Adventslektüre. Sonja Oetting
versperrten ihr den Weg.
Michael stand mit hochrotem Kopf und einer Rolle Isolierband auf der Leiter. Ben schien zwischenzeitlich die Lust verloren zu haben. Jedenfalls war er nicht mehr hier draußen.
Emma und Kerstin stiegen aus. »Was ist denn hier los?«, rief Kerstin in Michaels Richtung.
Michael reagierte nicht und arbeitete stur weiter. Sie sah Harald auf der anderen Straßenseite stehen, der sich augenscheinlich über Michaels Anblick köstlich amüsierte. Dann rief er herüber: »Schau mal, deine Frau ist da! Vielleicht kann sie dir ja helfen. Ihre Finger sehen etwas geschickter aus als deine.«
Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Kerstin verstand diesen Wettstreit zwischen Michael und Harald nicht und hatte ihn vorhin als Ego-Männerkram oder Midlife-Crisis abgetan. Doch aus nächster Nähe mit anzusehen, wie Michael öffentlich angegriffen wurde, das konnte sie so nicht stehen lassen.
Schlagartig setzte ihr Beschützerinstinkt ein. Sie warf Harald einen bösen Blick zu, frei nach dem Motto: Wenn Blicke töten könnten, und schüttelte dabei den Kopf. Der konnte was erleben!
»Ich bin gleich wieder da!«, rief sie Michael zu und brachte Emma ins Haus. Sozusagen in die Sicherheitszone.
Als Nächstes musste ein Schlachtplan her. Deshalb kochte sie erst mal einen Kaffee; der hat noch immer geholfen.
Als sie mit den Bechern vor die Haustür ging, verstand Michael ihre Geste sofort. Ein Lächeln vertrieb sein grimmiges Gesicht, während er von der Leiter stieg.
Die beiden setzten sich auf die Stufe vor ihrem Haus, tranken den Kaffee, währenddessen Michael sein Problem schilderte.
Harald rief wieder irgendwas herüber, doch das ignorierten sie.
Anscheinend hatten Mäuse in den letzten Monaten an den Kabeln der Weihnachtsbeleuchtung genagt. Es funktionierte nur noch eine kleine Elfe. Alle Reparaturversuche waren bisher erfolglos verlaufen.
Während Michael noch sprach, kam Harald zu den beiden herüber, um sich die gewünschte Aufmerksamkeit zu verschaffen.
»Hallo, Nachbar, gibt’s Probleme?«, fragte er in einem solch gehässigen Ton, dass selbst Kerstin ihm am liebsten ein paar Takte erzählt hätte.
Doch Michael hielt sie zurück. »Alles in Ordnung«, antwortete Michael mit aufgesetztem Grinsen. »Einen schönen Tag noch!« Michael deutete ihm mit einer Handbewegung, zurück zu seinem Haus zu gehen.
Die beiden konnten Haralds Gelächter noch hören, als er fast schon wieder bei seinem Haus angekommen war.
»Was ist sein gottverdammtes Problem?«, fragte Kerstin.
»Ich hab doch gesagt, dass er unangenehm ist«, antwortete Michael.
»Unangenehm ist eine maßlose Untertreibung. Aber egal, nicht aufregen. Ist von diesem Zeug hier noch irgendwas zu retten?« Kerstin zeigte auf den Kabelhaufen in der Einfahrt.
Michael zog eine Augenbraue hoch. Die Frage kam überraschend für ihn. »Äh, dafür brauchen wir einen Elektriker, denke ich. Die Kabel müssen ausgetauscht oder geflickt werden.«
»Super, ich rufe meinen Cousin Dietmar an. Der kann das garantiert mal eben erledigen. Ich warte hier auf ihn und zeige ihm alles. Du kannst in der Zwischenzeit in den Baumarkt oder sonst wo hinfahren, um noch etwas aufzurüsten. Dir wird schon etwas einfallen, was wir noch gebrauchen können. Was meinst du?«
Michael war sprachlos. Er umarmte Kerstin und gab ihr einen Kuss. »Ich glaube, meine Frau wurde im Schwimmbad von Außerirdischen entführt. Aber da will ich mich jetzt mal nicht beschweren«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Wir sind doch ein Team. Der da drüben hat das letzte Mal über uns gelacht!«
4.
