Der Immun-Kompass. Imre Kusztrich
versucht werden, die Killerzellen zu stimulieren, zum Beispiel mit den Vitaminen A und C und mit Impfstoffen.
In einem Milliliter Blut werden 10.000 weiße Blutkörperchen vermutet. Das wären insgesamt 50 Millionen, die alle innerhalb weniger Tage erneuert werden müssen. Übrigens, genauso viele Zellen, 50 Millionen, entstehen in unserem Körper in jeder einzelnen Sekunde, durch Teilung und Kopieren.
Meistens sind bakterielle Enzyme, also Substanzen mit chemischen Wirkungen, ihre Gegner. Alle bedrohlichen Kategorien werden unter günstigen Voraussetzungen von den T-Zellen beseitigt.
Im Sinne ihres Erfinders, der Evolution, richtet sich die angeborene Fähigkeit zur Einleitung von Entzündungen idealerweise nur gegen Mikrolebewesen, die getötet und entsorgt werden können. Im modernen Leben haben sich die Gesichter unserer Krankheiten jedoch gewaltig verändert, was das Immunsystem auf einen Irrweg locken kann.
Fresszellen steuern für gewöhnlich kranke oder kaputte Zellen an, umfließen sie und verleiben sie sich ein. Gegen Viren funktioniert dieses Zerstörungsprinzip jedoch nicht. Die Aktivierung der Fresszellen gegen diese Bedrohung kann so zur Gefahr werden. Offensichtlich startet das Immunsystem mit bestimmten Signalen starke Entzündungswellen, um immer mehr neue Fresszellen zu aktivieren und um die sich rasant vermehrenden Viren loszuwerden. Es ist, als werde ein Schalter umgelegt. Bestimmte Voraussetzungen erhöhen diese Wahrscheinlichkeit, wozu ein höheres Alter, Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes zählen.
Bei Älteren neigt das Immunsystem eher zu entzündlichen Reaktionen (Quelle: Dr. Thomas Kamradt, Deutsche Gesellschaft für Immunologie. DER SPIEGEL, 11. 06. 2020).
Vermutet wird, dass rasch anwachsende Fettzellen kontinuierliche besonders gefährliche Reaktionen nach sich ziehen. Vielleicht wegen Sauerstoffmangels rufen diese Gewebe das Immunsystem zu Hilfe. Statistisch steigen dadurch die Risiken von inflammatorischem Stress und von Krebs.
Während der Coronapandemie mussten in New Yorker Krankenhäusern überproportional viel mehr Patientinnen und Patienten mit einem Body Mass-Index von 30 und darüber behandelt werden. Aus Daten von mehr als 4.100 Infizierten wurde glaubhaft errechnet: Bei einem männlichen Patienten um die 50 Jahre, 1,80 Meter groß und 96 Kilo schwere – das entspricht einem B.M.I. von 30 – resultierten diese Belastungen in einer Vervierfachung des Sterberisikos. Ab einem B.M.I. von 40 erhöhte sich die Todeswahrscheinlichkeit auf das Sechsfache.
Entzündliche Prozesse werden irrtümlicherweise auch durch Stresszustände, durch Umweltchemikalien, durch Medikamentenwirkstoffe und Nahrungszusätze verursacht. Sogar das so genannte toxische Sitzen, ein stundenlanger bewegungsarmer Lebensstil (sedentary behaviour, „Deutschland sitzt sich krank“) wird vom überwachsamen Organismus als ein Erkrankungszustand gewertet, der bekämpft werden muss. Wieder ist die Entzündung die erste Wahl.
Eine einzige Runde von neun anstrengenden Minuten im Fitnessstudio änderte von 17.662 Molekülen im Blut 9.815.
Geleistet wurden rhythmische Gymnastikübungen mit geringer Intensität, die den Ausübenden noch genug Luft zum Sprechen ließen.
Die Testpersonen waren 40 Jahre alt oder darüber. Innerhalb einer Stunde verzeichneten Wissenschaftler im Anschluss zuerst einen steilen Anstieg von Signalstoffen, die eine Entzündung befürworten, und danach ihr Austausch zugunsten von entzündungshemmen den Molekülen. Im Wesentlichen hatten die von Bewegung beeinflussten Blutanteile Funktionen im Stoffwechsel, im Immunsystem, in der Reparatur beschädigter Zellen und in der Erzeugung von Appetit.
Nicht jeder Organismus, der für diese Arbeit gemessen wurde, reagierte ähnlich. Große Unterschiede zeigten sich bei Menschen mit Diabetes. Bei Insulinresistenz war der Trend zu Entzündungsprozessen erhöht, was den Verdacht nährt, dass Menschen mit gestörtem Stoffwechsel von körperlicher Anstrengung erst einmal weniger profitieren (Quelle: „A single session of exercise alters 9815 molecules in our blood“. New York Times. 10. Juni 2020).
