Adventslektüre. Sonja Oetting
Augen an. »Das ist doch jetzt nicht dein Ernst!? Die Kinder müssen auf ihren Adventskalender verzichten, weil du lieber zum Sport willst?«
»Es liegt wohl eher daran, dass du zu spät damit angefangen hast.« Michael duckte sich sicherheitshalber weg, falls Kerstin auf die Idee kommen sollte, etwas nach ihm zu werfen. »Ich denke, dass diese ganze Adventskalendersache mittlerweile überhandnimmt. Darüber sollten wir mal nachdenken.«
»Wenn du meinst«, antwortete Kerstin, stand von ihrem Stuhl auf und verschränkte die Arme.
Michael hatte das Geschäft um die Adventskalender schon seit langem satt. In den Supermärkten standen seit Wochen die Adventskalender diverser Hersteller in den Regalen. Von billiger Schokolade bis zu Marken-Plastikspielzeug war alles dabei. Jeder Kalender musste größer, bunter und toller sein. Er vermied schon, seine Kinder überhaupt mit in den Supermarkt zu nehmen, um Diskussionen vorzubeugen. Was am Ende von den Kalendern übrigblieb, war Krimskrams, der nach kurzer Zeit unterm Bett oder bestenfalls im Mülleimer endete. Wann hatten Eltern aufgehört, ihren Kindern sinnvolle Geschenke zu machen?
»Ich bin mit einem simplen Schokoladenkalender aufgewachsen«, sagte Michael. »Es war das Größte für mich, morgens noch vor dem Frühstück das Türchen zu öffnen und dieses besondere Stückchen Schokolade zu essen.«
»Das war bei mir doch genauso«, antwortete Kerstin. Ihre Stressflecken verblassten langsam. »Die Zeiten haben sich aber geändert. Früher gab es diese Auswahl nicht.«
»Aber nur, weil es diese Vielfalt jetzt gibt, müssen wir da doch nicht mitmachen.« Michael schüttelte seinen Kopf.
Kerstin erklärte Michael, dass sie sich aus diesem Grund dazu entschlossen hatte, die Adventskalender selber zu basteln. »Nur deshalb habe ich doch diese ganze Arbeit damit. Spaß macht mir der Bastelkram bestimmt nicht, das weißt du. Ich finde es aber wichtig, dass die Kinder merken, dass die Vorweihnachtszeit etwas Besonderes ist. Und ein Adventskalender gehört für mich dazu.«
»Dann lass uns doch eine andere Lösung finden«, sagte Michael.
Während sie nach einer Alternative suchten, kochte Michael erst mal einen Kaffee. Die beiden hatten schon viele Probleme mit Kaffee gelöst. Während des weiteren Gesprächs stellten sie fest, dass ihre Meinungen gar nicht so weit auseinander lagen. Die selbstgebastelten Kalender waren schon eine gute Lösung. Allerdings waren sie am Ende auch viel teurer als Fertigprodukte.
»Wir überschütten unsere Kinder mit Geschenken. Hier eine Kleinigkeit, dort eine Kleinigkeit. Und am Ende wundern wir uns, dass sie nicht damit zurechtkommen, wenn wir ihnen mal einen Wunsch abschlagen«, stellte Michael fest.
Kerstin konnte ihm da nur zustimmen. Der Prozess ließ sich nur schwer aufhalten, war er erst einmal in Gang gesetzt.
Plötzlich hatte Michael eine Idee. Es sollte ab sofort einen Familien-Adventskalender geben. Die Rechnung war simpel: vier Personen und vierundzwanzig Tage. Das bedeutete sechs Geschenke pro Person.
»Spürst du das auch?«, fragte Kerstin. »Ich glaube, der Geist der Weihnacht hat uns gerade bei der Lösung unseres Problems geholfen.«
»Oder der Kaffee«, antwortete Michael und zwinkerte Kerstin zu. »Aber du hast recht. Wir müssen uns viel häufiger darauf besinnen, was wichtig ist.«
Nachdem alle Geschenke gekauft und in kleinen Baumwollsäckchen verpackt waren, riefen Michael und Kerstin die Kinder ins Wohnzimmer, um den neuen Familien-Adventskalender zu präsentieren.
Ben und Emma freuten sich über den Anblick des Kalenders. Aber wahrscheinlich hatten sie mit ihren acht und vier Jahren noch nicht sofort verstanden, dass es in diesem Jahr weniger Geschenke gab. Die nächsten Tage würden es zeigen.
Gemeinsam suchten sie einen Platz im Wohnzimmer, um den Kalender aufzuhängen.