Weihnachten im Schuhkarton
Jedes Mal, wenn Michael das Schulgebäude betrat, kamen die Erinnerungen an seine eigene Schulzeit wieder hoch. Dieser unverwechselbare Duft aus PVC, Schweiß und altem Mauerwerk. So konnte nur ein Schulgebäude riechen. Das würde sich wahrscheinlich nie ändern. Mit großen Schritten nahm er zwei Stufen auf einmal und ging die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Am Ende des Flures lag Bens Klassenzimmer auf der linken Seite.
Es war Elternabend, und er wollte pünktlich sein, um es zu vermeiden, ganz vorne sitzen zu müssen. Auch diese Dinge änderten sich anscheinend nie.
Als er das Klassenzimmer betrat, war es etwa halb voll. Seine Eile hatte sich gelohnt.
Er legte seine Jacke auf einem Stuhl in der vorletzten Reihe ab. Nachdem er sich diesen Platz gesichert hatte, ging er zum Pult, um die Klassenlehrerin zu begrüßen.
»Hallo, Frau Kleinschmidt. Wie geht es Ihnen?«
»Ach, Herr Krüger, schön, dass Sie da sind. Wir haben heute einiges auf der Tagesordnung, und bei unserem Kooperationsprojekt zähle ich auf Ihre Unterstützung.« Frau Kleinschmidt zwinkerte ihm zu.
Was das wohl wieder bedeutete?
Kerstin und er gingen nicht gern zu den Elternabenden oder zu sonst irgendwelchen Elternveranstaltungen. Sie wollten sich an den kräftezehrenden und überflüssigen Kleinkriegen, die permanent an verschiedenen Fronten ausbrachen, nicht beteiligen. Es war schon erstaunlich, welches Engagement einige Eltern aufbrachten, wenn es um eine vermeintliche Benachteiligung ihrer Sprösslinge ging.
Nichtsdestotrotz hielten die beiden es für notwendig, sich zumindest beim Elternabend blicken zu lassen.
In diesem Jahr hatte es Michael getroffen. Er hatte beim Schere, Stein, Papier-Spiel verloren. Auf diese Art trafen Kerstin und er einige ihrer unliebsamen Entscheidungen.
Nach den allgemeinen Worten zum Verlauf des Schuljahres, den krankheitsbedingten Unterrichtsausfällen und dem Stand der längst überfälligen Renovierungsmaßnahmen des Schulgebäudes ging es plötzlich ans Eingemachte: der Weihnachtsbasar.
Einmal im Jahr organisierte die Schule einen Weihnachtsbasar. Dort wurden Bastelarbeiten der Kinder sowie selbstgebackener Kuchen der Eltern verkauft. Der Erlös wanderte in die jeweilige Klassenkasse und wurde für einen Ausflug genutzt. Mit dieser Tradition wollte Frau Kleinschmidt in diesem Jahr brechen. Für einen guten Zweck. Gewagt!
»Wie Sie vielleicht wissen, hat unsere Schule ein Kooperationsprojekt mit Schulen in Namibia. Anlässlich des Weihnachtsfestes schlage ich Ihnen vor, die Kinder in unserer Partnerklasse in Windhoek zu unterstützen; und zwar mit einer gezielten Spendenaktion. Sie nennt sich Weihnachten im Schuhkarton und wird seit vielen Jahren überall auf der Welt praktiziert.«
»Und was ist dann mit dem Weihnachtsbasar?«, fragte eine Mutter aus der ersten Reihe.
»Den würden wir in diesem Jahr dafür ausfallen lassen.«
Ein Raunen zog sich durch die Klasse.
»Dürfte ich Ihnen vielleicht erklären …«
Frau Kleinschmidt wurde von einer anderen Mutter unterbrochen: »Aber unsere Kinder freuen sich doch schon so sehr darauf. Also meine Sophie hat zu Hause schon ganz fleißig angefangen zu basteln.«
»Meine Claudia auch«, stimmte eine andere Mutter ein.
»Jetzt lasst Frau Kleinschmidt doch mal ausreden!«, entfuhr es Michael lauter, als er es beabsichtigt hatte. »Ihre Mädchen können doch trotzdem etwas basteln. Das verbietet ihnen doch keiner.« Jetzt war klar, worauf Frau Kleinschmidt bei der Begrüßung angespielt hatte.
»Vielen Dank, Herr Krüger. Es geht darum, dass jedes Kind dieser Klasse ein Weihnachtsgeschenk an ein Kind unserer Partnerklasse verschickt. Mit Ihrer Hilfe natürlich. Dadurch lernen Ihre Kinder, dass es Teile in der Welt gibt, in denen es nicht allen Menschen so gut geht wie uns hier in Deutschland. Das Geschenk muss in einem Schuhkarton