BOHÈME. Jonas Zauels

BOHÈME - Jonas Zauels


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      „Deine Freundin?“

      „Was? Nein. Monique, das ist Arthur, mein Bruder. Wir haben viel zu besprechen, am besten gehst du jetzt. Ich rufe dich dann an, okay?“

      „Monique, die Monique von Ricardo?“, wendet sich Arthur leise an Ferdinand, während das Mädchen wutschnaubend ihre Klamotten zusammenrafft.

      „Lange Geschichte. Komm erst mal rein, willst du was trinken? Was essen? Oh Mann, ist das lange her!“

      „Immer noch der Alte, was?“

      Die beiden Brüder unterhalten sich, bis der Morgen langsam im dichten Nebel über der Stadt graut. Die verstaubten britischen Platten von den Kinks bis hin zu Supertramp rauschen fast ungehört an den beiden vorbei. Arthur redet von seiner Reise und versucht die zwei Jahre voller Erlebnisse zusammenzufassen. Ferdinand redet über seine Schauspielpläne, darüber, wie schwer es ist, einen Fuß in das Business zu bekommen und darüber, dass Ricardo ihm die Rolle geklaut und er sich daraufhin Monique vorgenommen hat.

      Vor der Reise waren die beiden Brüder unzertrennlich, haben alles gemeinsam gemacht, zusammen gewohnt, hatten die gleichen Freunde und die gleichen Interessen. Bis eines Tages die Zusage für Arthurs Feldstudie über Schamanismus und Neo-Schamanismus im eisigen Grönland kam.

      „Sozusagen auf den Spuren von Merete Demant Jakobsen“, lacht Arthur, nicht ohne Stolz. Ferdinand versteht kein Wort.

      Zwei Jahre, die aus den beiden Brüdern eigenständige Menschen gemacht, sie dazu gezwungen hat, ihr individuelles Leben zu führen, ihren eigenen Wünschen und Träumen nachzujagen, ohne einander gleichermaßen zu stützen wie zu behindern.

      Als Arthur am Nachmittag im weichen, für die Jahreszeit viel zu warmen Federbett aufwacht, ist Ferdinand schon weg. In der Küche liegt eine kleine Notiz:

       Komm heute Abend in den Club!

      Ferdinand hat die Wohnung umgestaltet. Überall hängen Bilder und Poster von Theaterstücken wie Molières Don Juan oder Sartres Les Jeux sont faits, die sich wohl nicht mehr widersprechen könnten. Es herrscht fahrlässige Unordnung. Klamotten, Bücher, Theater-Manuskripte, Schallplatten. Jeder Menge Kleinkram, den man nicht weiter zuordnen kann.

      Arthur geht ins Bad, um zu duschen. Es ist lange her, dass er sich das letzte Mal richtig im Spiegel betrachtet hat. Sein Haar bedeckt einen Großteil seines Gesichts. Seine Haut ist braun, sieht um die jugendlich leuchtenden, grünen Augen unnatürlich alt aus. Als würde ein ganzes Leben hinter ihm liegen. Freude gleichermaßen wie Furcht, großes Glück gleichermaßen wie die schweren Rückschläge. Die Haut ist die ehrliche Leinwand des Lebens. Sie trägt eine Wahrheit, vor der sich Arthur mit aller Mühe zu verstecken sucht.

      Er ist ein Leben älter als vor zwei Jahren. Er ist ein anderer geworden. Die Frage, ob er wirklich noch in seine geliebte Pariser Welt passt, verdrängt er, stutzt sich nach dem Duschen säuberlich den viel zu lang gewordenen, sich als Schutz vor der Kälte verdient gemachten Bart – nicht zu viel, sodass die blasse Haut darunter nicht zu sehr zum Vorschein kommt. Dann streift Arthur sich ein paar Klamotten seines Bruders über.

      Er kramt aus seinem noch immer nicht entleerten Rucksack die Unterlagen und Notizen der letzten Monate heraus. Zuletzt war er bei einer kleinen Schamanen Gruppe im Westen Grönlands. Eine liebenswerte Gemeinschaft, auf der Suche nach Verbundenheit mit der Natur, der Welt, den Menschen, dem Übersinnlichen. Die Schamanen versuchen durch Ekstase, durch Sinneserweiterung eine Bindung zu einer übernatürlichen Welt herzustellen, wobei sie häufig auf Hilfsmittel wie Halluzinogene, rhythmische Musik, Gesang und Tanz zurückgreifen, um einen Tranceähnlichen-Zustand zu erreichen. Es hat lange gedauert, bis ich als Außenstehender an einer solchen Prozedur teilnehmen und sie beobachten durfte. Es war eine gleichermaßen faszinierende, wie auch beängstigende Erfahrung, den ekstatischen Schamanen in die milchig-grauen Augen zu blicken, während sie sangen, brabbelten, gar schrien, die Gliedmaßen in alle Richtungen streckten. In gewisser Hinsicht ist das dem Streben jugendlicher Hitzköpfe nach transzendentaler Erfahrung durch Exctasie, Speed oder LSD auf kommerzialisierten Goa-Partys gar nicht unähnlich. Ob man es Spiritualismus, Religion oder Rave nennt, spielt keine Rolle. Auch Traditionen und Bräuche stellen dabei keinen entscheidenden Unterschied dar. Nur der Zweck – der Rausch an sich bei den feiernden Jugendlichen und, im Gegensatz dazu, die erstrebte Harmonie und Balance mit der Welt und sich selbst bei den Schamanen – bilden einen grundlegenden Kontrast.

