Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen. Annerose Matz-Donath
Vernehmern. Als die Wehen kamen, beschrie die junge Erstgebärende in ihrer schmerzgeschüttelten Hilflosigkeit die Wände ihrer Einzelzelle. Da endlich wurde eine andere Gefangene zu ihr geschlossen, schließlich auch ein Arzt, Untersuchungshäftling wie alle Deutschen dort.
So verlief die Geburt: Auf rostigem Eisenbett, der schmutzige Strohsack dünn vor Häcksel, ohne Kissen und Laken – die Gebärende unter abgenutzter, stinkender Pferdedecke – der Geburtshelfer ohne alle Mittel außer seinen Händen, einer rostigen Schere zum Durchtrennen der Nabelschnur und ein paar Lumpen, das Neugeborene darin einzuhüllen. Gleich nach der Geburt nahm man der Mutter den Säugling weg: er sei zu schwach zum Leben gewesen, sei gestorben. Später flüsterte der Mutter eine Frauenstimme durch die Zellentür zu, das kleine Mädchen sei am Leben und werde auch gut betreut.
Nach der Verurteilung, auf dem Transport nach Sachsenhausen, legte man der Mutter das kleine Bündel noch einmal in den Arm. Da sah sie, der Säugling war wirklich sehr zart und schwächlich. Edeltraud dazu:
„Eine Kameradin meiner Mutter von dem gleichen Transport hat mir erzählt, wie es war: Die Quarantäne-Station in Sachsenhausen war ungeheizt – und das bei zwanzig Grad Minus Außentemperatur! Alle froren Stein und Bein, die meisten waren ja auch bloß in Sommersachen – so, wie sie verhaftet worden waren. Meine Mutter sei schier verzweifelt, weil sie gar nicht mehr wußte, wie sie mich warm halten sollte. Und wäre ich nicht in die Krankenstation gekommen, hätte ich es wohl nicht überlebt. Aber von meiner Mutter blieb ich dadurch die ganze Zeit in Sachsenhausen getrennt, und nur in Hoheneck war ich ganz kurze Zeit, vielleicht zwei, drei Monate lang, noch einmal mit ihr zusammen. Bis sie im Frühjahr 1950 alle Kinder heimlich von Hoheneck weggebracht haben. Da war ich dann auch dabei.
Meine Mutter hätte mich zu ihren Eltern geben wollen. Doch das wurde nicht erlaubt. Später wurde ihr gesagt, das Heim, in dem ich untergebracht sei, sei nicht billig, und sie müsse durch ihre Arbeit zu meinem Unterhalt beitragen. Alles ging immer ans Kinderheim, hat sie mir erzählt. Ich höre sie noch sagen, denn das hat mir tiefen Eindruck gemacht: ‚Ich habe bis zur Erschöpfung gearbeitet. Dann konnte ich wenigstens schlafen. Mich interessierte gar nichts mehr. Mit dem Leben hatte ich völlig abgeschlossen.’“
Die meisten Informationen darüber, wie es ihrer Mutter ergangen war, fragte sich Edeltraud Thoma bei deren Hohenecker Haftkameradinnen zusammen – nach dem Zusammenbruch der DDR, als sie in den Westen reisen konnte und auch in ihrer Heimat darüber gesprochen werden durfte. Die Mutter erlebte das nicht mehr. Sie hatte auch in der Familie kaum über die Vergangenheit reden mögen.
„Was meine Mutter mir selber erzählte? Das war wenig. Sie wollte sich nicht erinnern und nicht erinnert werden. ‚Wegen deines Vaters mußte ich sitzen’, hat sie manchmal gesagt, ‚wegen angeblicher Spionage. Dafür haben sie mir zehn Jahre Zwangsarbeit gegeben.’ Aber sie hätte in Wirklichkeit niemals irgend etwas mit Spionage oder mit Spionen zu tun gehabt hat, hat sie mir gesagt.
Als alle SMTer 1950 von den Sowjets an die Deutschen übergeben wurden, ging für jede Person ein Bogen mit Personalangaben mit. Auf dem Papier meiner Mutter war geschrieben ‚Verbreitung antisowjetischer Flugblätter’. So steht es noch heute klipp und klar auf ihrer Karte in der Hohenecker Gefangenenkartei.
Meine Mutter ist schon vor Jahren gestorben, und so kann ich sie nicht mehr fragen. Aber ich bin auch so ganz sicher, dass sie weder das eine noch das andere getan hat. Vielleicht hatte sie aber eines dieser Spottgedichte in der Tasche – auf die Russen und die SED, wie sie damals umgingen unter den Leuten. Das galt als antisowjetische Flugblatthetze. Dafür sind seinerzeit harmlose Zeitgenossen sogar zu zwanzig und fünfundzwanzig Jahren verurteilt worden.“
Nachdem Frau Thomas Mutter 1954 im Zuge der sowjetischen Frühjahrsamnestie aus Hoheneck entlassen worden war, ging sie mit Edeltraud in ihr Elternhaus zurück. Doch mit der Haftzeit war längst nicht alles vorbei. Bis in die späten 60er Jahre verdunkelte die Vergangenheit der jungen Mutter das Leben. Erst dann wurde eine diskriminierende Arbeitsplatzbindung aufgehoben. Und endlich wurde sie damals auch wieder zu einem „vollwertigen Bürger der DDR“ erklärt, wie die Tochter berichtet. Das entsprechende Schreiben, wie es auch andere Ehemalige erhielten, wäre bei Stellung des Rentenantrags abzugeben gewesen. Doch so weit schaffte es Edeltrauds Mutter nicht mehr. Eine Nierenerkrankung machte ihr seit 1973 zu schaffen. Doch eine Dialyse-Behandlung wurde ihr nicht gewährt. Die Geräte brauche man für jüngere Menschen und Mütter mit vielen Kindern, sagte man der Kranken. Sie war damals – Jahrgang 1925 – achtundvierzig Jahre alt. Zwei Jahre später – mit fünfzig – starb sie an Nierentuberkulose. Es blieb ungeklärt, ob die Krankheit eine Folge der Haftzeit war.