Plötzlich blickte die kleine Emma erschrocken auf. »Lucy, wir haben Lucy vergessen!«
Wie aufs Stichwort schlenderte Katze Lucy ins Wohnzimmer. Als sie die Säckchen an der Wand entdeckte, lief sie freudig darauf zu. Veränderungen machten sie immer sehr neugierig. Prompt fing sie auch an, mit dem Schleifenband, das um eines der Säckchen gebunden war, zu spielen.
Kerstin krauelte Lucy am Köpfchen und sagte: »Wir haben sie nicht vergessen. Lucy hat jetzt einen Monat lang ein fantastisches Spielzeug.«
Zur Bestätigung setzte ein wohliges Schnurren ein.
Die familiäre Stimmung wurde von der Türklingel unterbrochen. Als Michael öffnete, konnten die anderen bereits die unverwechselbare Stimme von Oma Annemarie hören. Zielstrebig kam sie ins Wohnzimmer. »Schaut mal Kinder, was ich euch mitgebracht habe!« Voller Stolz streckte sie ihnen zwei riesige Adventskalender entgegen.
Ben und Emma grinsten über beide Ohren und liefen ihr entgegen.
Kerstin und Michael blickten sich wortlos an – so viel dazu.
2.
Papa, der Grinch
Michael und Kerstin saßen gemeinsam mit ihren Kindern Ben und Emma in der Küche beim Abendbrot. Es war zwar erst 17 Uhr, aber bereits stockdunkel. Während der Wind durch die Luft pfiff, tanzte das letzte herabgefallene Laub freudig herum und fegte über den Boden hinweg. Je ungemütlicher es draußen war, desto gemütlicher wurde es im Haus.
Kerstin lief ein wohliger Schauer den Rücken hinunter. Sie griff nach ihrem Teebecher und wärmte ihre Hände daran. Sie liebte diese Abende, an denen die Familie gemeinsam den Tag ausklingen ließ.
Während sie den Moment gerade in vollen Zügen genoss, wurde ihr bewusst, dass dieser Frieden nicht mehr lange halten konnte. Sie ärgerte sich über sich selbst, denn dieser Gedanke entwickelte sich unweigerlich zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Als sie argwöhnisch auf Emmas nächsten Wutanfall oder zumindest einen Streit zwischen den Kindern wartete, unterbrach Michael ihre Beobachtung: »Wo wir hier gerade so gemütlich zusammensitzen …«
»Oh nein, nicht schon wieder!« Kerstin verdrehte die Augen.
»Was soll das denn jetzt heißen? Lass mich doch bitte mal aussprechen!«, brachte Michael die Worte mit betonter Freundlichkeit heraus. »Bald ist Weihnachten, und darauf freue ich mich sehr.« Er machte eine Pause und blickte in die Gesichter seiner Familie. »Allerdings würde ich mir wünschen, dass … «
»Dass es nicht so stressig wird wie im letzten Jahr«, beendete Kerstin seinen Satz.
Es war passiert. Der Frieden beim Abendessen wurde zerstört, und diesmal war Michael schuld.
Jedes Jahr gab es die gleiche Diskussion im Hause Krüger. Michael mochte den Trubel um Weihnachten nicht. Genaugenommen mochte er gar keinen Trubel um irgendwas. Für ihn waren die Weihnachtsvorbereitungen, wie Geschenke zu kaufen, Spaziergänge über den überfüllten Weihnachtsmarkt zu machen oder die Besuche der Familienangehörigen unnötiger Stress. Er tat sich schwer damit zu akzeptieren, dass einige Dinge einfach dazugehörten. Das war zumindest Kerstins Eindruck. Augen zu und durch, das war ihre Devise – und am Ende war es doch eigentlich immer ganz schön … so unterm Strich. Warum konnte er das nicht einfach so hinnehmen? Außerdem konnten sie sich glücklich schätzen, dass sie überhaupt so eine große Familie hatten.
Kerstin war klar, dass sie nicht wieder die Moralkeule, wie Michael es nannte, schwingen durfte. Darauf reagierte er mittlerweile mehr als allergisch. Sie musste diesmal eine andere Strategie versuchen. Deshalb entschied sie sich dafür, mit einem scherzhaften Ansatz zu versuchen das Thema zu beenden.
»Das ist ja mal ganz was Neues von dir«, sagte Kerstin und zwinkerte ihren Kindern zu. »Du kleiner Grinch, jetzt spring mal über deinen Schatten. Am Ende werden wir ja doch das volle Programm durchziehen. So wie in jedem Jahr. Es wird allerdings viel weniger schlimm, wenn du dich von Anfang an darauf einlässt.«
Noch bevor Michael