Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen. Annerose Matz-Donath
muß es ab und zu eine Frau gegeben haben, die ein mütterliches Herz für die Kinder hatte. Eine Bekannte der Familie scheint das Kind an eine solche Frau erinnert zu haben. Wenn sie zu Besuch kam, ging der sonst so scheue Kleine von allein zu ihr hin und schmiegte sich an ihre Seite. Im Bilde des großen Kinderelends soll dieser schmale Lichtstreif nicht unterschlagen werden. Bei der Heimverbringung der Kinder ging es offensichtlich nicht um ihre Versorgung, sondern um ganz andere Ziele. Denn häufig bemühten sich Großeltern oder andere Verwandte darum, die Kinder aufzunehmen. Bei politischen Gefangenen war solches Verhalten sogar die Regel – sofern es überhaupt noch unverhaftete Familienmitglieder gab. Aber nur der Familie einer einzigen SMTerin ist es je gelungen, ihr Enkelkind dem grausamen Kinderheim-Regiment der DDR zu entreißen. Margot Schliekers Eltern gehörten zu den anderen vielen, die keine Chance gegen die Behörden hatten:
„Ich hatte kein Bild meines Kindes, ich wußte nicht mal, wie es ihm überhaupt geht. Meine Mutter wollte es zu sich holen. Aber die haben es ihr nicht gegeben. Erst mal hat sie angefragt, wie es dem Kind überhaupt geht und wo es ist. An die Polizei ist das gegangen, in Leipzig. Und da haben sie geschrieben, das Kind ist im Kinderheim da und da.
Ich habe das Schreiben noch: Es ist von 1951. Da war der Kleine schon ein ganzes Jahr alt! ‚Wie uns das Kinderheim mitteilte, befindet sich das o.g. Kind in einem guten Gesundheitszustand und entwickelt sich seinem Alter entsprechend sehr gut. Irgendwelche Beschwerden traten bei ihm nicht in Erscheinung. Unterschrift: Volkspolizeipräsidium Leipzig.’
Für deren Begriffe war das wahrscheinlich schon sehr menschenfreundlich. In Hoheneck dachten sie da ganz anders. Ich habe es erst sehr viel später erfahren. Denn als meine Mutter mir das dann geschrieben hat, haben sie es in Hoheneck herausgeschnitten. Es wurde ja doch immer sehr viel rausgeschnitten, aus den Briefen … Da kamen ja manchmal so richtige Scherenschnittdeckchen an. Das war das, was nach der Zensur noch übrig geblieben war, was kaum mehr zusammenhielt. Das weiß ich noch. Und ein Bild bekam ich in Hoheneck gar nicht.“
Vieles, was im Namen der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ geschah, hing von menschlicher Willkür ab. Nur manchmal waren Glück oder Zufall mildernd im Spiel. Dem waren auch die Frauen von Hoheneck ausgeliefert. Wer ein Bild seiner Angehörigen haben durfte und wer nicht, hing zum Beispiel von solchen Umständen ab. In besonderem Maße galt das für die Jahre 1950 bis 54, die Ära der SMTerinnen.
Im Juli 1950 hatte Thea Kösel in Hoheneck ihr zweites Kind zur Welt gebracht:
„Die Bedingungen bei der Geburt? Frage nicht! Alles andere als schön, kann ich dazu nur sagen. Dann die Mütterstube: Da waren ein paar Kinderbetten mit Strohsack, und da wurden die Kinder dann hineingelegt. Meine Tochter ist bald verhungert, weil ich selbst keine Nahrung hatte. Wenn eine andere Kameradin, die heute nicht mehr lebt, sie nicht ein paar Mal gestillt hätte, bis sie über den Berg war, hätte das Kind gar nicht überlebt!