Wenn Edeltraud Thoma heute auf ihr Leben zurückblickt, wird deutlich, wie sehr es vom Schicksal der Mutter geprägt worden ist:
„Ich war meiner Mutter wohl immer ein Stachel im Fleisch. Sie wollte die Zeit in den Lagern vergessen, und ich habe ihr das unmöglich gemacht. Das hat sie mich spüren lassen – bewußt oder unbewußt.
Zwiespältig war das – auf der einen Seite hat sie mich mit Arbeit schwer herangenommen. Schon als Elfjährige mußte ich Kohlen ausfahren und schon vor der zehnten Klasse aus der Schule als Putzfrau arbeiten. Von den zwanzig Mark, die ich damit verdiente, mußte ich den größten Teil zu Hause abliefern. Klar, das Geld wurde dort als Wirtschaftsgeld dringend gebraucht, aber einen Beruf zu erlernen, wo ich mehr verdiente, hat sie mir auch nicht erlaubt. Freizeit? Das war ein Fremdwort für mich. Mit anderen jungen Leuten zusammen sein, irgend etwas unternehmen? Wann hätte ich das denn tun können? Denn das war die andere Seite: So hart meine Mutter auch mit mir umging – sie verlangte kategorisch, dass ich jeden Abend bei ihr saß. Ob mir der Sinn danach stand oder nicht – stundenlang mußte ich mit ihr spielen – Halma, Dame und was es sonst so an Brettspielen gibt.“
Erst 1965 – da war Frau Thoma schon einundzwanzig – rang sie der Mutter die Erlaubnis zu einer beruflichen Ausbildung ab. Sie holte die zehnte Klasse der Schule nach, machte eine Lehre, erwarb einen Facharbeiterbrief, heiratete und begründete damit einen eigenen Hausstand. So hatte sie sich aus der Abhängigkeit von der Mutter gelöst. Doch von dem schwer lastenden Gefühl der Verantwortlichkeit für das Leben der Mutter befreite auch eine äußere Trennung nicht. Die bittere Klage „Für deinen Vater mußte ich sitzen!“, gar die absurde Idee „Wäre ich nicht mit dir schwanger gewesen, hätte ich flüchten können!“ – das alles hatte sich längst viel zu tief in das Bewußtsein der Tochter gegraben. Frau Thoma heute:
„Eines ist ganz sicher: Meinetwegen war ihre Gefangenschaft besonders schwer. Deshalb war ich immer bemüht, das wieder gutzumachen. Ich habe oft nicht verstanden, warum sie mich so zurückstieß. Aber bis zu ihrem Tode habe ich darum gekämpft, von ihr geliebt und anerkannt zu werden. Und sie hat das gewußt, aber sie konnte wohl nicht anders. Erst als sie im Sterben lag, hat sie mir endlich gesagt: ‚Oh Edeltraud – wie habe ich Dich behandelt! Und Du warst mir doch die Liebste!‘“
Den Schmerz der Tochter um die Mutter linderte die Zeit. Aber seit Frau Thoma nach dem Schicksal der „Verbrecherkinder“ forscht, zu denen sie selbst einst gehörte, verfolgen schlimme Bilder sie bis in den Schlaf. Das Kinderheim in Naunhof, das bis 1960 bestand, hatte fünfundzwanzig Plätze. Die dort untergebrachten Kinder waren in vier Gruppen zusammengefaßt. Neben den Kindern von SMT-erinnen gab es die, deren Mütter sogenannte „deutschverurteilte“ politische Gefangene waren, die allerdings in der DDR nicht als „Politische“ galten. Denn „Politische Gefangene“ gab es nicht in der DDR, nur „bestrafte Verbrecher“. Eine dritte Gruppe bildeten die Abkömmlinge hochstrafiger wirklicher Krimineller. Schließlich waren noch Kinder da, die – aus welchen Gründen auch immer ihren Eltern oder Verwandten weggenommen worden waren. Allen Gruppen gemeinsam war, dass ihr Aufenthalt unter strengster Geheimhaltung stand. Niemand durfte erfahren, wo die Kinder waren.
Nach außen machte das Heim in der August-Bebel-Straße 28 in Naunhof einen bescheidenen, aber ordentlichen Eindruck. Da es organisatorisch dem naheliegenden Kinderkrankenhaus angegliedert war, trugen die Betreuerinnen Schwesterntracht, auch wenn sie keine ausgebildeten Kinderschwestern waren. Der Name der damaligen Leiterin ist bekannt.
Körperliche