Laetitia leisten sich ein betrunkenes Wettrennen nach oben und stehen stumm vor der Leinwand, als auch ich endlich ankomme.
„Du hast mich gemalt?“, findet Caroline die Worte wieder.
„Ich habe dich gemalt“, antworte ich resigniert, als würde ich das Bild selbst zum ersten Mal sehen. Jetzt ist es mir unangenehm. Es erscheint mir auf unterschiedlichste Weise unangebracht.
Tränen haben sich in Carolines Augen gesammelt, als sie sich langsam zu mir umdreht. Wie aus dem Nichts, presst sie mich so feste an sich, dass sie mehr sich selbst, als mich zu zerdrücken droht. Sie ist so dünn und zart.
„Es ist wunderschön“, sagt sie fast stimmlos.
„Sieh nur die Details, der Ausdruck, das Leben in den Augen, der Wind in den Haaren …“ Laetitia steht ganz nah vor dem großen Leinwandgesicht und schaut sich jede Farbe und jede Form genau an. Aus ihr spricht der Alkohol, da bin ich mir sicher. „Sieh nur, deine Sommersprossen …“ Laetitia wirkt auf mich immer mehr wie ein kleines Kind im Süßigkeitenladen.
Wir trinken noch etwas und reden mehr. Die beiden behandeln mich so, als wäre ich schon immer Teil ihrer kleinen Gruppe gewesen, als würden wir uns ewig kennen. Und auch ich fühle mich in Paris willkommener als je zuvor.
FÜNF
„Arthur! Du hast dich nicht verabschiedet, dich nicht gemeldet, nicht geschrieben und jetzt sagst du nicht einmal Bescheid, dass du wieder da bist!“ Laetitia wirkt verärgert und drückt sich durch die halboffene Tür in die Wohnung.
„Was machst du denn hier? Bist du betrunken?“
„Ich wollte dich sehen, du Idiot!“
Arthur ist sich ziemlich sicher, dass sie verärgert ist.
„Ist gerade schlecht“, versucht er sich herauszureden. „Ich wollte eben los zu meinem Bruder.“
„Das ist mir egal, du musst jetzt einfach mal Zeit für mich haben. Das bist du mir schuldig. Du bist einfach gegangen. Ich wusste überhaupt nicht, was los ist, bis Ferdinand mir alles erklärt hat. Warum hast du mir nichts gesagt?! Warum hast du dich nicht verabschiedet oder mir wenigstens geschrieben?!“
„Ja, keine Ahnung, tut mir leid.“
„Das ist alles?! Arthur, ich habe dich so vermisst.“ Laetitia schmiegt sich ganz feste an den Jungen, als würde sie ihn nie wieder loslassen wollen.
„Hör zu, können wir das nicht wann anders klären?“
„Nein, jetzt bin ich hier. Hast du was zu trinken?“
„Hast du nicht genug?“
„Nur ein Gläschen, nur zum Anstoßen, auf dich, dass du wieder da bist. Oh man, siehst du gut aus. So braun und kräftig.“
„Na schön, ein Glas, dann muss ich los.“
Sie setzen sich zusammen an den kleinen Tisch, und Laetitia kann kaum ihren Blick von den tiefen grünen Augen abwenden.
„Ohne Ferdinand hätte ich wahrscheinlich in Wochen noch nichts von deiner Rückkehr erfahren.“ Ihre Stimmung schwankt zwischen Enttäuschung und blinder Zuneigung.
„Laetitia, es freut mich ja sehr, dass du vorbeikommst … aber wir können nicht einfach da weitermachen, wo wir aufgehört haben. Es gab gute Gründe, warum ich gegangen bin. Zwei Jahre sind eine lange Zeit; ich habe mich verändert. Du hast dich verändert. Das wird so einfach nicht funktionieren.“
„Ja, ich weiß, dein Papa und so. Wir brauchen Zeit, das weiß ich, das weiß ich doch. Oh man, ich muss dir so viel erzählen! Du hast hier echt so viel verpasst!“
Als der Wein leer ist und Laetitia noch betrunkener als zuvor, setzt Arthur sie in ein Taxi nach Hause. Das Mädchen hat fast durchgehend einen munteren Monolog über