Doppelt bedauerlich ist, dass fast unausweichlich die gutgemeinten Entzündungen ohne aktuellen Anlass nahezu immer ohne Erfolg bleiben. Danach wird der inflammatorische Killerstress immer stärker und chronisch. In Extremfällen endet es mit der sinnlosen Zerstörung von harmlosen körpereigenen Geweben durch chronischen inflammatorischen Stress. Überreaktionen präsentieren sich auch als Allergien.
Oder, noch schlimmer, es kommt durch die Unfähigkeit des Immunsystems, unsere Organe als körpereigen zu erkennen und zu verschonen, zur krankhaft übersteigerten Produktion von Angriffssubstanzen. Wie der Name Antikörper vermuten lässt, entwickeln sich Abwehrreaktionen gegen gesunde Moleküle. Es droht eine oder mehrere von 38 Autoimmunerkrankungen. Zu den am besten bekannten zählen Alopecia areata, Diabetes mellitus Typ I, Hashimoto-Thyreoiditis, Morbus Bechterew, Morbus Crohn, Multiple Sklerose und Psoriasis.
Die heftigen Entzündungsattacken geschehen sogar weiterhin, obwohl eine Infektion längst besiegt ist. Der Organismus erkennt nicht, dass das Schlimmste schon überstanden ist. Durch diese Überreaktion bleibt die Krankheit am Ende nicht auf die Lunge beschränkt, sondern auch das Herz, Gefäße, das Gehirn oder andere Organe werden ihre Opfer.
Fledermäuse geben Rätsel auf und machen Hoffnung
Wer chronische Entzündungen vermeiden, länger leben und gefährliche Folgen von Viruserkrankungen wie COVID-19 vermeiden möchte, hat zwei Wege: Entweder eine Infektion völlig ausschließen, was praktisch nicht möglich ist, oder die Erfolgschancen der Krankheitsabwehr auf die speziellen Bedrohungen einstellen. Dabei bietet sich der Wissenschaft das Immunsystem von Fledermäusen als Studienobjekt an.
Fledermäuse werden seit Langem verdächtig, Quellen von Viruserkrankungen wie Tollwut, Ebola und Sars-CoV-2 zu sein. Wie können sie derart gefährliche Erreger übertragen, ohne selbst daran zu Grunde zu gehen?
In der Regel stehen die Größe eines Lebewesens und seine Lebensspanne in einer logischen Beziehung. Je kleiner ein Organismus ist, desto kürzer lebt er. In dieser Hinsicht leisten manche Fledermausarten mit einer Lebensdauer von 30 bis 40 Jahren Enormes (Quelle: „Cell Metabolism“, Juli 2020). Sie erreichen das durch die Fähigkeit ihres Immunsystems, Viren zu bekämpfen ohne zerstörerische Entzündungsprozesse.
Im menschlichen Organismus können Viren derartige Antworten auslösen, und es ist häufig diese inflammatorische Stressreaktion, die tötet, und nicht das Virus selbst. Ziel ist die Beseitigung des Virus und die Unterdrückung der Infektion. Jedoch häufig stürzt die vom Körper gewählte Abwehrmethode den Organismus schicksalhaft in einen Überlebenskampf mit ungewissem Ausgang. Inflammatorischer Stress hat eine mitentscheidende Rolle beim Altern und bei der Krankheitsentstehung.
Warum ist das Immunsystem von etwa 1.000 Fledermausarten für uns Menschen doppelt interessant? Einerseits sind sie besonders stark gefährdet. Es sind die einzigen unter den 6.399 Säugetierarten, die fliegen können. Sie sind häufig unterwegs und bringen neue Substanzen mit sich zurück. Sie leben in engen, dunklen Kolonien, übertragen Erreger und bieten Viren beste Infektionsmöglichkeiten. In diesem Zusammenhang müssen sie im Stande sein, Temperaturunterschiede rasch auszugleichen, ihren Stoffwechsel explosionsartig zu steigern und zu drosseln und Gewebeschäden rasch zu beheben. Diese Anpassungen werden kontinuierlich aktualisiert, und das scheint sie zu schützen (Quelle: „Could Bats Hold Clues to COVID Treatments?“ HealthDay. 16. Juli 2020).
Die Frage ist offen, wie das auch uns Menschen gelingen könnte.
Lymphsystem, unsere Kläranlage
Ihre Frischwassergöttin nannten die Römer lympha, und diese Erinnerung steht symbolisch für die gewünschte Reinheit der Lymphe, der Flüssigkeit in unserem Klärsystem. Neben dem Blutkreislauf ist es jenes zweitwichtigste Transportsystem, das Abfallstoffe, Krankheitserreger