Haferflocken gab es für die Kinder, aber die ungereinigten, groben Haferflocken mit den Schalen drin. Und diese Spelzen sind hart und spitz. Meine Tochter hat sich gekrümmt und gewunden davon und vor Schmerzen geschrien. Da habe ich dann in der Küche gebeten – wir kriegten ja jede Woche auch einmal Haferflocken – wenn sie uns das geben würden – wir hätten uns das für die Kinder ja gerne selber gemacht. Da hat der Polizei-Küchenchef gesagt, ‚Ja ja, wir werden euren Kindern noch Zucker in den Hintern blasen!’“
Nach vier Monaten kam, wie üblich, auch die kleine Susanne Kösel in ein Heim. Es war kurz vor Weihnachten, als man sie ihrer Mutter aus den Armen nahm – für wie lange? Frau Kösel war zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt gewesen. Da sie schwanger war, wurde die Strafe jedoch „gnadenhalber“ auf zehn Jahre Zwangsarbeit herabgesetzt:
„Nachdem ich abgeurteilt und in die Zelle gebracht worden war, wurde ich plötzlich noch einmal aufgerufen und mußte runter kommen, und da haben sie gesagt – nochmal dieses selbe Gericht zusammen –,sie hätten sich entschlossen, mich zu begnadigen – und nun sollte ich mich darüber freuen! – Ach, mir war doch alles egal! Zehn Jahre – oder fünfundzwanzig …?!“
Ja, wer hat schon die Nerven, über eine Strafe von „nur“ zehn Jahren Freude zu empfinden? Für die Behandlung während der Untersuchungshaft hatte Theas Schwangerschaft übrigens keine Rolle gespielt:
„Ich habe genauso gehungert wie alle anderen. Selbst das wenige, was es gab – ach, ich konnte ja überhaupt nichts essen, solches Sodbrennen habe ich gehabt. Der Kaffee – diese undefinierbare braune Brühe – dazu gab es nur trockenes Brot. Ich habe gedacht, in der Plörre ist Süßstoff drin. Nachher, später, haben sie mal gesagt, da ist Marmelade drin gewesen. Meistens hätten die mit Marmelade gesüßt. Das war dann dermaßen süß – richtig widerlich! Und das Innere vom Brot, das war wieder fürchterlich sauer. Das konntest du gar nicht essen. Und da habe ich nur die Rinden abgemacht und gekaut. Ich bin nicht so lange in Potsdam – in Untersuchungshaft – gewesen. Vom November bis zum März. Dann bin ich da weggekommen. Da war ich im sechsten Monat. Mit der Kleidung kam ich immer noch zurecht. Denn vor Hunger und Aufregung wurde ich ja statt dicker immer dünner.“
Was für sie das Schwerste in ihrer Haft gewesen sei? Thea muß für die Antwort keine Sekunde überlegen: Die Sorge um den in Bautzen inhaftierten Mann und die Kinder. Die Erstgeborene war erst drei gewesen, als nach Vater und Großmutter auch die Mutter noch abgeholt worden war. Ein Kleinkind von drei Jahren, unversorgt und allein in der Wohnung – was für Schreckensbilder ruft diese Vorstellung auf!
Auf der Treppe hatte Frau Kösel ein Nachbarskind getroffen. An diesem jungen Mädchen hing nun ihre ganze Hoffnung:
„Christina schläft oben. Ich gebe dir mal den Schlüssel. Ich muß hier mit. Vielleicht guckst du mal nach ihr?’ hatte ich ihr gerade noch sagen können. Bei den Verhören habe ich dann immer gefragt, was meine Tochter macht. ‚Der geht es gut’ und ich sollte mir keine Sorgen machen, kriegte ich immer zur Antwort. ‚Morgen sagen wir Ihnen, wo sie ist.’ Und so jedes, jedes Mal, wenn ich fragte. Immer war es ‚das nächste Mal…’, wo sie mir sagen wollten, wo meine Dreijährige nun war. Das war dann auch noch ein Terror gewesen von ganz besonderer Art. Es war eine Hölle – und das in meinem Zustand! Ich hatte manchmal überhaupt kein Empfinden mehr, kein Gefühl oder sonst irgend etwas – gerade so, als wäre ich schon tot …“
Wie es ihrem Mann ergangen war, erfuhr sie auf schockierende Weise schon im März auf dem Transport über Bautzen nach Hoheneck. Was sie dabei zu hören bekam, konnte ihr das Herz nur noch schwerer machen:
„Wir waren einige Frauen und einige Männer auf dem LKW. Sprechen durften wir zwar nicht. Aber vorsichtig, fast ohne die Lippen zu bewegen, hat mir dann doch einer zugeraunt: ‚Ach, Sie sind Frau Kösel? Na, ihr Mann, als der aus dem Karzer kam, kam er zu uns. Wir wußten nicht, ist das ein Mensch oder ist das ein Tier? So war er zugerichtet.’ –
Er hatte dreiundzwanzig Tage im Karzer gesessen, war bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen worden und wurde dann mit Wasser übergossen, damit er wieder zu sich kam. Am Tage dann in die überheizte Zelle zum Verhör. So ging das dreiundzwanzig Tage lang. Als er aus dem Karzer kam, hatte er eine Lungenentzündung. Diese Lungenerkrankung hat dann mit den weiteren Folgen der Haft nach neun Jahren in der Freiheit zu seinem frühen Tod geführt. Da war er erst fünfundfünfzig. Als jungen, gesunden Mann von einundvierzig hatten sie ihn verhaftet.“
Mit der Verhaftung waren die Kösels für ihre Umwelt spurlos verschwunden, genau so wie Tausende vor ihnen schon in der Besatzungszone der Sowjets. Die Gründung der DDR, die ja inzwischen erfolgt war, hatte daran vorerst gar nichts geändert. Allerdings – für Thea dauerte es nur ein knappes Jahr, bis sie ihr erstes Lebenszeichen nach draußen senden durfte. Seit dem Sommer 1950 durften in Hoheneck jeden Monat 15 Zeilen geschrieben und empfangen werden. Da endlich erhielt Frau Kösel die Antwort auf die Frage, die ihr auf der Seele brannte: Wer hatte sich ihrer kleinen Tochter Christina angenommen? Wo lebte sie, wie erging es ihr?
„Die Nachbarn hatten Christina zu sich genommen und dann durch Bekannte meine Tante