      Arthur vergisst über seine Notizen und seine aufkommenden Erinnerungen ganz die Zeit, und so ist es schon spät, als er beschließt, noch in den Club zu gehen, um ein paar alte Gesichter wiederzusehen. Als er gerade seine Schlüssel zusammensucht, klopft es an der Tür. Verwundert über den späten Besuch, öffnet er vorsichtig. Im Türrahmen lehnt, mit einem großen Lächeln auf dem Gesicht und ebenso großen Pupillen, Laetitia.

      VIER

      Das Mädchen steht freudestrahlend neben meinem Bett, reicht mir einen starken, schwarzen Kaffee und mustert mich ununterbrochen aus ihren dunklen Augen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit ihr reden, ihr die Wahrheit sagen kann oder mich doch lieber auf das falsche Spiel einlasse, bis ich irgendwann ungesehen verschwinde.

      „Hör zu, Laetitia“, setze ich an und blicke in ihr aufgewecktes Gesicht.

      „Ja?“

      Ich will sie nicht verletzen.

      „Danke für den Kaffee.“

      Sie strahlt, wie im Club, wie auf Koks und zündet sich nervös eine Zigarette an.

      „Auch eine?“

      Ich winke ab.

      „Ich bin so aufgeregt, dich kennenzulernen, Florence, Schwester. Du musst mir alles über dich erzählen!“

      „Florence, einfach nur Florence.“ Das Schwestern-Ding ist mir unangenehm.

      „Natürlich, Florence. Ich muss dir unbedingt ein paar Leute vorstellen, du wirst sie lieben. Ich muss unbedingt jedem von dir erzählen. Florence, mein Zwilling, wer hätte das gedacht!“

      Sie ist so entzückt, dass sie weder still sitzen noch stehen kann und unaufhörlich durch das Zimmer geht und springt und wild mit den Händen und der Zigarette herumfuchtelt. Absurderweise sehen wir uns tatsächlich ähnlich. Wir haben beide schwarze Haare, den gleichen Hautton und in etwa die gleiche Größe. Ich überlege für einen Sekundenbruchteil, ob ich hier vielleicht doch richtig bin, verwerfe diesen abwegigen Gedanken jedoch gleich wieder. In allen anderen Punkten sind wir ja grundverschieden. Charakterlich liegen schon hundertfünfzehn Familien zwischen uns.

      „Florence, hast du nicht auch immer das Gefühl gehabt, nicht vollständig zu sein? Das Gefühl, dass da jemand fehlt in deinem Leben?“

      „Ja, nein, keine Ahnung, hab ich mir nicht so Gedanken drüber gemacht.“

      „Ich dachte wirklich, nach gestern Abend kann ich gar nicht mehr glücklicher werden. Oh man, wir werden so eine tolle Zeit zusammen haben. Ich zeige dir hier meine Welt, und dann komme ich dich mal besuchen, und du zeigst mir deine. Bei euch da unten, das ist bestimmt ganz aufregend!“

      „Klar“, nicke ich und ringe mir ein Lächeln ab. Ich sitze noch immer im Bett und blicke dem aufgescheuchten Huhn hinterher, das verzweifelt versucht die neuen Verwandtschaftsverhältnisse zu verarbeiten.

      Am Nachmittag schleppt mich Laetitia zu ihrer Freundin Caroline. Caroline ist so dünn und schneeweiß, wie die unbemalte Leinwand die hinter ihr auf einer Staffelei steht. Sie hat feuerrotes, wildes Haar und ihr dürres, eingefallenes Gesicht ist gänzlich bedeckt mit Sommersprossen, die nur durch die hellroten, nahezu weißen Augenbrauen, die blauen großen Augen und die blassen, doch vollen Lippen unterbrochen werden. Ich glaube, ich habe mich augenblicklich in sie verliebt. Sie ist wie mein Negativ auf einem Kodak-Film. Die Haare, die Haut, nur die Augen in annähernd gleichem Blau. Caroline ist natürlich Künstlerin und lebt in einer übertrieben großen Wohnung in Saint-Germain, in unmittelbarer Nähe der Seine und umgeben von Designerboutiquen


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